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Sonntag, 17. Dezember 2006

All In The Present Must Be Transformed – Wieso eigentlich?


In der Kunst / Kino-Entwicklung, von der hier kürzlich im Zusammenhang mit dem neuen Weerasethakul-Film die Rede war, ist die New Yorker Gladstone Gallery ein Global Player. Sie vertritt neben einer Reihe von Bildenden Künstlern, darunter Rosemarie Trockel, Thomas Hirschhorn, Gregor Schneider, Kai Althoff, auch die Kino-Künstler Bruce Conner, Sharon Lockhart und Matthew Barney. Conners Found Footage-Filme sind zwischen 1958 („A Movie“) und 1982 („America is Waiting“) entstanden, seitdem hat er sich eher aufs Zeichnen verlegt und nur noch vereinzelt mit Film gearbeitet. In New York sah ich vor Jahren eine Ausstellung Schwarz-Weiß Blättern, die ein bisschen an Raoul Tranchirers Abenteuer erinnerten. Auf der Viennale 2005 lief ein Film, der Filmmaterial von 1967 neu aufbereitet: „Luke“, ein Besuch am Set von „Cool Hand Luke“ mit Paul Newman und Dennis Hopper. Sharon Lockharts Filmstudien zu Darstellung, Schauspiel und kinematographischer Dauer kann man häufiger in Berlin sehen, der neu gegründete Verleih „arsenal experimental“ hat einige von ihnen im Programm. „Pineflat“,eine 140-minütige Slow-Motion-Resemantisierung von Techniken des strukturellen Films, war eine der Oasen bei der letzten Berlinale.

Kunst und Kino. Schnittpunkte, Zwischenraum, Austausch: In den Begriffen ist eine strukturelle Gegenüberstellung mitgedacht, an der man zweifeln kann. Bildende Kunst und Kino so voneinander abzugrenzen, dass sich ihre Bewegungsvektoren schneiden können oder einzelne Arbeiten in „Zwischenräumen“ interagieren, ist eher ein wackliges gedankliches Modell als eine gesicherte Diagnose. Immerhin, um vom Status Quo der Aufführungsorte auszugehen, sind aber Kino und Museum auch weiterhin verschiedene institutionelle Räume, und diese Räume gehorchen unterschiedlichen Gesetzen der Produktion, Distribution und Rezeption. Da wäre zuallererst Rekonstruktionsarbeit zu leisten.

Vielleicht ist der Begriff „Verhandlung“ geeignet, das Mit- und Gegeneinander, die Verwischungen und Vermischungen, die meist begrüßte Interaktion zwischen Kunst und Kino zu bezeichnen. Denn damit ist weniger ein habermassches kommunikatives Aushandeln gemeint, sondern vor allem das knallharte Ringen um Produktionsgelder und Aufmerksamkeit. Wo von Verhandlungen die Rede ist, da sind feindliche Übernahmen mitgedacht, Börsennotierungen und Spekulationen, ein Spiel mit Verknappung und Nachfrage (während „Weltkino“ via DVD und Filesharing immer leichter zugänglich wird, ist der Zugriff auf „Installationen“ u.ä. weiterhin schwierig; cf. pirate cinema). Was die derzeitige Konjunktur und die von ihr begünstigte Absorption filmgeschichtlicher Positionen bedeuten, scheint mir noch unklar.

Ein paar Ereignisse im Jahr 2006; Akteure, die aus ungleichen Positionen, mit unterschiedlichen Motiven und verschieden hohen Einsätzen am Kunst/Kino-Tisch mitverhandeln: The Art of Projection (Stan Douglas et al. curated by Friedrich Christian Flick) – Ausstellung im Hamburger Bahnhof, Filmreihe + Symposion im Arsenal-Kino. Barney/Beuys (Guggenheim). Jean-Luc Godard (Centre Pompidou) – Ausstellung und Retrospektive mit 140 Filmen. Le Mouvement des Images (Centre Pompidou). Agnès Varda (Fondation Cartier). Kino wie noch nie (Farocki/Ehmann; Generali Foundation). arsenal experimental (verleih, freunde der deutschen kinemathek), „forum expanded“, Kunst-Beiboot des Berlinale-Forums, Matthew Barney als Mitglied der Jury bei der Berlinale 2006.

Hab ich grad Matthew Barney gesagt? Im Babylon-Mitte, das seit ein paar Monaten ziemlich aufdreht (Kinderwagen-Kino, Around the World in 14 Films incl. Anmoderation durch lokale Prominenz, Kunst und Kino, Nachwuchsfestival, Konzerte), kann man zurzeit Sonntag nachmittags Beuys und Barney-Filme in gemeinsamen Programmen sehen. Ausstellung und Filmprogramme verdanken sich dem Modell der Elefantenhochzeit („Zwei Heroen der Gegenwartskunst“; DB artmag) und sind ein schönes Beispiel für kurzschlüssige Analogiebildung. Wenn Beuys bei der Aktion „Celtic“ 1971 eine langwierige Fußwaschung vollzieht, dann ist es nicht verboten, an Barneys und Björks Reinigungsrituale auf dem Hochzeits-Walfangschiff in „Drawing Restraint 9“ (2005)* zu denken. Es bleibt aber das offensichtliche festzuhalten: Es sind andere Füße, es ist anderes Wasser, es ist ein anderer Zeitpunkt, kurz: es hat nicht viel miteinander zu tun.

In „De Lama Lamina“, dem ersten Filmprojekt nach Fertigstellung des Cremaster-Zyklus, fügt Barney seinem globalen Schwellkörper-Projekt den Kontinent Südamerika hinzu. Das konkreteste Bild bekommt man, wenn man sich den Film als Dokumentation einer ethnografisch hochgepitchten Love-Parade vorstellt, die durch den Barneyschen Idiosynkrasie-Fleischwolf gedreht wurde. “I was in the mood to make a more overtly political work as a reflection of my confusion with the current political landscape.” (Barney)

Um einen dunkel dräuenden Monstertruck herum marschieren brasilianische Tänzer und Trommler. Es ist der Carnaval do Bahia im nordbrasilianischen Salvador; Arto Lindsay spielt mit Band hoch auf dem schwarzen Wagen, während sich Gefährt und Entourage langsam durch die Straßen schieben. Vor den großen Bagger - „Drei Meter hohe Reifen!“ (Barney) – ist ein entwurzelter Baum gespannt, auf dem eine langhaarige Aktivistin herumkraxelt und kleinere Arbeiten verrichtet. Das Eigentliche jedoch spielt sich unten im Bauch des monströsen Gefährts ab, da, wo die Maschine mächtig rumpelt. In einer horizontal knapp über der Fahrbahndecke schwebenden ergonomisch geformten Schale liegt ein dreckverkrusteter Nackedei. Seinen Penis, so reimen wir uns im Laufe des Films zusammen, haben wir schon im Vorspann wie einen unheimlich anschwellenden Blutegel in den Bildrahmen hineinwachsen sehen. Dieser Penis ist der Protagonist des Films.

Die Mund- und Nasengegend des Nackten ist durch einen Schnabel gekennzeichnet, aus dem Hintern, der immer wieder vorteilhaft durch die gespreizten Beine hindurch ins Bild gesetzt wird, wächst ihm eine dicke Zwiebel. Es könnte allerdings auch eine keimende Kartoffel sein – die semantischen Implikationen wären dann selbstverständlich andere. Jedenfalls schmiert dieser Erdmann die unmittelbar über ihm in permanenter Rotation befindliche Antriebswelle des wuchtigen Nutzfahrzeugs zunächst mit Fett - „Beuys!“ (Nancy Spector) - ein und lässt dann immer neue Wattefäden um sie herum wickeln. Das ergibt eine glitschige Masse, wie an einer Töpferscheibe immer rund gestrichen, im Umfang stetig wachsend. Die Aktivistin vorne auf dem Baum hat übrigens auch mit solchen Wattefäden zu tun, es gehört zu Barneys Allmachtskosmologie, dass die Dinge auf untergründigen Wegen miteinander kommunizieren. (Das universale Raunen ist Barneys Vatersprache.)

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle kurz darauf hinweisen, dass der Erdmann, bevor er mit seinem talgigen Tagwerk begann, ein kleines, vertrocknetes Äffchen im Arm hielt, das er zärtlich durch die Haare und über das mumifizierte Gesichtchen streichelte. Dieses Äffchen ist jetzt nämlich plötzlich wieder da, aber irritierenderweise streichelt der Erdmann das Tier jetzt nicht mehr, sondern zerquetscht es mit einigen gezielten Bewegungen, so dass ihm das eher flüssige als feste Exkrement entgegenspritzt. Auch diese Masse wird nun noch auf die inzwischen auf Körperumfang angeschwollene Antriebswelle aufgebracht. Jetzt ist soweit alles vorbereitet, und der Erdmann stemmt sich von seinem bequemen Platz hoch, um seinen Penis in direkten Kontakt mit der rotierenden Stange zu bringen. Das Organ dankt es ihm durch allmähliche Größenzunahme. Barney beschreibt das folgendermaßen: „Later, the Greenman has an interaction with an endangered golden lion tamarin monkey (a doll), whose shit, which is crucial to the production of certain antibiotics, is used to lubricate the driveshaft the Greenman masturbates on. It's quite explicit“.

