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Das Licht des Nordens


(Maurice Pialat: A nos amours ) Von Jörg Becker

Bunt, unbestimmt und müßig zeigt sich in den ersten Bildern das Leben zur Ferienzeit. Die Sonne sticht auf das helle, leuchtende Deck einer Yacht, an deren Bugspitze ein Mädchen sich gegen die Reling lehnt; eine Rückenansicht, sein Haar und Kleid flattern im Wind.

Voraus zum weiten, vagen Horizont blickt das Mädchen Suzanne, gleichsam eine Galionsfigur über den Wellen, die die Launen des Meeres beschwichtigt - ein mächtiges emblematisches Motiv. In den grellbunt gefärbten Figurenschnitzereien fanden sich früher die Individualität eines Schiffes, einer Besatzung, einer ganzen Küstenbevölkerung sinnbildlich dargestellt. Wenn sich Suzanne am Schluß der Einstellung umwendet, werden gleich im nächsten Bild die Blicke dreier Männer, die hinter ihr stehen, einer am Steuer des Schiffes, auf ihr ruhen.

Das Verhältnis zwischen Suzanne und dem jungen Luc wird eingeführt. Man sieht sie, wie sie am Tag zu ihm geht - sie überquert eine Landstraße und steigt die Böschung hinab, wo er im Grünen sein Zelt aufgebaut hat. Je stärker Luc bei ihrer Begegnung seinem Verlangen nach Suzanne Ausdruck gibt, desto mehr entzieht sie sich seinen Berührungen. Ihre Ausflüchte, sein ahnendes, bitteres Mißtrauen, dem sie, es zu zerstreuen, zu entgegnen sucht - in dieser Szene ist ihre Ablösung von ihm vorgezeichnet, sie ist entschieden. Im roten Abendlicht am Rande der Autoroute trennen sie sich voneinander. An dieser Stelle entsteht in der Komposition des Landschafthintergrunds und in der Tönung, dem besonderen Tageslicht, ein für den Film außergewöhnliches Bild: unter ruhigem, gesättigtem Sommerhimmel, in tiefer Sonnenwärme des späten Tages gleitet die graue Fahrbahn in einer Windung aus dem Blick, verschwindet in einem Streifen von dunklem Piniengrün geschwungener Waldhügel; gegen die sinkende Sonne, der ferne Höhenzug in rauchig verwaschenem Blau, geht Suzanne an der Straße entlang. Es ist der Abschied von dem Freund, ihrer ersten Liebe, in dem der Abschied von einer Zeit sichtbar wird.

Suzanne in den Kulissen des Hafens; Lokale, Bars, in denen sie von Matrosen umgeben ist, die sich für sie interessieren. Die jungen Seeleute stecken adrett wie Musical-Akteure in ihrer weißen Leinenkluft. Einmal sieht man das Bild eines Marinebootes im nächtlichen Hafen, dann, nach einem Schwenk, am Kai unter Lampions ein Tanzfest, am dem auch Suzanne teilnimmt.

Es kommt zu einer kurzen Begegnung zwischen ihr und einem Amerikaner. In einer Diskothek spricht er sie an. Nach ihrem Beischlaf abseits vom Weg im Unterholz bedankt sich der Mann mit einem beiläufigen -- und was sie ihm daraufhin in einem verblüffen selbstverständlichen Ton erwidert: <y a pas de quoi, c’est gratuit>, es entfährt ihr, ohne daß sie sich der Bedeutung dieses Vokabulars wirklich bewußt sein kann; die Entgegnung erscheint wie abgeschaut, als spielte sie etwas, das sie noch nicht ist. Eine Prophezeiung in wenigen Worten.

Nachts klettert sie über die Mauern der Ferienherberge. Im Schlafraum entkleidet sie sich leise auf ihrem Bett. Die scheinbar schlafenden Freundinnen schauen schon gespannt von der Seite herüber.

In den kurzen Szenen und skizzenhaften Begebenheiten des Ferienaufenthalts ist ein Entwurf zu dem Bild des Mädchens enthalten aus einem Stadium, in dem es durch Männergeschichten in der vertrackten Erfahrungswelt der Affären rundum bestimmt zu werden beginnt. Eine Weichenstellung. Ein Erkennen teilt sich mit: daß auf der schiefen Ebene zwischen kurzer Befriedigung und unbestimmter Sehnsucht zumindest bei einem von zweien sich etwas unwiderruflich verliert vor den trüben Spiegeln der Selbstbestätigung durch einen anderen.

Der Abschnitt am Mittelmeer zu Beginn ist wie ein eigener Film, der wie eine schwache, hindurchscheinende Kontur im weiteren gegenwärtig bleibt. Nun findet man sich auf einmal in der Umgebung städtischen Familienlebens, in der Atelierwohnung eines Kürschners, des Vaters von Suzanne. Das Licht hat sich verändert. (Nach Pierre Bonnard ist das Licht des Nordens, das sich ständig verändert, interessanter als das Licht des Südens - der Maler wird in dem Film von dem Mädchen besonders geschätzt; sie liebt seine Sinnlichkeit.)

