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Röte des Rots


"Il Deserto Rosso", Regie: Michelangelo Antonioni, Italien 1964.

Von Volker Pantenburg

Screen / Canvas. Vom ersten Bild an versuche ich, die Leinwand mitzudenken, auf die der Film eigentlich projiziert werden müsste. Das bedeutet einen zusätzlichen Übersetzungsvorgang, einen Prozess, der den Film "angemessen" sehen will und sich dabei von ihm entfernt. "Die Rote Wüste", Antonioni 1964, eine abgenutzte VHS-Kopie, italienisch mit englischen Untertiteln. Selbst in dem unbeholfenen Bildschirmformat entwickeln die Bilder eine auffällige Dynamik. Farbflächen, abgezirkelte Suchbilder, in denen man Monica Vitti als Giuliana und Richard Harris als Corrado, oft verloren zwischen Rohren, Stahlmasten oder Silos, erst mit einem Augenblick Verzögerung erkennt. Sie gehen von A nach B, aber das B, das sie dort finden, entpuppt sich immer wieder nur als ein weiteres A. Ein Sog entsteht, man will sich in einem Bild umsehen, aber untereinander stoßen die Bilder sich zugleich ab, immer wieder prallt eine neue Komposition hart auf das vorherige Tableau. Selbstbehauptung, Abgetrenntsein. Der Film ist - darin schließt er an Antonionis frühere Filme an - eine Studie über das Thema Bindungslosigkeit; zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Dingen, zwischen 'neuer' und 'alter' Zeit. Auch zwischen den Bildern, die ihrerseits von diesen Bindungslosigkeiten sprechen. Zumindest die Dinge gehen einigermaßen unbeschadet aus diesem Durcheinander hervor.

Innen / Außen. Schon in der unscharf gehaltenen Vorspannsequenz ringen zwei Tonebenen um die Vorherrschaft. Der einsame Gesang, der später in der Geschichte für Valerio wieder aufgegriffen wird, und die von Vittorio Gilmetti komponierten elektronischen Geräusche. Elektronische Musik im Film, das läßt an Louis und Bebe Barrons Score für "Forbidden Planet" denken, den ersten vollelektronischen Soundtrack, 1958. Dort signalisiert das Befremdliche, "Kalte" der Soundeffekte Außerirdisches, hier dagegen geht es um Innerirdisches, um Dissonanzen im eigenen Körper, ein Sich-selbst-fremd-sein, eine Art akustische Rückkopplung, die an die Stelle fehlender sozialer Rückkopplungen tritt. Auch die Fabriken machen solche Geräusche, übertönen oft die Dialoge, so wie ihr Dampf die Bilder zudeckt.

Zukunft in der Gegenwart, 1964.

Insoluble Maths Equation. Die Anordnung innerhalb einzelner Einstellungen hat etwas Mathematisches, es gibt immer wieder neue, im buchstäblichsten Sinne 'malerische' Bilder zu sehen, und trotzdem kann man diese Häufung auch als Subtraktion empfinden. Zumindest in jedem einzelnen Bild werden die unwirtlichen Industriekomplexe, durch die sich die Figuren bewegen, immer wieder heruntergerechnet auf Geometrie, Form, Farbe. Ein Verfahren, das der "Realität" nichts wegnimmt, sondern sie anreichert, umformuliert, immer wieder neu zu fassen versucht.

Aus Forschung und Technik. Antonioni hat nachdrücklich darauf hingewiesen, man solle seinen Film nicht als Zivilisationskritik mißverstehen. Der Fehler, wenn es einen gibt, auch für das psychische Desaster Giulianas, liege bei den Menschen, die sich noch nicht an die neuen Verhältnisse gewöhnt haben. An eine grundsätzliche Technisierung des Lebens, heißt das, an die Zukunft in der Gegenwart - über die Vergangenheit erfahren wir nichts. Zukunft, das hiess vor knapp vierzig Jahren noch: Industrieanlagen und gigantische Teleskope, heute gäbe es da nichts Sichtbares mehr zu filmen, da sich die Zukunft ins Mikroskopische von Genen und Chips verflüchtigt hat; aber schon in Antonionis Film sieht die Welt der Industrie und Technik eher nach Demontage als nach Aufbruch aus; nicht wie Vorstellungen, eher wie Rückstände muten die Gebäude an.