Dieser masturbatorische Höhepunkt ist auf eher undeutliche Weise damit verbunden, dass eine Reihe von klinisch weißen Instrumenten, die wie Zangen und sonstige Werkzeuge aussehen, aus einer milchigen Masse herausgedrückt wird. Mit diesem Geburtakt endet der Film nach knapp einer Stunde.

„De Lama Lamina“ liegt konsequent auf der Linie solcher auch im Cremaster-Zyklus reichlich vorhandenen rein männlichen Geburtsphantasien, hinter denen der Good Old Künstlermythos im popkulturell aufgepimpten Maßanzug daherkommt. Dicke-Eier-Kunst in bestechender Formvollendung. Wäre es nicht so unsäglich langweilig, könnte das teuerste Hochzeitsvideo ever, das Barney / Björk im Anschluss drehten, das mit den größten Säugetieren der Welt, beinah wie ein Fortschritt wirken. There she blows. Heiße Luft.

* Zu „Drawing Restraint 9“ auch weiterhin das vorausschauende Standardwerk: Rembert Hüser: Wale malen, in: Dirk Baecker / Rembert Hüser / Georg Stanitzek: Gelegenheit. Diebe. 3x Deutsche Motive, Bielefeld: Haux 1991, S. 101-166. Dort auch Hinweise auf Walverwandschaften zwischen Matthew Barney und Frank Schirrmacher.

Volker Pantenburg




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Samstag, 4. November 2006

Danièle Huillet – Erinnerungen, Begegnungen


NICHT VERSÖHNT (1965)

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Jean-Marie Straub – Danièle und ich sind uns im November 1954 in Paris begegnet – wir erinnern uns gut daran, weil das der Beginn der algerischen Revolution war. Ich war mehrmals per Autostop nach Paris gekommen, um Filme zu sehen, die es bei uns nicht gab, LOS OLVIDADOS von Buñuel, THE QUIET MAN von Ford, THE RIVER von Renoir, LE JOURNAL D'UN CURÉ DE CAMPAGNE von Bresson. [ ... ] In Strasbourg und in Nancy habe ich je ein Jahr Literatur studiert. Aber in Paris habe ich gar nichts gemacht, ich bin ein wenig an die Sorbonne und ins Lycée Voltaire gegangen, in die Vorbereitungsklasse für das IDHEC, wo ich Danièle begegnet bin. Ich kam vom Filmfestival in Venedig zurück und berichtete darüber für Zeitungen, die es damals gab.

Wie haben Sie die Leute der Cahiers du cinéma kennengelernt?

In der Cinémathèque, Avenue de Messine. Ich habe sie in meinen Filmclub in Metz eingeladen: Truffaut, Doniol und Bazin, der zweimal gekommen ist, um FARREBIQUE und LE JOURNAL D'UN CURÉ DE CAMPAGNE vorzustellen. Ich habe Godard, Rohmer und vor allem Rivette kennengelernt. Bei dessen erstem Kurzfilm, LE COUP DU BERGER, habe ich ein wenig mitgearbeitet – ich habe einen Dolly die Treppen in Chabrols Haus hochgetragen, und mich im Abspann als „Regieassistent“ wiedergefunden. Mit Chabrol habe ich mich über Witzeleien gut verstanden. Einmal habe ich spaßeshalber so dahingesagt: „Die Zeit und der Raum – das ist dasselbe für jemanden, der Filme macht“ – und Chabrol hat geantwortet: „Voilà, da ist einer, der eine große Zukunft hat!“ [Lachen] ... Bevor ich mich zum Weggehen entschlossen habe, 1958, hatte ich einen Brief von Rivette in der Tasche, in dem er mich freundlich aufforderte, ihm bei PARIS NOUS APPARTIENT zu assistieren. Ich habe ihm geantwortet: „Ich bin in Deutschland, wenn ich wiederkäme, würde ich im Gefängnis landen. Ich werde nicht da sein.“ Ich bin weggegangen, weil ich algerische Freunde hatte, und als die erste Granate explodiert ist in Algerien 1954, dachte ich, daß die Algerier recht hätten. Und dann hatte ich französische Bekannte, die von dort mit hängenden Köpfen wiederkehrten und schwiegen, und über die man sechs Monate später erfuhr, daß sie bei Folterungen mitmachen mußten – oder auch nicht mitmachten ... Außerdem, wenn ich nicht aus Frankreich weggegangen wäre, hätte Danièle sich von mir abgewandt. Ich hatte keine Wahl – erstmal der Überzeugung wegen, dann der Liebe wegen.

Und für Sie, wann ist für Sie der Wunsch entstanden, Filme zu machen?

Danièle Huillet – Ich, ich wollte Dokumentarfilme in Afrika machen. Ich hätte also nicht ihm begegnen sollen, sondern Jean Rouch [Lachen] ... Also habe ich mich am IDHEC eingeschrieben, weil ich wußte, daß man, wenn man nicht zu einer gewissen Kaste von Filmleuten gehörte, beim IDHEC Zeit gewinnen konnte. Die Periode, wo man einfach so beim Kinofilm einsteigen konnte, war vorbei. Aber bei der Bewerbung mußte man einen Film von Yves Allégret, MANÈGES, analysieren: ich habe ein Blatt abgegeben, auf das ich ganz einfach geschrieben habe, ob man uns veräppeln wolle – zu verlangen, über einen solchen Film zu schreiben. Ich liebte Filme wie LOS OLVIDADOS oder DAS LEBEN DER FRAU OHARU. Das war doch etwas ganz anderes.

Hat Danièle Sie zum Filmemachen bewogen – wer war der Motor bei Ihnen als Paar?

Jean-Marie Straub – Ohne Danièle hätte ich nie einen Film gemacht, ich bin zu faul dazu. Ich wäre auf der Strecke geblieben, weil man ganz allein einem derartigen System nicht widerstehen kann. Wie Leterrier in UN CONDAMNÉ À MORT S'EST ÉCHAPPÉ sagt: „Zu zweit ist es leichter.“ [ ... ]

Aus einem Interview mit Frédéric Bonnaud, Serge Kaganski und Dominique Marchais. Les Inrockuptibles, No 91, Paris, 12.-18.2.1997

Dreharbeiten zu UMILIATI (2003) (c) Marion Befve

Dreharbeiten zu QUEI LORO INCONTRI (2005) (c) Giulio Bursi

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Libération, 18. Oktober 2006

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Eine sonnenhafte Utopie

FILMFESTIVAL BERLIN, 1987

Der Saal ist voll. Die Mehrzahl der Leute, die sich da drängen, haben den TOD DES EMPEDOKLES gar nicht bis zu seinem tragischen Ende verfolgt, sind aber dennoch gekommen - gewiß deshalb, um ihre Ablehnung kundzutun: So ein Film wie dieser, ein „Anti-Film“, ein „Feind des Kinos“, hatte im offiziellen Wettbewerb nichts zu suchen; wir befinden uns in Berlin, und die Mauer trennt die Stadt noch in zwei Teile.

In Wahrheit ist man gekommen, um zu schauen, wie die beiden so sind. Jean-Marie redet. Die wenigen Fragen, manchmal disqualifiziert durch ein nicht anzufechtendes „Uninteressant“, werden zur Abflugpiste für seine Rede, die ebenso durchdringend ist. An seiner Seite, unglaublich schön, majestätisch, ist Danièle, die all diese neugierigen und gespannten, manchmal feindseligen Gesichter ohne Verachtung ins Auge faßt.

Lange habe ich gedacht, daß die Kunst, das Kino, eine Angelegenheit der Einsamkeit seien. Lange habe ich von den Filmen von Straub gesprochen. Aber mit der Zeit, mit den Jahren der Arbeit, habe ich gesehen, daß sie zu zweit waren und daß das ihre Stärke war. Sie taten sich zusammen, um der Welt zu widerstehen. Diese absolute Autonomie, die mit jedem Film dichter und kompromißloser wurde, erschien mir allein unlebbar, ich beneidete sie darum, obschon ich wußte, welchen Preis sie dafür zahlten. Aber es trug mich, das Kino DER Straubs.

Sie weiß, daß er im Begriff ist, zu weit zu gehen, genau dorthin geht, wo er hin will. Er denkt, also übertreibt er, sie heißt es gut, ohne etwas anderes beizufügen als da und dort einen fehlenden Eigennamen, ein genaues Datum, einen Teil eines Zitats. Um die beiden herum die Darsteller, sich ihrer Sache sicher, überzeugt (zu Recht), an einem flammenden, erdhaften Werk teilgenommen zu haben, das sie alle übersteigt. Das ist der Krieg. Das massive Schweigen von D ist die conditio sine qua non für das Abheben des Gedankens, die Entfaltung des Vortrags.

Er redet immer, eröffnet, überbordet in seinem untadeligen Deutsch mit Pariser Akzent. Und auch wenn sie kein Wort sagt, so ist sie doch ganz da, hörbar, wie wenn sie mit ihrer Stummheit die notwendigen Exzesse des vorwärtsdrängenden Wortes schützte. Dieses gesättigte Wissen über den Film, das gesagt und nochmal gesagt werden muß, das ist in ihr, das unterstützt und ermutigt sie mit ihrem sanften und ein wenig müden Blick – müde deswegen, weil man sich immer noch herumschlagen muß (es ist so lang her, daß ...).