Der Film folgt Suzanne, wie sie sich zwischen ihrer Familie, den Eltern und dem Bruder, und ihrer Clique bewegt, wie sie sich für den Abend mit Jungen aus dem lockeren Freundeskreis verabredet, mit denen sie schläft. In den Straßen auf der Suche nach einem Zimmer; ihr Liebhaber geht in ein Hotel und erkundigt sich, während Suzanne draußen wartet. Dann schneidet der Film in ein atemloses, erhitztes après hinein; die zwei Körper erschöpft aneinanderliegend; ein sexueller jour fixe, dem neben der Freiheit, die er bedeutet, auch eine Beliebigkeit anhaftet. Wie von sportlicher Kollegialität, das ausgelassen triumphierende Lachen.

Es liegt ein Drang zu vergessen in diesem Nehmen, Erbeuten, eine Selbstvergessenheit und ein Vergessen von allem, eine Auflösung in auswegloser Wiederholung.

Als Suzanne in der Nacht heimkommt, ist der Vater, mit dem es vorher eine heftige Auseinandersetzung um ihr Aussehen gegeben hatte, noch auf. Er spricht ruhig, fast versöhnlich; er täuscht sich nicht über ihre Lebensweise, ihren Umgang. Träumerisch erinnert er sich der Kindheit seiner Tochter, eines früheren Glücks, das er jetzt nicht mehr an ihr wahrnimmt. Die Lebensauffassung des Vaters hat nur in seiner Vorstellungswelt, nicht mehr in der Familie, die um ihn ist, überlebt. Im Laufe des Gesprächs traut er Suzanne an, daß er die Familie verlassen wird. Am Morgen eröffnet der Bruder seiner Mutter, der Vater sei fort. Sie steht versteinert im Raum. Nichts wird mehr sein wie früher.

Es gibt das Bild eines lakonischen, exklusiven Zusammenhalts, ja einer Spur von innerer Komplizenschaft zwischen Vater und Tochter - aus dem selben Stoff, so heißt es gemeinhin. Gerade deshalb sieht er an dem erwachsen werdenen Mädchen, in dessen Haltung und gleichsam durch es hindurch die eigenen Maximen zuschanden werden, begreift möglicherweise den Verfall der ihm gültigen, zu bewahrenden Ethik. Etwas ist abgeschlossen; nichts wird hier mehr berühren. So ist die resignative Toleranz des Vaters zu verstehen, als er Suzanne am Ende zum Flughafen begleitet, immer werde sie mit seiner Hilfe rechnen können. Suzanne fliegt mit einem Freund nach San Diego. Ihr Vater, als er im Autobus zurückfährt, ist wie gezeichnet von einer schweren Krankheit. Zuletzt zeigt ein Bild den Blick in die Dunkelheit eines Tunnels, in die der Bus eingetaucht ist.

Die beiden Personen ähneln einander im Charakter und in ihren Konsequenzen, und der Geist ihrer Geschichte ist der eines unweigerlichen Zerfalls, im Zeichen eines intimen und zugleich allgemeinen Sturzes.

Nach dem Fortgang des Vaters kommt es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, sobald Suzanne einmal nach Hause zurückkehrt. Ihre Mutter verfällt in hysterische Ausbrüche, der ältere Bruder beschimpft seine Schwester und schlägt auf sie ein. In Szenen blindwütigen Hasses offenbart die Seite der Bitterkeit in dieser Geschichte dramatisch ihre Verzweiflung; wie zurückgebliebene Versprengte warten Mutter und Sohn, die Betrogenen, in der großen Wohnung auf Suzanne. Für die Mutter ist das Mädchen längst zur Hure geworden, sie macht es für das familiäre Elend verantwortlich; einmal nennt sie es ein Monstrum.

Suzanne ist das Mädchen, das inmitten der gleichaltrigen Schulfreunde bereits auf den ersten Blick auffällt, eine dominierende Gestalt. Man ahnt, was physische Präsenz heißen mag, angesichts ihrer noch wenig sublimen, herausfordernden Körperlichkeit.

In den Zügen von Suzanne - sie sitzt im Regen auf der Bank einer Bushaltestelle - gibt sich in wenigen Einstellungen ein Anflug von tiefer Melancholie zu erkennen, darin eine Trennung von Handeln und Gefühl in ihr zum Ausdruck kommt. Das Bild von Suzanne, eins mit sich in Momenten der Lust wie in denen des häuslichen Schreckens, schlägt um in eines der Verlassenheit. Eine Rückkehr zu Luc, der sich nach einer Begegnung in der Stadt wegen einer ihrer Affären verletzt zurückgezogen hatte, ist für sie unmöglich geworden; als sie einander einmal in einer Boutique wiederbegegnen, spürt man, daß er, seine Liebe zu ihr, durch die bloße Anwesenheit Suzannes gedemütigt wird, in diesem Augenblick haßt er sie dafür.

Die Variation einer Geschichte, wie sie in A bout du souffle von Michel erzählt wird: Ein Mädchen, das mit tout le monde geschlafen hat, weist den, der es wirklich liebt, eben aus dem Grund ab, weil es sich mit so vielen Männern eingelassen hat.