Technik, Color. Für die gelingende Anpassung an die neuen Verhältnisse steht im Film Giulianas vierjähriger Sohn Valerio, der sich selbstverständlicher als alle anderen zwischen Chemiebaukasten und selbständig herumfahrendem Roboter im Kinderzimmer (seiner Welt) zurechtfindet. Für die neuen Verhältnisse kann aber auch der Farbfilm stehen, den Antonioni in "Deserto Rosso" zum ersten Mal benutzte. Denn auch er ist ein Resultat der Industriewelt, die der Film als moderne Wüste mit Faszination und Distanz schildert, und die Manipulationen, die Antonioni und sein Kameramann Carlo di Palma mit Filtern und über gezielte Unschärfen vornehmen, sind technische Verfahren, die den industriellen Komplexen entstammen, die sie abbilden. Der Konflikt zwischen neuer und alter Zeit, zwischen "Natur" und "Technik" wird hier im Gegensatz von Eastmancolor und Technicolor ausgetragen. Natürlich ist das eine Verfahren so technisch wie das andere, aber nach dem lauten Technicolor der Frachtschiffe und Industrieanlagen wirken - in der utopischen Geschichte, die Giuliana ihrem Sohn als Einschlafgeschichte erzählt - das Meer, der Strand, das Segelschiff so archaisch und beruhigend wie die Motive und die singende Stimme, die sie begleitet. Mir kommt es vor, als gebe es eine so deutliche Abstufung von Zuständen über unterschiedliche Farbverfahren selten in Filmen. Immer muß gleich körniges Schwarz-Weiss gegen das Bunte gestellt werden, um überdeutlich auf Zeit- oder Realtitätssprünge innerhalb einer Erzählung hinzuweisen.

Augen, Blicke. Als der Sohn eine Lähmung seiner Beine vortäuscht - oder sie tatsächlich empfindet - und Giuliana ihm vergeblich zu helfen versucht, sieht man auf der Fensterbank seines Zimmers ein merkwürdiges Spielzeug: ein großes, nacktes Plastikauge, auf einen weissen, geschwungenen Sockel montiert. Auch der Roboter, der nachts von selbst immer wieder aufs Neue gegen die Wand fährt, scheint hauptsächlich aus zwei leuchtenden Augen zu bestehen. (Künstliches) Sehen und (künstliches) Leben, das wird hier ganz im Sinne einer langen Tradition miteinander kurzgeschlossen, die in den Augen ein Fenster zur lebendigen Seele erblicken will. Für Giuliana ist beides im gleichen Masse fragwürdig geworden. "I feel as if my eyes are wet", sagt sie an einer Stelle zu Corrado, "but what do people expect me to do with my eyes? What should I look at?" Und er antwortet: "You say: what should I look at. I say: How should I live. It's the same thing." Zumindest in der Fragwürdigkeit versucht er, eine Gemeinsamkeit herzustellen und sieht nicht, daß es gerade die Gemeinsamkeit sein könnte, die ihr fragwürdig geworden ist.

La Caméra pinceau. Antonioni hat, um die gegenseitige Bedingtheit von Guilianas Psyche und der wahrgenommenen Welt ins Bild zu setzen, damals eine ganze Straße grau-grün anmalen lassen, und die Fabriken hat er in ihrer Funktionslosigkeit fotografieren lassen, als wären es Kunstwerke. Unklar, was hier hergestellt wird außer Rauch und gelb-giftigen Dämpfen; es wirkt tatsächlich, als seien es in erster Linie Produktionsstätten für Farben und Bilder. Man liest auch immer wieder, daß in diesem Film der Farbe ebenso viel Gewicht verliehen werde wie den Charakteren und ihren Dialogen oder dem Schnitt. Das läßt sich leicht behaupten; bei wenigen anderen Filmen habe ich allerdings tatsächlich das Gefühl gehabt, daß sich die Bereiche gegenseitig so entschieden in Schach halten und jedes für sich im gleichen Maße Aufmerksamkeit beansprucht. "In 'Die rote Wüste' hatte ich den Eindruck, daß die Farben nicht vor der Kamera, sondern in der Kamera seien [...]. Man hat wirklich das Gefühl, daß es die Kamera ist, die 'Die rote Wüste' hergestellt hat", hat Godard 1967 in einem langen Gespräch mit den Cahiers du Cinéma gesagt und den Film dadurch in seiner Farbdramaturgie von Le mépris abgegrenzt. Eine Selbstverständlichkeit, die man - gerade deshalb - leicht vergisst: die Kamera stellt die Farben her, sie malt, wo sie vorgibt, aufzunehmen. Der physikalischen Wirklichkeit wird damit nicht eine zweite Wirklichkeit entgegengesetzt; vielmehr werden die Kamera und Giuliana in ein Verhältnis zueinander gebracht. Als Farb-, Licht- und Klangsensoren, deren Wahrnehmung nicht stabil, sondern veränderlich ist. "Innenfarben", "Affektfarben" hat Frieda Grafe das genannt. Affektfarben, so liesse sich anschliessen, in doppeltem Sinn: Farben, die als Affekt (Giulianas) verstanden werden wollen, die aber zugleich ihrerseits (den Zuschauer) affizieren.