Oft lieben sich Künstler, stehen Seite an Seite, bewundern und stimulieren sich; was aber einzigartig bleibt, ist das tolle Projekt, gemeinsame Sache zu machen. Das Kino, das doch ein so günstiges Klima schafft für die Aufreizung des Ego, für die Beziehungen von Unterwerfung und Domination, liefert uns wohl Beispiele für schöpferische Bruderschaften, welche die Konflikte und Rivalitäten im Geheimnis der Blutsbande verdünnen - die Straubs aber eröffneten eine mehr sonnenhafte Utopie. Das Risiko, der Eigensinn, immer neu gesetzt und fester gebunden, wurden für uns ein Rückhalt; und wir wußten, wie es sich mit der duellierenden Wesensart dieses Sterns verhielt.

Jetzt berührt er das Wesentliche, er greift an, er will an gewisse Lösungen erinnern, die man ein bißchen zu schnell weggelegt hat: die Natur, die um Gnade bittet, die Utopie, die Diktatur des Proletariats. Und obschon jedermann weiß, daß das wunderbare Projekt, das er beschwört, nicht das ist, was man, für einige Monate noch, auf der anderen Seite der Mauer verrotten sieht, so empört man sich doch; alles ist recht, um nicht zu denken.

D weiß, was die Leute so furchtbar aufbringt: es ist die Hypothese einer die Welt betreffenden Änderung. Diejenige, die der Film uns, einen Augenblick lang, notwendig und wünschenswert hat erscheinen lassen. Sie schaut sich die erstarrten Professionellen an, die vom Geschehen, in dem sich Denken und Kino vereinigen, überfordert sind. Ihn blickt sie kaum an, das ist nicht nötig: sie sind ein Leib.

Nicht um Komplizenschaft ging es, nicht um Solidarität. Nie werden die Jahre der Zusammenarbeit, des Kampfes in Gesten und Äußerungen von Gefühlen öffentlich inszeniert. Nein, die stetige Zwiesprache wird genährt von gegenseitigem Respekt, auch von gewahrter Distanz. Man siezt sich. Fühlbar existent ist die Verschmelzung nur in den Filmen, den Werken, die sich aneinanderreihen; sie ist die Urmaterie der Arbeit und hat nur mit dem Sozialen, dem Beweis zu tun.

LE FRESNOY, 2001

Viel später, Jahre später, etliche Filme später. Keine Mauer mehr in Berlin, kein real existierender Sozialismus. Die beiden haben in Le Fresnoy Zuflucht gefunden. Sie beenden den Schnitt ihres Films OPERAI, CONTADINI. Kleine Gruppen von verängstigt schweigenden Studenten sind gekommen, um die Arbeit zu beobachten, als wäre das ein Zeremoniell. Der Film ist fast beendet, und die beiden Künstler überprüfen ein letztes Mal das Ganze in seiner Kontinuität, Rolle nach Rolle, auf einem schönen 35mm-Schneidetisch. Die Schüler haben noch nie Objekte dieser Art gesehen. Sie – so wie er – will mit der AVID-Digitalapparatur nichts zu tun haben. Sie verweigert sich dem. Die Gewalt des Virtuellen wird weder auf sie noch auf ihr Kino Zugriff erhalten. Sie brauchen die Materie, das Gewicht der Dinge, den Filmstreifen, die Erde.

Er spricht nicht mehr. Jetzt ist sie der Mittelpunkt. Sie ist es, die handhabt, befühlt, berührt; im Halbdunkel nimmt man ihre weißen, tätigen Handschuhe und sein Profil wahr, das sich vom sanften Licht des Films, von den vorbeiziehenden Bildern abhebt. Das Publikum hält respektvolle Distanz und würde aufhören zu atmen, wenn das möglich wäre. Es ist noch nötig zu schleifen, zu feilen, das weiß er; aber wenn ein Schnitt sich aufdrängt, wenn ein Bild noch im schwarzen Samtkorb des Galgens hängen sollte, zieht er vor, das nicht zu sehen. Sie ist es, die sich damit befaßt, wie eine Parze es täte, ohne Unsicherheit, während er rausgeht, um auf dem sonnenbeschienenen Gang eine Zigarette zu rauchen. „Denken Sie wirklich, daß ...“ Ja, sie glaubt es, sie weiß es in der Dunkelheit: der Film muß gewetzt und geschärft werden wie ein Messer.

Wind. Fabrik. Kamera. Furche. Bewegung. Körper. Proletariat. Pflug. Landschaft. Widerstand. Schnitt. Strecke. Schwenk. Felsen. Wolken. Feld. Sonne. Akkord. Straße. Kader. Zwei. Pflugschar. Bewegung 2. Trauer. Erde. Film.

Ist die Rolle überprüft und perfekt, verschwindet sie für einen Moment, verläßt die dunkle Fabrik. Auf dem Gang begegnen sie sich, sie beruhigt ihn. Dann kommt sie zurück, trägt schwer am Gewicht der neuen Rolle und an den Jahren des Anspruchs, dem Gewicht der Kunst. Sie ist die Achse. Sie installiert sich wieder am Tisch, ordnet die Haare (die schon etwas grau sind), entschuldigt sich wegen der Langsamkeit des Vorgangs, obschon niemand etwas gesagt hat. Man würde es nie wagen.

Einige sind verschwunden. „Sie können zurückkommen.“ Er kommt rein, kehrt in die Fabrik und zum Geruch der Arbeit zurück, setzt sich, bis zur nächsten Zigarette, an ihre Seite, gerade so lange, daß einen Augenblick lang ein flüchtiges, aber sehr konkretes Bild des amour fou sich über OPERAI, CONTADINI legt, und sich auf ewig all jenen einprägt, die anwesend waren, dort, ganz im Hintergrund, im Finstern.

Vincent Dieutre – Libération, 18. Oktober 2006

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Eure Worte, schöne Worte

Danièle, Jean-Marie, Unsere Begegnungen werden unser Leben für die nächsten dreißig Jahre verschönern. Was uns betrifft, so nehmen wir einen großen Schluck Jugend und kräftigen uns, um Euch wiederzubegegnen. Wir hören hier nicht auf mit der Arbeit. Das ganze Viertel beteiligt sich daran, trotz der Schwierigkeiten, trotz des Zuviels an Polizei und Sozialarbeitern und des Zuwenigs an Geld. Tagtäglich, jede Minute lernen wir neue Worte, Eure Worte, schöne Worte, nur für uns, sie passen uns wie ein Pyjama aus feiner Seide. Wir hätten Euch gerne hunderttausend Filme und ein Blumenbankett für drei Groschen offeriert. Aber vor allem trinken wir ein kleines Glas Grog und denken an Euch. Pedro, Vanda P.S.: Schnall Deine Gurte an, Danièle !

Pedro Costa – Libération, 18. Oktober 2006

Pedro Costa: OÙ GÎT VOTRE SOURIRE ENFOUI? (2001)
Nha cretcheu, my love, being together again will make our lives beautiful for another thirty years. As for me, I will come back full of love and strength. I wish I could give you a hundred thousand cigarettes, a dozen of those fancy dresses, a car, the little lava house you've always dreamed of, a three-penny bouquet. But above all else, drink a good bottle of wine, and think of me. Here it's all work. We're over a hundred now. Did my letter arrive safely? I still don't have anything from your hand. Maybe I will soon ... I’m waiting. Every day, every minute, I learn beautiful new words for you and me alone, made to fit us both, like fine silk pajamas. Wouldn’t you like that? I can only send you one letter a month. Still nothing from you. Maybe some other time ... Sometimes I'm afraid of building these walls. Me, with a pick and cement, and you, with your silence ... A pit so deep, it swallows you up. It hurts to see these horrors that I don’t want to see. Your lovely hair skips through my fingers like dry grass. Often, I feel weak and think I’m going to forget you. [ ... ]

Venturas Brief, gedacht für Lento. Fünfte Fassung

Pedro Costa: JUVENTUDE EM MARCHA / COLOSSAL YOUTH (2006)

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Mail from a friend (Jean-Pierre Gorin)

-------- Original-Nachricht -------- Datum: Tue, 17 Oct 2006 23:34:06 -0700 (PDT) Von: *** An: discussion list regarding jean-luc godard's work godard@lists.topfive.com Betreff: [Godard] Danielle Huillet's Funeral...

Dear all,

I got a striking e-mail today, which i read with tears in my eyes, from a friend of mine who had the opportunity to attend Huillet's funeral. It so aptly and delicately depicts the funeral (and Straub/Huillet) that i think you will be interested.

