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Montag, 10. März 2003
Einige Reflexionen über Film, Totenkult und Terror Stalin – eine Mosfilmproduktion Dokumentarfilm von Oksana Bulgakova, Frieda Grafe und Enno Patalas WDR 1992 Wiedergesendet in WDR III am 7. März 2003 Eine Einstellung in diesem Dokumentarfilm hat mich sehr elektrisiert: Während der Konferenz von Jalta Anfang 1945, wo sich Stalin mit Roosevelt und Churchill über eine Nachkriegsordnung beriet, hat sich ein russischer Kameramann im Garten der Villa versteckt und kann nun Stalin filmen, der in einer Pause allein mit seinen Gefolgsleuten dorthin kommt und ein Blatt von den Lorbeerbäumen abbricht. Das Bild zeigt Stalin, wie er das trockene Blatt mit den Fingern zerreibt und sehr ausgiebig daran riecht. Freudig erregt schreitet er dann in Richtung auf das Versteck des Kameramannes, entdeckt ihn und lacht. Vor vielen, vielen Jahren bin ich einmal dem Lorbeer auf eine andere Weise begegnet. Ich wollte unbedingt das Grab von Stefan George in Minusio bei Locarno besuchen und erschrak, als ich die sieben Lorbeerbäume sah, die um das Grab in Kübeln und wie Bonsais herum gruppiert standen. Damals schon kannte ich ein wenig die Geschichten von Daphne, die Ovid und andere erzählen: Daphne, eine Priesterin der Mutter Erde, konnte sich vor den Nachstellungen Apollos nur retten, indem sie sich liebesunfähig machte und in einen Lorbeerbaum verwandelte. Daraus windet sich Apollo dann seinen Kranz. Lorbeer ist seit Urzeiten das Zeichen eines mächtigen Totenkultes, der alles Lebendige und alle Lebenden zur Erstarrung bringt. Am Anfang dieses 5-teiligen Dokumentarfilms sieht man russische Menschen, die in Massen am aufgebahrten Lenin in seinem Sarg vorbeidefilieren. Am Ende dieses Films sieht man russische Menschen, die in Massen am aufgebahrten Stalin in seinem Sarg vorbeidefilieren. Der Film zeigt wie Stalin, der über Leichen ging und nur über Leichen, sich ein Bild seiner Person entwirft, das vor dem Hintergrund der Legende des toten Lenin entsteht. Seine Tyrannei entwickelt sich im Schatten und vor dem Hintergrund des Lenin-Mausoleums. Am Ende des Filmes sieht man das Lenin-Mausoleum, wie junge russische Soldaten Anfang der 90er Jahre daran vorbeigehen, als seien sie kaum noch von dieser Geschichte berührt. Zeugen, Kameramänner, Filmschaffende, Filmproduzenten aber auch Filmhistoriker wie Naum Klejman, der Eisenstein-Spezialist, erzählen, was sich hinter den Kulissen dieser Totenkult-Inszenierungen abspielte. Sie erzählen, wie Stalin alle Mittel des Films für eine Inszenierung seiner Gestalt, seiner Geschichte, seiner Politik nutzte. Einmal heißt es beinahe lapidar von einem Zeugen: es seien wohl nur die Orchestermitglieder und die Ballerinen des Bolschoi-Theaters und die Filmschaffenden gewesen, die Stalin von seinen Verfolgungen ausnahm. Erschreckend für mich auch diese Einsicht nach dem Sehen des Films: die wirklichen Erkenntnis über die Ausmaße des Stalin-Terrors werden erzählt von russischen Filmveteranen, die in einem Altersheim für Filmschaffende vor den Toren von Moskau leben, und von Museumsleuten, die professionell mit der Aufarbeitung der Vergangenheit des russischen Films beschäftigt sind. Erschreckend die Einsicht, dass erst im Nachhinein, in großem Abstand von dem eigentlichen Geschehen, deutlich werden kann, was sich wirklich abspielte und dem Tod im Leben der Menschen eine solche mächtige Maskerade verlieh. Eine Maskerade des Todes auch deshalb, weil nach dem Tod Stalins seine Nachfolger ebenso so schnell darangingen, die Spuren seines Auftretens in den filmischen Dokumenten zu löschen und zu retuschieren. Bis in die Details erzählt der Film, wie Stalin der Drehbuchautor seiner Herrschaft mit ihren Kriegen und Schlachten wurde, wie er z. B. einen Schauspieler, der in Aussehen und selbst mit georgischem Akzent ihm sehr ähnlich war, und mit ihm oft verwechselt wurde, ersetzen lässt durch ein anderen Typus, der keinerlei Ähnlichkeit mit ihm aufweist, dafür aber den Typus des Feldherrn und Schlachtenlenkers viel besser trifft. Stalin, der sich als eine Art Gott der Geschichte und in der Geschichte verstanden, konnte dies auf eine heute so deutlich sichtbare und nachvollziehbare Weise nur tun, weil er sich selbst aller Mittel bediente, die es erlaubten, die Darstellung seiner eigenen Person, ihrer Ausstrahlung und Wirkung, vor allen Dingen letzterer, selbst zu kontrollieren. Alle Drehbücher der russischen Filmproduktion gingen über seinen Schreibtisch und wurden von ihm buchstäblich auf Punkt und Komma überprüft. Einige Male macht der Film deutlich, wie sehr sich Sergei Eisenstein dem Einfluss Stalins zu entziehen versuchte, wie aber sehr schnell andere Regisseure um so bereitwilliger an seine Stelle traten und die genauen Vorgaben der Inszenierung erfüllten. Dieser Dokumentarfilm leistet etwas Besonderes, was das Gros der zeitgenössischen Dokumentarfilme durch Besserwisserei, Effekthascherei und somit Vordergründigkeit verhindert. Seine Bilder, Gespräche und Kommentare stecken voller Anspielungen und Überraschungen. Sie lassen etwas anklingen, ohne darauf zu insistieren. Sie lassen jede Aussage, jedes Detail, jede Einstellung zu ihrem Recht kommen. Vor allen Dingen spielen sie die Bilder, die sie zeigen, und die Zeugen, die sie zu Wort kommen lassen, niemals gegeneinander aus, und sie verleihen so den Bildern und Worten in ihrer Vielstimmigkeit eine einzigartige Zeugniskraft zurück. - Allein solche filmischen Zeugnisse helfen gegen die Erstarrungen von Totenkult und Terror, gegen das Vergessen. Manfred Bauschulte filmkritik, 10. März 2003 um 22:15:52 MEZ
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