Blicke nach draußen... aneinander vorbei... Verlegenheiten, Überspielungen. Nicht im Bild: Giuliana.

Temperaturen. In einer Szene albern Giuliana, ihr Mann Ugo, Corrado, ein befreundetes Pärchen und eine weitere Frau in einer heruntergekommenen Anglerhütte herum; es geht um die sexuell stimulierende Wirkung von Wachteleiern, um Lust und Arbeit. Dahergesagte Worte nehmen den Platz ein, den Gesten füllen könnten. Die Schlafkoje, ein enger Holzverschlag im Raum, in dem sich die fünf tummeln, ist innen knallrot gestrichen; als es kalt wird und das Brennholz ausgegangen ist, beginnen sie, die Koje abzureissen und im Ofen zu verfeuern: Wärme ist nur um den Preis der Zerstörung möglich, um den Raum zu beheizen, demontiert man ihn vollständig. Wenn ich die gellend roten Wände sehe, kommt es mir vor, als müsse dieser Film Pate gestanden haben für Bitomskys Buchtitel "Die Röte des Rots von Technicolor". Ein Signalrot, daß dem Zuschauer seine Ambivalenz ins Auge schleudert: Es alarmiert, aber es könnte ebensogut als Orientierung im Nebel und Rauch dienen, durch den Giuliana in anderen Szenen wankt. Zwischen Grau und Grell taumelt auch der Film ästhetisch hin und her, die Farben vermischen sich wie Stimmen im Kopf.

Babel. Ein Film, der so gemacht ist, als würden permanent verschiedene Sprachen durcheinandergesprochen, wie es in der Episode mit dem türkischen Seemann am Ende dann tatsächlich auch ist. Sie fragt, ob das Schiff auch Personen mitnehme, er versteht kein Wort, redet seinerseits auf Türkisch. Und genau in dieser Situation öffnet sich Giuliana stärker als im ganzen Film zuvor. Weil sie weiss, daß sie nicht verstanden wird. "Ich muß daran denken, daß alles, was mir begegnet, mein Leben ist." Resignation, Trost. Das eine im anderen. Sich selbst als Ort von Übersetzungen begreifen.


Ein weiterer Text - von Wolfgang Schmidt - zu "Die rote Wüste" findet sich hier.




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Zu DIE ROTE WÜSTE von Michelangelo Antonioni


Ungebetener Text zu ungebetener Stunde - nichts mehr als subjektiv, was heißt, an eigener Arbeit orientiert; entlanggeschrieben an Unterstreichungen in BOWLING AM TIBER von Michelangelo Antonioni und meinen filmischen Versuchen; nach dem erstmaligen Sehen von DIE ROTE WÜSTE (Antonioni 1964) Anfang der neunziger Jahre; später erweitert.