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The first film she directed with Jean Marie Straub made me a filmmaker. This was 1965, I was twenty-two. I walked into a theater that played Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt wo Gewalt herrscht. (Not Reconciled or Only Violence Helps Where Violence Reigns). How could i resist then a title that encompassed so absolutely my music? I went through the film not understanding anything about it, but by the end of it something strange had happened: I who did not know a word of German was persuaded that somehow I now understood it with absolute clarity. I came out the theater wanting to be involved in a medium that could perform such close up magic. And still to this day what happened to me as I watched Nicht Versöhnt is the best definition I know of what a political film is or should be. There are a few people in my life whose existence alone protects me somehow. Danielle was one of them. The fact that such a raging love for craft, such a raging love for life was alive protected me ... She made an extraordinary couple with Jean Marie, cantankerous, obsessed with work, opened every day more to the simplest beauties of the world because they never could stop being enraged at what fouled it ... you took one look at the way they moved in relation to each other and understood their choreography;you heard one of their exchange and caught the music of it: never two people spelled the word love with more clarity; never two people gave me more the sense that exigency could be joy ... And now I am left fearing for Jean-Marie's life ... I could imagine her surviving him, but not him surviving her ... Like all funerals It had of course this Proustian devastating feeling of Le Temps Retrouve. A hundred folks were there with "la gueule de circonstance." JLG and Anne Marie ... others you don't know that punctuated Danielle's life. A smattering of young faces pushed the day away from despair and into hope. It is the graceful duty of youth. Jean Marie was there (there had been rumors he wouldn't be) with his eternal cigar, dressed as non funeral as one could be. Her face was left visible, its stern, tender beauty framed by a small vista cut in the closed casket. A Byzantine icon. The wind and the sound of the traffic outside of the cemetery ate away at the words that were quoted before she got carried to the grave. I heard a text in German and the words "I will not name the name of the one whose name is stronger than love itself ..." We file by the grave, dropped roses in this shaft so deep and so dark that we measured for the first time how irremediably gone she was. Jean Marie seated on the next tombstone looked on. A funeral attendant handed him a bouquet of roses. He walked to the grave, threw it in. An amazing yell of rage at death and its works came out of him and he ran, ran away amidst the graves, howling in pain with friends in pursuit. They brought him back. He witnessed the closing of the grave, his body half bent as if he had been hit in the stomach by the force of a blow, and he raised his left fist in the proud hopeful salute of the Popular Front strikers of France, the Republican fighters of Spain and the Communists of Germany when the stone finally slided tight. JLG, Anne Marie and I walked arms in arms in the shaded alley for awhile. I was left alone finally, walking for the rest of the afternoon and the night that followed before I grabbed a flight back to the States.

[ ... ]

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„Hör auf zu husten!“

1982/1983 wohnten die Straubs mehrfach für ein paar Wochen bei mir in Berlin, West-Berlin, als sie ihren Film KLASSENVERHÄLTNISSE vorbereiteten. Ich hatte gefragt, ob ich nicht auch mitspielen könnte und durfte die Rolle des Delamarche übernehmen. Der Film sollte zunächst in Berlin gedreht werden und ich sah mir mit den beiden ein paar Motive an, später wurden die Dreharbeiten nach Hamburg und Umgebung verlegt, in Berlin wurde aber geprobt. Viel auch in meiner Wohnung, und ich bekam einen Einblick in die Arbeitsweise der Straubs.

Bei den Proben saß Danièle fast immer auf dem Boden. Sie sah und hörte sehr aufmerksam zu und machte sich in ihrem Skript Notizen. Sie merkte sich und notierte Sprechpausen und Betonungen, Gesten und Blicke. Abends schrieb sie auf einer Reiseschreibmaschine die Seiten des Skripts ab und fügte hinzu, was bei der Probe festgehalten worden war.

Danièle leitete die gesamte Produktion, sie war für die Drehplanung ebenso zuständig wie für die Requisiten. Der Film kostete etwa eine Million Mark, aber es gab kein Büro, alles war in den Papieren von Danièle festgehalten. Später schrieb sie mir, ich solle die Pudelmütze nicht vergessen, wir hatten festgelegt, ich werde die bei einer bestimmten Szene tragen. Zweimal schrieb sie mir von dieser Mütze.

Es lag offensichtlich beiden nicht viel daran, eine Wahl zu treffen. Die Darsteller wurden nicht aufwendig ausgesucht und auch die Schauplätze und Requisiten nicht.

Es kam ihnen nicht darauf an, die besonders geeigneten Darsteller zu finden, eher der Eignung der Darsteller zu entsprechen. Auch der Eignung eines Schauplatzes oder Gegenstandes. Das lange und sorgfältige Proben diente wohl dazu, diese Eignungen festzustellen.

Bei dieser Arbeit wurde mir nochmals deutlich, daß die Straubs stets einiges sehr genau festlegen und anderes überhaupt nicht. Einiges überlassen sie ganz dem Selbstlauf. Was aber beschlossen ist, das muss genau so durchgeführt werden.

Es fällt schon deshalb schwer, etwas über die Straubs zu schreiben, weil beide die Genauigkeit so sehr liebten. Ein Zitat aus einem Film oder auch nur einem Zeitungs-Artikel vor 30 Jahren wurde immer bis aufs Wort wiedergegeben. Und Straub erzählte von einer Reise Anfang der Sechziger Jahre, die er ohne Danièle machen mußte, weil es nicht genügend Geld gab. Dieses Unglück lag 20 Jahre zurück, aber er wußte die Daten und auch die Reiseziele noch ganz genau.

Ich habe erlebt, daß Danièle Jean-Marie korrigiert hat, aber kaum je umgekehrt. Einmal hat sie „auch“ statt „Hauch“ gesagt, und Jean-Marie hat sie darauf hingewiesen.

Wenn wir abends Musik hörten, setzte sich Danièle oft dazu, hatte aber dabei immer etwas zu tun. Sie machte eine Handarbeit, stopfte Socken oder ein Hemd. Ein paar Jahre zuvor, in Rom, hatte ich bemerkt daß die Straubs nie außer Haus aßen und auch große Strecken zu Fuß gingen um das Fahrgeld zu sparen. Jetzt aßen wir oft abends in der Pizzeria und Danièle bezahlte.

Sie erlaubte Jean-Marie zehn Zigaretten am Tag, sie sagte, sie habe nichts dagegen, daß er vom Rauchen sterbe. Daß er aber im Kino huste, das störe sie.

Wir sahen uns Godards PASSION an, in dem Michel Piccoli ständig hüstelt, einen Lutscher im Mund, er hat wohl gerade das Rauchen aufgegeben. In diesem Film ist „Polen“ ein neues Jerusalem. An dem Film hatte Danièle allerhand auszusetzen, meinte aber, es sei vielleicht doch Godards bester. Später, als wieder in der Wohnung waren, hustete Jean-Marie und Danièle schrie: „Hör auf zu husten“. Das hatte sie schon oft gesagt. Jetzt fügte sie hinzu: „Sonst gehe ich nach Polen.“

Harun Farocki – Der Standard, 17. Oktober 2006

Notiz

Am Dienstag bekam ich ein kurzes Mail, Danièle Huillet sei gestorben. Vor etwa einem Jahr hatte ich mit Jean-Marie telefoniert, er sagte mir, Danièle sei kürzlich, ganz gegen ihre Grundsätze, beim Arzt gewesen, der habe eine Herzschwäche bei ihr festgestellt. Jetzt, nach der Todesnachricht, rief ich gemeinsame Freunde an und erfuhr, daß Danièle in den letzten Monaten oft Schmerzen gehabt und wohl auch mit ihrem Tod gerechnet habe. In der Libération stand gestern, sie sei an Krebs gestorben, weil sie selbst aber offensichtlich ihre Krankengeschichte für sich behalten wollte, will ich dem nicht nachgehen. Es war Lara die mich darauf brachte, nach Paris zur Beerdigung zu fliegen. Sie sagte, ihr habe es viel bedeutet, dass auch entfernte Bekannte zur Beerdigung von Ursula gekommen seien, selbst wenn sie kein Wort mit denen habe sprechen können. Claus Philipp von der Zeitung Der Standard bat mich um ein paar Zeilen. Und ich sagte zu, in der vagen Empfindung, ich müßte mich zur Freundschaft mit Danièle öffentlich bekennen. In meinem kleinen Erinnerungstext schrieb ich, Danièle habe mir, als ich eine Rolle in dem Film KLASSENVERHÄLTNISSE spielte, zweimal geschrieben, ich solle zum Drehtermin die Pudelmütze, die ich in einer Szene tragen sollte, nicht vergessen. In St. Ouen, einem Vorort von Paris, führt eine kleine Straße von der Hauptstraße zum Friedhof. Darauf sind Autowerkstätten und Grabsteinläden, ich kaufte eine Rose. Damit ging ich in ein Café um die Ecke. Eine tief dekolletierte Frau fragte, ob die Blume für sie sei. Ich sagte nein, für die Toten. Ich benutzte wohl den Plural um zu sagen: nicht für das Diesseits, Toten-Blume. Als ich auf die Toilette ging, fiel mir meine Pudelmütze – die allerdings keine Bommel hat, im Gegensatz zu der damaligen Kostümmütze – ins Waschbecken. Danièle hatte damals geschrieben „Puddelmütze“, beide Male, und ich kann mich an sonst keinen Fehler erinnern, den sie je gemacht hätte. Das hätte ich schreiben können in dem Nachruftext und wohl auch wollen. Am Eingang zum Friedhof sammelten wir uns, kleine Gruppen bildeten sich, viele, die einander lange nicht gesehen hatten, trafen sich nun wieder. Viele hatten ein verweintes Gesicht. Schließlich waren wir etwa 200, die da warteten und sich in kleinen Grüppchen unterhielten. Jean-Marie war auf einmal da, er sah abwesend aus. Er trug eine Kordhose, ein Hemd, das nicht in die Hose gesteckt war und ein Sakko. Er hatte ein kaltes Zigarillo im Mundwinkel. Er benahm sich so, wie ich ihn oft auf Podien gesehen habe, er ging auf und ab, für sich, benutzte den sozusagen öffentlichen Raum, als sei er dort für sich. Er grüßte gelegentlich abwesend. Wir folgten über eine Platanenallee dem Bestattungswagen. Der hielt, und der Sarg wurde herausgeholt und auf zwei Böcke gestellt. Der Mann vom Bestattungs-Unternehmen bat uns, näher zu treten, Familien-Mitglieder würden jetzt Texte verlesen. Zunächst kamen zwei Frauen, eine las französisch aus einem Buch einen schönen Text über die Flüchtigkeit des Ich. Von meinen Bekannten wußte keiner, um welchen Text es sich handelt, es scheint eine Tagebuch-Aufzeichnung aus dem Zweiten Weltkrieg zu sein. Danach las Peter Kammerer ein Stück aus Hölderlins Hyperion. Und Adriano Aprà hielt eine kleine Stegreifrede, in der er sagte, Italien habe sich den Straubs gegenüber schlecht benommen, anders die vielen Freunde. Eine Klappe im Sarg wurde geöffnet, wir wurden aufgefordert am Sarg vorbei zu gehen. Danièle sah sehr fremd für mich aus. Wächsern. Es war erschütternd, jetzt wieder etwas von der wirklichen Person zu sehen und von ihrem Sterben. Der Sarg wurde über das steinerne Gräberfeld zu der Gruft getragen, in der Danièles Mutter liegt. Der Sarg wurde hinab gelassen, die Trauergäste gingen vorbei und warfen Blumen darauf. Jean-Marie saß dabei auf einem Nebengrab, immer noch das Zigarillo im Mund. Der Bestatter gab schließlich ihm einen Strauß. Jean-Marie stand auf und ließ die Blumen fallen. Er stieß einen Klagelaut aus, ein lang gezogenes A. Dabei lief er fort. Ein paar Freunde folgten ihm. Später sah ich ihn wieder auf dem Grab sitzen, Godard saß neben ihm und redete tröstend auf ihn ein. Wir fragten herum, niemand wußte, ob eine gemeinsame Feier irgendwo vorgesehen war. Ich selbst habe Jean-Marie nicht angesprochen und auch nicht förmlich begrüßt. Es schien ihm nicht daran gelegen zu sein. Einmal haben wir uns stumm mit Blicken gegrüßt. In dem Café mit der Frau, die Danièles Blumen haben wollte, nahmen viele ein Glas zu sich, etwa 30, 40 saßen und standen auf dem Bürgersteig. Es war ein warmer trockener 13. Oktober. In Gesprächen hörte ich die verschiedensten Versionen. Danièle habe Straub die eigene Krankheit verschwiegen, um ihn nicht zu belasten. Oder, wenn man sie gefragt habe, warum sie sich nicht behandeln lassen wolle, habe sie gesagt: Dazu habe ich keine Zeit, ich habe Wichtigeres zu tun. Jean-Marie kam auch in dieses Café. Eine Freundin erzählte mir, er habe auf die Frage, ob er überhaupt kochen könne, gesagt: sehr gut sogar, er habe als Pfadfinder sogar eine Koch-Auszeichnung gewonnen.