Zweimal versucht am Beginn des Films NAVY CUT eine Frauenstimme die Behauptung - ich - auszubringen. Danach gelingt ihr der Satz: "Ich fürchte mich vor Musik." In DIE ROTE WÜSTE darf Monica Vitti sinngemäß den Satz sagen: "Ich will nicht mehr ich sein müssen." Dachte ich; aber in der Textfassung (Michelangelo Antonioni: Die rote Wüste; Cinemathek 11; Hrsg.: Enno Patalas, Hamburg 1965) ist diese Phrase so explizit nicht zu finden. Dafür aber: " Ich habe Angst! [...] Vor den Straßen ... vor den Fabriken ... vor den Farben ... vor den Leuten ... vor allem ..." Und an anderer Stelle über ein Mädchen, von dem sich dann herausstellt, dass Giuliana selbst dieses Mädchen ist: "Es fehlte ihr der Boden unter den Füßen. Ein Eindruck, als glitte sie eine schiefe Ebene hinunter ... immer tiefer, tiefer ... als sei sie nahe daran zu ertrinken ... [...] ... wer bin ich eigentlich?" Mit der Gegenüberstellung der beiden Filme soll hier nicht die Nachfolge Antonionis behauptet, als vielmehr auf ein Identitätsproblem der bürgerlichen Gesellschaft verwiesen werden, das spätestens mit der Figur Hamlets formuliert wurde.

Nach der offiziellen Überwindung der Metaphysik und faktischen Bedeutungslosigkeit der Religion ( - was wahrscheinlich nur für den westlichen Kulturkreis gilt und selbst dort nur mit diversen Einschränkungen - ), zumindest was das praktische, zweckrationale Handeln, das gesellschaftliche Leben also, angeht, ist sowohl die Gesellschaft als auch das Individuum auf sich selbst als letzte Begründungsinstanz angewiesen und auf sich zurückgeworfen.

Der Versuch, diesen Kurzschluss zu überwinden, hat verschiedene Vorschläge hervorgebracht: Marx z.B. hat diesbezüglich das Paradigma der gesellschaftlichen Arbeit angeboten. Bürgerliche Ideen zielten mehr auf Grenzbereiche des Gesellschaftlichen - wie Genie, Wahnsinn, Erotik, Kunst - , in denen die Möglichkeiten zur Überwindung der Subjektzentrierung gesucht wurden und werden. Diese Versuche dauern an.

In mehrerer Hinsicht ist DIE ROTE WÜSTE in Antonionis Arbeit ein Schritt nach vorne. Das Spektrum des farbigen Lichts bleibt nicht länger ein unbearbeitetes Feld. Begibt man sich auf unbekanntes Terrain, tut man gut daran, Begrenzungen einzuführen, prinzipielle Einschränkungen, Stilisierungen, die Orientierung schaffen. Das betreibt Antonioni auf beeindruckende Weise.

Warum für LA NOTTE Schwarz-Weiß noch ausreichend ist, darüber kann man spekulieren. Die Konflikte treten hier nur als zwischenmenschliche Probleme auf, Beziehungskonstellationen, die auf scheinbar unerklärliche Weise ihrer Basis verlustig gehen. Industrie, Intellekt und emanzipative Intuition sind hier jeweils personifiziert. Die Probleme sind Probleme zwischen Menschen, die äußere Welt bleibt im wahrsten Sinne des Wortes äußerlich. Eine monochrome Folie, die der eigentlich "wahren" inneren Welt als schwarz-weiße Fläche gegenübertritt. Der moralische Druck dieses Films nimmt von hierher seine Kraft.

"Weiß ist nicht farblos, sondern die Zuflucht der farbigen Welt." - wird Ernst Jünger in NAVY CUT von einer Männerstimme zitiert.

In DIE ROTE WÜSTE ist diese klar definierte Unterscheidung nicht mehr zu treffen. Die Zurichtung der äußeren Natur findet ihre Entsprechung in der Verfassung der Protagonisten. Ihre Behausung steht mittendrin in industriell angeeigneter Umgebung und ist weder Herrensitz im Pleasure Ground noch Intelletkuelleneremitage im x-ten Stock über den Dingen wie in LA NOTTE.

In weiterer Hinsicht ist DIE ROTE WÜSTE wahrscheinlich Antonionis erster moderner Film, der die sechziger Jahre als Jahrzehnt des Aufbruchs voll erreicht hat. Nebenbei bemerkt sei, dass seine Meisterschaft wohl darin besteht, über 15 bis 20 Jahre immer wieder unmittelbar über das Lebensgefühl seiner Zeit gearbeitet zu haben, d.h. den Kern zu treffen, in dem sich eine Epoche formuliert, sodass sein jeweils neuester Film zwangsläufig der modernste ist. Das gilt allerdings spätestens ab IDENTIFIKATION EINER FRAU, der ihn in die Nebel seiner Jugend zurückkehren lässt, nicht mehr uneingeschränkt.