Harun Farocki – 14.10.06

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Wiener Erinnerungen

Bei der Viennale (wo QUEI LORO INCONTRI gezeigt wurde, und als „Überraschungsfilm“ SICILIA!) hingen in den Festivalkinos Plakate mit diesen beiden Texten –

Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesetz ist, Daß alles hineingeht, Schlangen gleich, Prophetisch, träumend auf Den Hügeln des Himmels. Und vieles Wie auf den Schultern eine Last von Scheitern ist Zu behalten. Aber bös sind Die Pfade. Nämlich unrecht Wie Rosse, gehn die gefangenen Element und alten Gesetze der Erd. Und immer Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist Zu behalten. Und Not die Treue. Vorwärts aber und rückwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See.

Friedrich Hölderlin Mnemosyne. Dritte Fassung, erste Strophe (1806)

CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH (1967)

Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht. Ich hätte 1) in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebensäußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabene Macht zu wissen. 2) In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, als das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben, 3) für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4) in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar deine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben. Unsere Produktionen wären ebensoviele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegen leuchtete.

Karl Marx Aus den Kommentaren zu James Mills „Elements of Political Economy“ [1821] (1844, MEW EB I, S. 462)

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Kunst im Freien

Danièle Huillet ist am 9. Oktober 2006 gestorben.

Ein Freund in der Schweiz hat die Empfindung zu beschreiben versucht, die diese Nachricht in ihm ausgelöst hat: es sei, sagt er, eine Stelle in ihm berührt worden, die ihm unbekannt gewesen sei. Ein Ernst und eine Feierlichkeit hätten sich, unmittelbar und im Nachhinein, mit dieser Nachricht verbunden, wie wenn es gelte, sich zu erheben und eine Präsenz, ein Vorübergehen zu grüßen und zu ehren – jetzt oder nie, jetzt für immer. Etwas, das tiefer gehe als Anerkennung, Sympathie oder Bewunderung sei angesprochen worden – fast ein Instinkt. Er frage sich, welcher Ausdruck dieser seltsamen, weil seltenen und dennoch intimen Wahrnehmung angemessen sein könnte.

Vielleicht war es so, daß es zu Danièle Huillet eine „familiäre Nähe“ im engeren Sinne kaum geben konnte. Es kam ja auf etwas anderes an – auf einen anderen Zusammenhang, die größere, sich erst bildende Familie ... Durch ihre lebenslange, symbiotische Zusammenarbeit mit Jean-Marie Straub war jede Kontaktnahme oder Begegnung auf das Werk, die Filme, oder vielmehr: auf die Auseinandersetzung, das Politisch-Sensuelle hingelenkt.

Das „Politisch-Sensuelle“ – das war für sie doch der Alltag, das Leben selbst; vielleicht am schönsten festgehalten in der letzten und längsten „Bagatelle“ in Pedro Costas 6 BAGATELAS (2001), die draußen, im Freien, in häuslicher Umgebung spielt ... Während Jean-Marie Straub redet und argumentiert, hängt Danièle Huillet Wäsche auf und macht Näharbeiten – hört aber äußerst aufmerksam zu, kommentiert und ergänzt Straubs Rede, initiiert auch mal einen Disput. Reales Donnergrollen ist unter Straubs Ausführungen zu hören und leitet über zum wie leichthin nachgesetzten Wortegrollen, ob denn die Wäsche nicht schon trocken sei und von der Leine genommen werden könnte ... Doch die Wäsche bleibt hängen, Wind und Wetter, also der Welt ausgesetzt.

Dazu möchte ich eine Stelle aus einem Frieda Grafe-Text von 1997 in Beziehung setzen, in dem es um eigene Widerstände, dann jedoch vor allem um das „subtile Spiel“ von Wort und Licht, die Kunst im Freien, das Huillet-Straubsche Naturtheater geht. „Die Sprache löst sich vom Bedeuteten, vom Informieren, sie erhebt sich in die Lüfte, sagt Gilles Deleuze von Hölderlins Versen im EMPEDOKLES der Straubs, während, wovon sie redet, unter der Erde verschwindet. In ihrem Licht scheint die Landschaft, die Natur Verborgenes preiszugeben und was die Vergangenheit in ihr abgelagert hat. Dabei ist nicht die Metrik entscheidend, sondern was in dem Klopfen und Hämmern der Sprache sich ausdrückt. Es vereint sich mit den Elementen, mit den Göttern Hölderlins und denen Paveses, die besänftigt werden wollen, und sie halten Einzug in die Bilder.“ („Patrioten im Niemandsland“, in: Frieda Grafe, Geraffte Zeit, Berlin 2005, S. 88/9.)

Die Sprache, die Arbeit mit ihr: das ist zweifellos Jean-Marie Straubs Zuständigkeit; der Ton, die Töne aber die von Danièle Huillet. Wie wäre denn – in diesem Naturtheater – das eine vom andern zu trennen?

Johannes Beringer

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Nicht versöhnt – Eine Befreiung

Danièle Huillets Tod ist für mich ein sehr großer Verlust. Auch wenn wir uns seit Ende der sechziger Jahre nur selten trafen, fand ich immer Kraft in der Gewißheit, daß sie und Jean-Marie da waren, daß beide unermüdlich, unbeirrbar, unbestechlich ihre einzigartigen Filme machten.

Danièle hat mit Jean-Marie zusammengearbeitet, und das so schöpferisch, daß man beim Zusehen glücklich wurde. Harmonisch war die Zusammenarbeit nicht, Gott sei Dank, weil der Streit beim Schaffen die Sache viel weiter treibt. Sie waren sich einig, worauf sie hinauswollten. Ich traf Danièle und Jean-Marie zum ersten Mal, als die beiden in München-Bogenhausen auf der Motivsuche für NICHT VERSÖHNT sich den Raum ansahen, in dem später beim Drehen Danièle als die junge Johanna Fähmel sagt: „Der kaiserliche Narr.“

Damals haben wir über das Filmemachen gesprochen und endlich waren da zwei, die verstanden was ich wollte und ich verstand was sie wollten. Eine Befreiung, 1964.

Peter Nestler – 03.11.06

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NICHT VERSÖHNT (1965)

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Links zu weiteren Texten

Wolfram Schütte – Straubs Alter Ego (Titel-Magazin, 11. Oktober 2006)

Peter Kammerer – Entschieden unzeitgemäß (Freitag, 20. Oktober 2006)

Danièle Huillet 1936-2006. A Tribute – Dossier des Fipresci-Online-Magazins Undercurrent mit Texten von Jonathan Rosenbaum, den Herausgebern der Cahiers du cinéma, Adrian Martin, Chris Fujiwara und John Gianvito (3. November 2006)

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Die Würde des vergänglichen Augenblicks

Als der neue Film von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub vor einigen Wochen im Wettbewerb von Venedig lief, schrieb die FAZ: „Das Kino verdankt den Straubs und ihrer Widerborstigkeit eine Menge, aber in einem Wettbewerb verflüchtigt sich jede Provokation ins Stühleklappen derer, die das Kino vor der Zeit verlassen.“ Das ist ein Satz aus der Kulturbetriebshölle, einer Welt, in der keine mehr Zeit ist, sich auf irgendetwas wirklich einzulassen. Hinzu kommt, daß rund um das Kino ein seliges Vergessen seiner Geschichte herrscht. JENE IHRE BEGEGNUNGEN ist eine wunderbare Gelegenheit, Regisseure kennen zu lernen, die, tief verwurzelt in der Filmgeschichte, richtungweisende Konsequenzen aus ihr ziehen.

JENE IHRE BEGEGNUNGEN blickt weit zurück, vor die Zeitrechnung, zu Ungeheuern, Dämonen, Göttern, von denen die Welt erfüllt war. Es liegt dem Film ein Buch über Mythologie zugrunde: Cesare Paveses Gespräche mit Leuko aus dem Jahr 1947. Buch wie Film handeln von der Ablösung einer Göttergeneration durch eine andere. Soeben sind die archaischen, blutdürstigen Titanen von Zeus und seinen Olympiern besiegt worden, denen anthropomorphe Züge eigen sind. So kommt im Mythos Zeitgeschichte zum Ausdruck, zivilisatorischer Fortschritt: Im antiken Griechenland wird der Mensch, wird die von ihm errichtete Ordnung mächtiger gegenüber den Kräften des Chaos und der Natur.

Der Verlauf von JENE IHRE BEGEGNUNGEN macht deutlich, daß schon in der Antike die große Zeit der Götter vorüber ist. Daß diese erfunden sind, Darstellungen, haben Menschen längst erkannt. Daß sie trotzdem nicht vom Mythos lassen wollen, ist keine Glaubensfrage. Mythen sind Erzählungen, Bilder, in denen Götter äußere und innere Naturkräfte verkörpern; so erscheint Alltägliches als außerordentlich, als verbunden mit dem Unsterblichen, Ewigen. Mit Aufklärung und Moderne ist eine Gefahr verbunden: Wo Wissenschaftssprache bestimmend wird, die aus hochgetürmten Gedankengebäuden kommt, verliert sich das menschliche Bewußtsein womöglich in logisch verallgemeinernden Formeln. Der Blick für die Fülle und den Wert der Einzelheiten kommt abhanden. Alle in JENE IHRE BEGEGNUNGEN auftretenden Figuren sind Götter, bis auf Hesiod, den Dichter. Er erzählt von seinen Verletzungen und Zweifeln: Die tägliche Plackerei fresse einen auf, und alles sei dem Sterben und dem Vergessen ausgeliefert – wie könne ein Leben wertvoll sein, wenn nichts von ihm bleibt? Das ist eine Frage des Blickwinkels. Die Götter neiden den Menschen den Tod, weil durch ihn alles ein anderes Gesicht bekommt. Ewiges Leben ist eine endlose Wiederholung, Sterblichkeit macht jeden gelebten Augenblick einzigartig, unwiederholbar, kostbar. Der verzagende Hesiod trägt Jean-Marie Straubs Hut, der Regisseur ist im Bild. Der Filmemacher als Jedermann, der dringend der Erinnerung bedarf: Ist es nicht die eigentümliche Kraft der Kunst, Alltagsdingen jene Ernsthaftigkeit zu widmen, die ihnen angemessen ist, aber im täglichen Umgang fast schon verboten?

Was der Schriftsteller Pavese in der Poetik des Mythos suchte, das ist für die Straubs der Film: eine Form, die es in der Moderne ermöglicht, das Außerordentliche des angeblich Profanen, das Eigengewicht der Dinge sichtbar zu machen. Ohne Metaphysik, ohne Erhabenheit, ohne Trost die Würde jedes vergänglichen Augenblicks.

AUS DER GESCHICHTE DES HÖRENS

Paveses Gespräche mit Leuko war, als das Buch 1947 erschien, eine literarische Innovation. Es erzählt nicht Handlung, sondern ist ausschließlich in Dialogform gefaßt. Das kommt den Straubs entgegen; für sie sind Dialoge geschriebenes Kino, aus dem sie gesprochenes Kino machen.

Wo es bei Pavese einen wunderschönen Fließtext zu lesen gibt, da machen die Straubs Zäsuren, veranlassen die Darsteller ihres Films, an „seltsamen“ Satzstellen innezuhalten, Pausen zu machen. Dies steht im Kontext der Ästhetik Brechts, die ein Protest ist gegen die Falschheit der bürgerlichen Kultur. Wo Kino bis heute mittels theatralischer Gesten dem Zuschauer suggeriert, er könne ins Innere der Filmfiguren hineinsehen und sei mit ihrem Seelenleben vertraut, durchkreuzen die Straubs diese Illusion. Die Sprache fließt nicht, damit deutlich bleibt, daß sie aus weiter Ferne kommt, daß sie weder den Sprecher noch die Regisseure direkt ausdrückt. Die Straubs geben alten Stoffen und Texten etwas zurück, was ihnen der Unterhaltungsbetrieb mit barbarischer Selbstverständlichkeit enteignet: ihre Fremdheit. Diese ist das Normalste von der Welt. Begegnet man einem anderen Menschen und will mit ihm wirklich ins Gespräch kommen, muß dessen Sprache erst gesucht und durchdacht werden.

War das Sprechen in ihren ersten Filmen knochentrocken, so haben die Straubs durch die Arbeit an musikalischen Werken von Bach und Schönberg dem Kino inzwischen einen neuen poetischen Ausdruck erschlossen. Durch die eingefügten Pausen wird Sprache rhythmisiert; Sätze bestehen nicht mehr aus Haupt- und Nebensachen, jedes Wort, jeder Sprachbaustein ist gleichermaßen bedeutend. Zeilen sind choreografisch verknüpft, verhalten sich kontrapunktisch zueinander, so daß man einen Straub-Film hören kann, wie man einen Song hört oder eine Symphonie. Durch diese Art des Zuhörens ist der Zuschauer umfassend in den Film einbezogen: eigene Erfahrungen, Konflikte, auch Lebenslügen sind angesprochen, in Aufruhr versetzt, sitzen deutend mit im Kino. Ganz anders als sonst, wenn keine Filmminute vergeht, ohne daß Soundtrack und Effektdonner einem anordnen, wie man gefälligst zu verstehen hat.

Mit der Kamera gehen die Straubs zu den Quellen unserer Kultur, der Sprache auf ihren Grund. Bevor sie zu reiner Information und zu Wissenschaft wurde, war Geschichte gesprochene Erzählung, die den Eigenheiten und Umständen von Erzählern und Hörern angemessen weitergegeben werden konnte. Auch die Bibel wurde mündlich überliefert, bevor man den Inhalt durch Schrift festlegte, ihm ihre Autorität verlieh. Den Kampf der Straubs gegen die Macht des Geschriebenen, ihre Hinwendung zum mündlichen Erzählen sollte man nicht als medientechnische Nostalgie mißverstehen. Er entspringt ihrer Auffassung von Öffentlichkeit. Sie begreifen Film als Mittel der persönlichen Begegnung, des öffentlichen Mitredens, statt, wie die herrschende Kultur es will, als Privatangelegenheit, die für die Verhältnisse folgenlos bleibt.

Woraus das Kino seine Sensationswerte gewinnt, Action, Gewalt, das passiert bei den Straubs außerhalb des Bildes. In ihren Filmen sieht und hört man, wie über alles fortwährend geredet wird. Dieses Vorgehen entspringt einem zärtlichen, optimistischen Glauben an die Menschen: Nicht die großen Ideen, Ideale, sozialen Systementwürfe als solche sind wichtig; es zählt vielmehr, wie etwas durch Menschen hindurchgeht, wie sie ihm in kleinsten, unfertigen Handlungen und Worten physische Wirklichkeit verleihen. Wer hat behauptet, daß endloses Sprechen unfilmisch sei? Es ist Action! Wie wenn man mit Freunden zusammensitzt und Erfahrungen zusammenträgt, enthalten Dialoge im Straub-Kino die ganze Welt.

AUS DER GESCHICHTE DES SEHENS

Es war einmal. Als bei Dreharbeiten in den 1940er-Jahren ein Kameramann einen ihm unpassend scheinenden Stein beseitigen wollte, widersprach ihm der Regisseur des Films und fragte, mit welchem Recht der Mitarbeiter glaube, die Natur verbessern zu können. Das Feld sei hundert, vielleicht tausend Jahre alt; solange hat die Natur gebraucht, es so zu gestalten, wie es jetzt ist, die Felsen zu verteilen und zu färben. Der Regisseur war Roberto Rossellini. Etwas von dessen hoher Achtung gegenüber der vorhandenen Wirklichkeit findet sich bei den Straubs bewahrt.

JENE IHRE BEGEGNUNGEN wurde in einem Waldstück nahe dem norditalienischen Ort Buti gedreht. Während in der zweiten Episode Demeter mit Dionysos spricht, fallen Licht und Schatten von Ästen und Bäumen auf die Figuren, Wind streicht durch das Blattwerk. Ein Schauspiel, dessen langsame und leise Intensität seinesgleichen im Kino sucht. Solche Bilder verdanken sich dem Materialismus der Straubs, der es nicht erlaubt, Hilfsmittel, künstliches Licht, Blenden und Spiegel einzusetzen, um Wirkungen zu verstärken; auch wird ausschließlich Direktton verwendet.