"Alle Menschen, die den Tod betrachten, sind ein und derselbe Mensch. Aber es ist eine Identität, die nur so lange dauert wie der Blick; die erste Bewegung macht sie zunichte." (Der Horizont der Ereignisse; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 16)

Modern deshalb, weil das Subjekt des Autors ständig und unmittelbar in der Person der Hauptfigur anwesend ist. Das wird einmal deutlich an den noch blässlicher geratenen männlichen Figuren, blasser noch als in den vorangegangenen Filmen. Zum anderen handelt der Film nicht mehr nur von Zerrissenheit, sondern er ist zerrissen, ohne darin eine verbindliche Form zu finden. D.h. dieser Film scheitert - bei aller Meisterschaft im Detail. Einmal erzählt die Hauptfigur Giuliana ihrem Sohn eine Geschichte. Der Film verlässt dabei seine gewählte Realitätsebene, arbeitet mit Musik, mit Gesang. Selbst wenn man sich für den Gestus des Singens interessiert und sich um sein Wesen bemüht, so rührt doch diese unvermittelte Märchenerzählung nicht an und bleibt merkwürdig flach.

Allerdings bietet sich uns die Frau in diesem Film nicht länger als geheimes Versprechen an. Sie ist sich inzwischen bis zur Unerträglichkeit selbst ein Rätsel, das an Männern keinen Halt mehr findet. Noch scheut sie davor zurück, aber letztlich wird sie nicht umhin können, selbst ins Weltgeschehen eingreifen zu müssen. Zunächst will davon aber noch nichts gewusst sein. Wäre sie ein Mann, wie in DER SCHREI, hätte sie sich umbringen dürfen, oder andere hätten es für sie erledigt, wie in BERUF: REPORTER.

"Er ist ein junger Mann, aus dem Norden, wie die Gewitter an diesem Tag." (Der Horizont der Ereignisse; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 14)

Archaisches Ungestüm junger Männer, die Sizilien verließen, um im italienischen Norden Arbeit zu finden, breitet Visconti in seinem Epos der Ungleichzeitigkeit ROCCO UND SEINE BRÜDER aus. Auf der Oberfläche zivilisierter, ihrem Wesen nach aber ebenso wenig befähigt, von sich selbst zu abstrahieren, gerieren sich die Männer des Nordens bei Antonioni. Sie folgen ihrer Natur, was immer das auch sei, ergreifen Besitz, richten zu. Es gibt kein moralisches Regulativ. Kollektivität kennen sie nur unter Männern. Angehalten, zum Innehalten gezwungen durch eine unerwartete Aktion der Frau, besinnen sie sich nur punktuell; es gibt keine Möglichkeit der Veränderung.

"Die Gleichgültigkeit der Natur war die dramatische Entdeckung ihrer Jugendzeit." (Zwei Telegramme; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 21)

"Undeutlich nimmt sie wahr, dass die Männer, obwohl sie sie liebt, ihre Feinde sind, und dass, sich mit ihnen zusammenzutun, auf die Gefahr hinausliefe, in einem endlosen Heute ohne ein Morgen zu verdorren. Und so hat sie gelernt, ihre eigene Zerbrechlichkeit als das einzig Reale auf der Welt zu betrachten, alles übrige kann sein oder auch nicht sein." (Das Mädchen, das Verbrechen ...; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 63)

Die Schauspielerin Antonionis ist zweifellos Monica Vitti. Trotzdem lässt sich obiges Zitat genauso als eine Beschreibung Jeanne Moreaus und ihrer Haltung, die sie in LA NOTTE an den Tag legt, lesen. Jeanne Moreau wandelt durch die Filme der Nouvelle Vague und anverwandter Filme als die bürgerliche Frau im Aufbruch (FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT, DIE LIEBENDEN, MODERATO CANTABILE, JULES ET JIM, und weitere mehr). Sie kommt dem Modell der Pietà - Maria sorgt sich um den Mann, der in die Welt ging und Schaden nahm - der Antonionifilme bis dato entgegen, unterläuft es aber gleichzeitig durch jähe Schroffheit und Eigensinn. Sie gibt dem Für-Sich-Sein Gestalt, spielt, was ihre Autoren gerne wären, bewahrt ein Geheimnis - die Frau ist eine andere. Moreaus große Zeit endet Mitte der sechziger Jahre. Godard hat meines Wissens nie mit ihr gearbeitet.