So ist der Wald, Natur, nicht als beliebig verfügbares Objekt, nicht als austauschbare Hintergrundkulisse, schon gar nicht als Symbol im Bild, sondern als er selbst. Die kaum bewegte Kamera macht empfänglich für Winzigkeiten, für langsame und lange Prozesse, die sich zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch entspinnen. Die eigentümliche Schönheit von JENE IHRE BEGEGNUNGEN entsteht dadurch, daß die Dinge zu sprechen beginnen. Ein Wald, ein Sonnenstrahl, ein Feld. Was das menschliche Auge als unwesentlich ansieht, sieht die Filmkamera als etwas, das als Stoff des Wirklichen so wesentlich ist wie Menschen. Die Direktheit der Straub-Filme koexistiert mit äußerst kunstvollen Kameraeinstellungen, in die der Blick der Filmemacher eingeht sowie ihre Auseinandersetzungen mit Filmern und Malern. Während des Demeter-Dionysos-Dialogs sind das Oben (der himmlische Bereich, das traditionelle Jenseits) und das Unten (der irdische Bereich, das traditionelle Diesseits) durch Stämme und dichtestes Blattwerk miteinander verbunden: die göttliche Sphäre als durch und durch irdisches Gelände. Wie Bilder großer Stummfilmkünstler dürfte es möglich sein, die der Straubs ohne Text in vielen Sprachen der Welt sehend zu verstehen.

Das Denken zum Film, von Sprachtheorie geprägt, ist immer auf dem Sprung in die Abstraktion. Von dort aus läßt sich schlecht hören und sehen, wie die Straubs Kinoelemente anders zusammensetzen. Auch ihre kunstvollsten Bilder sind keine Zeichen, keine Fiktionen, sondern Dokumente. JENE IHRE BEGEGNUNGEN macht nur im Wald von Buti einzufangendes Licht, nur dort zu sehende Farben, nur dort zu hörende Geräusche physisch erfahrbar. Die Straubs nutzen die einzigartige Möglichkeit des Kinematografen, physische Gegenwart, vergehende Zeit aufzuzeichnen und zu bewahren. Film ist die Kunst, Wirklichkeit durch sich selbst auszudrücken.

Wie wenig die neuesten Bildwelten sich der konkreten Realität zuwenden, wie sehr sie eine Rückkehr zum Metaphysischen und Mythischen betreiben, kann man sich ganz einfach klar machen: JENE IHRE BEGEGNUNGEN erlaubt es, in eine Welt hineinzusehen, in der man wirklich leben kann, während es ein immer dominanterer Zug heutiger Bilder ist, in Welten hinein sehen zu lassen, die es allein im Virtuellen, im PC, in Fantasien gibt, wo niemand leben kann.

Kleines Nachwort: Paveses Mythologie-Buch ist gegen die Idealisierung der Antike und gegen Herrschaftssprache gerichtet. In Alltagsitalienisch erzählt, arbeitet es realistisch den Anteil von Bauern, „einfachen“ Menschen an der Geschichte heraus, der in offiziellen Darstellungen immer unter den Tisch fällt. Jean-Marie Straub sagt über die Gründe seiner Verfilmung, ihn interessiere nicht so sehr der Mythos; sein Film sei eine Erinnerung an das utopische Potenzial, daß im Vergangenen stecke, an das nicht-zerstörerische Naturverhältnis antiker Bauern. Von diesen Bauern heißt es in VON DER WOLKE ZUM WIDERSTAND (1978), dem Film, den JENE IHRE BEGEGNUNGEN fortsetzt, daß sie ungeheuer grausam waren, Menschenopfer dargebracht haben. Die Straubs machen Filme, die realistischer sind als ihre Regisseure. Es gibt wirklich viele Gründe, ihr Kino zu schätzen.

Michael Girke – film-dienst 21/2006, 9. Oktober 2006

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Zusammenstellung: Klaus Volkmer Übersetzungen aus dem Französischen: Johannes Beringer Photos aus den Filmkopien: Gerhard Ullmann

Dank an: Johannes Beringer, Madeleine Bernstorff, Robert Bramkamp, Giulio Bursi, Pedro Costa, Vincent Dieutre, Helmut Färber, Harun Farocki, Jörg Frieß, Enrico Ghezzi, Michael Girke, Hans Hurch, Peter Kammerer, Horst Peter Koll, Markus Nechleba, Astrid Johanna Ofner, Jean-Claude Rousseau, Wolfram Schütte, Antonia Weisse –

– und an J.-M. Straub




... Link


Freitag, 6. Oktober 2006

Abendstern


(anläßlich der Demy-Retrospektive der Viennale und des Österreichischen Filmmuseum)

von Olaf Möller

"L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" (1973) ist die bête noir im Oeuvre Jacques Demys: der Film, den selbst eifrige Jünger des Meisters wild aus dem Gesamtwerk 'raus und weg zu ignorieren versuchen, man beschäftigt sich einfach nicht wirklich mit ihm, obwohl/gerade weil er Demys Totalfiasko war: fünf Jahre lang bekam er kein Projekt mehr ins Gleis gestellt, erst ein Angebot aus Japan, die Adaption eines shojo manga, gab ihm erneut die Gelegenheit, Regie bei einem Film zu führen, doch wenig nur, was weiters kam, reicht an die Gewaltigkeit, den Reichtum früherer Zeiten, Filme heran. So sagt man, mal explizit und mal zwischen den Zeilen. Daß "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" nun etwa in der Mitte des Demy-Oeuvres steht - sieben Langfilme entstanden davor; es folgten sechs weitere, incl. des Fernsehspiels "La Naissance du jour" sowie der Kollaboration mit seinem Lehrmeister Paul Grimault, "La Table tournante" (auch so eine Rezeptionsleerstelle) -, verleiht dem Ganzen eine zusatzliche Dramatik: der Nadir als Riß, der den Traum beendet, die Realität beginnt, und damit der Niedergang, so zumindest geht das ja in der gewöhnlichen Vorstellung von Realismus. Wobei man sich dann doch irgendwann fragt, warum dieser Film denn nun so derartig extreme Reaktionen hervorruft - selbst der wenig geliebte "Parking" wird selten nur ähnlich fies angefeindet wie "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" -, vor allem, wo sich, was ja auch oft vermerkt wird, der Film in seltener Konkretheit mit einem Kernthema Demys beschaftigt: der Vaterschaft -- als Mutterschaft. Bei Demy sind die Grenzen fließend, alle. Was wohl das Problem war wie ist: wenn sich Traum und Wirklichkeit so unbedingt, inniglich tief durchdringen wie hier, und die Sehnsucht, Lust Zwänge sprengen, droht der Ordnung höchste Gefahr.

In der wunderschönen, großformatigen wie pop-bunten (von Joao Botelho mitgestalteten) Publikation der Cinemateca Portuguesa, entstanden anläßlich einer Demy-Retrospektive im Dezember '83, wird "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" exakt einmal erwähnt: als Ausnahme, mit Untertönen des Monströsen; das ist die übliche Beschaftigungsweise mit diesem Werk. Jean-Pierre Berthome, der erste Sänger des Demy'schen Genies, in "Jacques Demy. Les Racines du rêve", beschäftigt sich grad pflichtbewußt mit "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune", dabei mehr mit dem, was der Film - per Drehbuch, Erzählungen Demys - hatte werden sollen, als mit dem, was er ist, um ihn am Ende achselzuckend als verzeihlichen Fehlschlag mit wahrscheinlich weitreichenden Folgen abzuhaken. Camille Taboulay, in ihrem weniger rigoros werkeabarbeitenden, mehr Themen-, Bilder-, wie Esprit-getriebenen "Le Cinema enchanté de Jacques Demy", erwähnt den Film kursorisch, ohne ihn genauer, interessierter zu bedenken; alldieweil ihre Demy-Chronologie klar darlegt, daß die lange Pause zwischen "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" und "Lady Oscar" bloß bedingt mit ersterens Fehlschlag zusammenhangt: 1975 etwa blies Demy die geplanten Dreharbeiten zu "Une chambre en ville" ab wegen unüberbrückbarer Differenzen mit seinen Darstellern, 1977, scheint's, bot sich eine Möglichkeit, das unrealisiert gebliebene Projekt "Kobi" produziert zu bekommen, doch da waren wohl schon die Arbeiten zu "Lady Oscar" im Gange. Die, scheint's, einzige monographische Veröffentlichung, die "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" gleichberechtigt-solidarisch innerhalb des Demy-Oeuvres präsentiert, ist die liebevolle Hommage-Broschüre "Demy 2000", die anläßlich einer Deutschland-weit präsentierten Retrospektive im Herbst/Winter 2000 erschien: Jedem Werk des Programms, ob lang ob kurz, haupt- oder nebensächlich, ward eine Doppelseite zugeteilt, links Text, rechts ein signifikantes Photo -- so gibt's nichts Unwichtiges im Wesenhaften, allein Grade des Widersprüchlichen, Eigensinnigen; es ist auch die einzige Demy gewidmete Publikation, die sich liebevoll-freundlich dieses Films annimmt, seine Besonderheiten andeutet.

Die Abwatschung von "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" basiert im allgemeinen auf der Annahme, daß der Film anders sein sollte: man behandelt ihn wie einen Aussätzigen, weil seine Gestalt nicht dem entspricht, was man sich erwartet: man beckmessert also, wie's gewerbeüblich ist, wenn sich wer in's Reich des Genres begibt und es nicht ganz offensichtlich auf den Kopf stellt. Im Gegensatz zu Demys designierten Hauptwerken ist - per Berthome, der die Genese des Films skizziert - "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" weder ein langgehegtes Projekt noch ist er in irgendeiner Weise direkt, etwa durch eine Figur, mit seinem Kosmos verbunden: er steht gänzlich allein da -- es war halt eine Augenblicks-Geschichte, eine Eingebung, inspiriert durch Vardas Schwangerschaft 1972 (15.10.: * Mathieu Demy); zudem war es ein designiert kommerzielles Unterfangen: der Film sollte - auch - Demys Befähigung zum de Brocka'en demonstrieren, im langen Lauf, um Demys Schaffen zu deklischeisieren; und schließlich: es war, in all dem, eine Gefälligkeit für Marcello Mastroianni (und damit Catherine Deneuve), der zu jener Zeit versuchte, seine Karriere nach Frankreich auszuweiten und deshalb nach einem Projekt für ein weiteres Publikum suchte. Der Film konnte denn auch ungewohnt rasch realisiert werden: Ob der Kombination Deneuve-Mastroianni fand sich gleich ein Produzent, der schnell einen italienischen Co-Produzenten 'ranschaffte, gedreht wurde im Frühjahr '73, im September des Jahres startete der Film in Frankreich. (Dabei sollte man vielleicht noch folgendes Bedenken: "The Pied Piper" war damals in Frankreich noch nicht gestartet, dort war also "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" Demys erster Film post "Peau d'ane". Das verschob wahrscheinlich die Rezeption: ohne die Erfahrung von "The Pied Piper" - der Alb nach dem Traum; Dämonen, wo Feen flatterten - Dunkelheit und Gottesferne, Menschen Angst, Hybris und Bestrafung - wirkt "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" anders, weniger demütig, bedächtig, beseelt, sehnend). Berthome spekuliert schließlich darüber, fast entschuldigend, daß der Film Demy wohl auch nicht allzu nahe, wirklich wichtig, wesentlich gewesen sei, da er sehr viele Kompromisse einging, auf die er sich ansonsten sicher nie eingelassen hätte: Das ursprüngliche Drehbuch wurde wohl in vielen Teilen entschärft, zeit-, sozialkritische Spitzen wurden stumpf-, oft gänzlich abgeschliffenen, so daß aus einer rasanten Satire, einer Screwball Comedy a la francaise etwas...: anderes wurde, mittenmang Mireille Mathieu an der Quetschkommode. Daß ihre Gegenwart aus dem Film herausfällt, sie, gefühlt, nicht in das Konzept, den Kosmos paßt, der angeblich für sie passender gemacht worden war - incl. gewisser Umdichtungen des Lieds 'Mon Paris' -, ist bezeichnend. Will sagen, fragen: Waren die Änderungen im Drehbuch wirklich Kompromisse?

Vielleicht sollte man "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" gar nicht als Farce, Satire, was auch immer für eine Unterkategorie von forcierter Komödie betrachten, sondern als ein klassisches Kleinbürgermelodram - ein shomingeki -, dessen Personage mit ungewöhnlicheren Umständen zu Rande kommen muß. Oder auch: Wie immer bei Demy geht es um die Wirklichkeit der Sehnsucht im innersten Selbst der Realität. "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" ist - bei aller Spinnertheit, allen Volkstheatersurrealispelchen - vor allem: gemütlich, gemütsvoll, gemächlich, entspricht damit, wenn auch idealisiert - in einem Film der Ideale und Wünsche - der kleinen Welt, in der er spielt, die der Kleinbürger des Montparnasse, der Sträßchen und Ecken zwischen der avenue du Maine und der rue de la Gaite, wo Demy den Film drehte, wo sich das Hürchen und die Gemüsehändlerin im Frisiersalon treffen und tratschen: der Welt zwischen dem Modischen, nach dem man sich sehnt, und all den kleinen Kompromissen und Klimmzügen, die man in Kauf nimmt und macht, um dieses ferne fremde Jetzt mit dem eigenen Grad(-So) irgendwie zusammenzukriegen, da sind dann die Stoffe etwas gröber und die Muster etwas steiler und die Farbpaletten etwas greller und die eigene aufgetüllerte Gegenwart wirkt ab und an etwas befremdlich neben dem schraddeligen Küchentisch. Und alle Ecken sind überhaupt auch, ja, ein bißchen voller, man hängt an den Dingen, daran, wie sie sind, wie's ist: und am Ende ist's eigentlich auch gut, daß man sich immer ein wenig strecken muß, so bleibt man bedächtig. Demy liebt diese Welt - wie so viele andere: denn er liebt die Welt, das Leben -, und er gibt ihr all den Raum zum Werden, den's braucht: so wird wenig verdichtet und viel gedehnt. Und so bekommt der double take bei Demy eine ganz wirr brechtianische cum krypto-cicero'ide Drehung: Es geht, ganz materiell, um den Zeitraum zwischen dem Erkennen des Witzes durch den Zuschauer und der Erkenntnis ihrer Lage durch die Filmfigur. Es bricht keine (nun gut, nur ganz kurz...) laute Hysterie aus, als Marco, der Fahrlehrer, erfährt, daß er im vierten Monat schwanger ist, ob von Irene, der Besitzerin des Frisiersalons, seiner Gattin, weiß man nicht: man staunt viel mehr und bestaunt ihn, und wundert sich, und macht sich bei all dem eher mal nützlich als daß man dumm rumsteht. Sein Gynäkologe meint, daß waren eben die Umwelteinflüsse, da sind die Hormone gekippt, da passiert so was dann halt, was irgendwie auch nach Unbefleckter Empfangis durch Umweltverschmutzung klingt. Marco wird zur Sensation gemacht, da draußen in der modernen Welt, da sorgt der Onkel Gynäkologe für, während man sich daheim mehr damit beschäftigt, wie's weiter gehen soll, worauf es eigentlich immer nur eine Antwort gibt, nämlich, So halt. Marco ist auch nicht allein mit seinem Kinderwunsch, alle möglichen Manner, darunter kräftig-derbe Burschen, finden sich plötzlich schwanger wieder: ein Bauarbeiter greift sich ahnungserfüllt an den Bauch und laßt sich selig lächelnd langsam nieder. Am Ende erweist sich Marcos Schwangerschaft, wirklichkeitsgemäß wie melancholisch, als Illusion: Hat er von Kindern aus seinem Leib geträumt, sich nach der konkreten Erfahrung des Gebarens gesehnt, warum glaubt ein Mann, er sei schwanger, und das nicht nur einer, sondern viele? Demy hatte angeblich ein anderes Ende gedreht, in dem Marco das Kind kriegt, Babygeschrei war zu hören, doch das fand man bei der Produktion angeblich zu radikal. Aber: Ist das Ende jetzt nicht ungleich radikaler, da der Film nicht von einer verschrobenen Begebenheit erzahlt, sondern von einem möglichen konkreten Sehnsucht wie deren Scheitern? In Demys Kino geht es immer wieder um Fragen von Geschlechterrollen und sexuellen Identitäten: darum, wie sie die Menschen einzwangen, in Entweder-Oder-Konstellationen zwingen, in Ketten des Verzichts, der Ablehnung, wo doch alles anders sein könnte, summt's immer wieder im Subtext. (Es war denn im übrigen auch kein Zufall, daß man von japanischer Seite Demy die Regie von "Lady Oscar" anbot: da hatte man dieses Moment in seinem Schaffen namlich sehr genau erkannt.) Sexuelle Transgressionen, Perversionen, bis hin zum Inzest - allein, was da in "Peau d'ane" passiert! -, spielen immer wieder entscheidende Rollen in seinen Fabeln: thematisiert wird darin das Perverse der Ordnung, die sich auf eine Natur beruft, die doch bloß menschendefiniert ist, zelebriert wird die Vielgestaltigkeit, daß eine/r Verschiedenes sein kann zu verschiedenen Zeiten für verschiedene Menschen, daß sich Rollen tauschen lassen für eine gewisse Zeit und dann wieder zurück- oder mit wem anderes getauscht werden können, oder daß man zwei drei vier Rollen gleichzeitig spielt: daß die Grenzen fließen, und daß noch nicht einmal mehr manichäisch-drückend standig das eine und das andere gegenwärtig sein müssen, daß es manchmal auch gut ist, wenn es nur von einem viele/s gibt. In "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" wird es also Demy-Ernst, ernster als je zuvor, denn nie war Demy dem Realismus näher als hier: für einige Zeit siegt das Sehnen und das Wünschen und die Vernunft, der Möglichkeitssinn, gerade weil die Situation wie ihre Welt nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern dem Lacheln überantwortet werden. Die Subversion feiert Ausstände im Zusammenbrechen der Konventionen, des Genres: denn "L'Événement le plus important depuis que l'homme a marché sur la lune" ist nicht das Kind eines Genres, sondern vieler, ein Zwitter, wie sein Macher, so seine Gattin, die ihn in "Demy 2000" zum Geleit als Zypresse und Mimose beschrieb.




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