Über das Gelingen eines Werkes: Über den Zeitraum von zwei Tagen probt Libgart Schwarz im Rundfunkstudio eine Passage für ein Hörspiel. Es will nicht so gelingen, wie sie es sich vorstellt; der Regisseur wäre schon lange zufrieden. Am Ende des zweiten Tages klappt es plötzlich doch noch. Libgart Schwarz: "Es ist Glück. Die Anstrengung ist immer dieselbe. Man muss Glück haben."

Für den Film LA NOTTE war mehr als Glück von Nöten. Im Gegensatz zu DIE ROTE WÜSTE, in dem die Hauptfigur sich ständig am Wahnsinn entlang arbeitet, behandelt er ein Thema, er ist es nicht. Oder anders: In FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT lässt Louis Malles Miles Davis über einige Szenen improvisieren und bastelt daraus so etwas wie einen Soundtrack, um dem Film Zeitkolorit zu geben. Antonioni dagegen zeigt in LA NOTTE den bürgerlichen Gebrauch von Jazzmusik. - In DIE ROTE WÜSTE hat es den Anschein, als sei der Gestus des distanzierenden Zeigens nicht mehr aufrechtzuerhalten.

"Geld kann man nicht belügen, es merkt das sofort." (Die Wüste des Geldes; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 86)

Es gibt Regisseure, die sind gläubig, und darum kann man sie beneiden; - vermutlich haben sie es auf eine bestimmte Art und Weise leichter, den Mythos frühzeitig und unhinterfragt in ihre Arbeit einzugliedern. Verstehen in dem Sinne kann man sie nicht. Zugang gibt es nur über die Unbedingtheit des Glaubens. Das Aufregende an Antonioni besteht darin, dass man von Film zu Film zuschauen kann, wie er vom Glauben abfällt. Auch wenn er eher in mythischen Metaphern über seinen Schaffensprozess schreibt, hat man doch den Eindruck, er kläre sich mittels der Herstellung von Film auf, er will etwas herausbekommen, was zuvor nicht gewusst wurde.

"Und es ist eine Besonderheit meines Berufs, dass ich mit den Leuten reden kann, sie zum Sprechen bringe und zu ihrem Komplizen werde in ihrem Bedürfnis, sich mitzuteilen und sich als Protagonisten irgendeiner Verzweiflung darzustellen." (Die Wüste des Geldes; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 84)

Bis einschließlich des Films DIE ROTE WÜSTE betätigt sich Antonioni als Verzweiflungsspezialist. Was in: "Ich will nicht mehr ich sein müssen!" oder entsprechenden Modifikationen gipfelt, schlägt in BLOW UP, ZABRISKIE POINT, BERUF: REPORTER um in: Bin ich überhaupt, oder bin ich der, für den ich mich halte. Hier weicht die Verzweiflung der Neugier; was ist und wer bin ich wirklich, und gibt es überhaupt noch eine verbindliche Wirklichkeit. Die Hauptdarsteller - alles Männer - erfahren, dass es über Faktizität hinaus weitere Dimensionen zu erobern gibt, was aber mit den herkömmlichen Mitteln nicht zu leisten ist. Verzweiflung kommt trotzdem nicht auf. Denn die Protagonisten sind längst von Erleidenden zu Tätern geworden, die sich die Welt im Vorwärtsgehen erschließen und dabei lernfähig geworden sind. Mag der Boden dabei auch ins Wanken geraten. Handeln ist keine Versicherung und als Lösung nicht hinreichend, sondern Alltagsbewältigung.

Rivette, glaube ich, hat gesagt, einen Film kann man nur mit einem anderen Film kritisieren. Vielleicht muss dazu nicht unbedingt ein neuer Film gedreht werden. Was ist mit der Gegenüberstellung zweier Zeitgenossen, DIE ROTE WÜSTE und DIE VERACHTUNG? Beide haben offensichtliche Parallelen aber einen gänzlich unterschiedenen Blick auf die Welt. ......................................................................................... BOWLING AM TIBER besteht aus einer Sammlung von Drehbuchskizzen, die Antonioni bis zur Veröffentlichung des Buches nicht weiter bearbeitet hatte. Einige dieser Entwürfe sind dann in den Film JENSEITS DER WOLKEN eingegangen.




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