Nichts vermag ein Versprechen für das Kommende zu bedeuten; es gibt nur eine insgeheime Sehnsucht Suzannes nach dem verlorenen Moment des Glücks. Als Luc ihr vergeblich seine Liebe gesteht, entsinnt sie sich einer Situation, mit ihm, die ihr im selben Augenblick mit Gewißheit vor Augen geführt hat, daß sie niemals werde noch einmal so glücklich sein können.

Man drängt Suzanne zur Heirat mit dem derzeitigen Freund, einem jungen Mann, der gutbürgerlichen Kreisen angehört und der sich seinerseits um Suzanne bemüht hat. In einer langen Szene gegen Ende sieht man eine Feier, auf der die Partner Suzannes und des Bruders anwesend sind, daneben einige Freunde und, im Gespräch exponiert, der Schwager des Bruders, der das Modell des modernen Kulturbourgeois abgibt. Die Plauderei bei Tisch vermittelt eine Art leichthin überheblicher Konversation in Dingen der Kunst, die sich von keinem Gegenstand zu lösen vermag, ohne nicht ein je persönliches und möglichst eigenwilliges Etikett an ihm hinterlassen zu haben.

In ihrer Bedeutung für die Geschichte des Films und durch ihre besondere Gestaltung hebt sich eine Szene aus dem Geschehen hervor: das nächtliche Gespräch zwischen Vater und Tochter, in dem er sein Fortgehen ankündigt (eine lange Sequenz aus dieser Szene zeigt ausschließlich die Personen in sehr nahen Einstellungen). Anfangs von einer leichten Vergangenheit, treten sie allmählich aus ihrer Rolle heraus, aus der von Vater und Tochter, und möglicherweise zugleich, so erweckt es den Eindruck (da der Darsteller des Vaters auch die Regie des Films geführt hat), aus ihren Funktionen als Regisseur und Protagonistin; in dieser Betrachtung erklärt sich womöglich der Charakter des Improvisierten, den diese Szene besitzt.

Die unverdeckte Beziehungslosigkeit vor Augen, vermag er sich als Vater nicht mehr hervorzuspielen. In dem Bewußtsein, daß der Einfluß auf seine Tochter für immer verloren ist, findet er sich in der Lage, ihr gelassen zu begegnen. In der Gewißheit, daß sich ihre Sphären unumkehrbar voneinander fortbewegt haben, ist der Grund angelegt für die stupende Nähe zwischen den beiden Personen, die wie entlastet wirken, von schwerer Bürde befreit. An ihnen erscheint die Nähe wie eine Rückkehr zu einer nackten, ungebundenen Begegnung, die es nie zuvor hätte geben können.

Mutter und Bruder stehen noch im Bann eines zwanghaften Zusammenhangs; der Terror verbindet sie. Die Personen des Vaters, der Tochter hingegen, die jegliche Gekränktheit und Eifersucht zurückgelassen haben, sie befinden sich in ihrer resignierten Nähe zueinander wie beiderseits eines klaffenden Abgrunds, dünnere Luft umgibt sie. Eine heillose Nähe wohl, die auf dem endgültigen Riß gründet. In ihr, da keine Hoffnung mehr ist, tritt die Wahrheit dieses Films zutage.

Aus: Filmkritik Nr. 327-328 * 28. Jahrgang, Heft 3-4/1984 * S.107-111




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Offenes Geheimnis


Zu den Filmen von Maurice Pialat von Bert Rebhandl

Blue transcends the solemn geography of human limits (Derek Jarman)

  1. Warten Als Pialats Film Le garcu in Frankreich der Öffentlichkeit präsentiert wurde, brachten die Cahiers du Cinéma zu einem Interview ein Photo, das den Regisseur und seinen Hauptdarsteller Gérard Depardieu auf einer Stiege sitzend zeigt, den Schauspieler gedankenverloren ins Leere starrend, während eine Hand am Revers der Jacke herumnestelt. Zu seinen Füßen sitzt Pialat, er blickt mit verschlossener Miene ebenso eher nach innen als auf einen Gegenstand. Es ist eine Haltung, die von Erschöpfung zeugt, mehr noch von zweifelndem Innehalten, und Regisseur und Schauspieler sind einander fremd, vereint nur in ihrem Blick auf ein imaginäres Sujet, von dem wir nichts wissen, das wir allenfalls ahnen können: Es ist vielleicht der Film, wie sie ihn sich vorstellen. "The readyness is all", heißt es in Hamlet, und wie sehr gilt dieser Satz erst für Pialat, der beim Filmemachen nicht von Improvisation sprechen will, sondern von "Spontaneität", die oft das Wichtigste in einem Moment zu fassen scheint, da es gerade im Begriff ist, sich wieder zu verbergen. Die Liebesszenen mit Sandrine Bonnaire in A nos amours beginnen meist gerade in dem Moment, da die Lust ausklingt, die Erschöpfung aber noch anhält. Kein anderer Regisseur in Frankreich macht die Mühsal dessen so sichtbar, was Foucault einmal "parrhésia" genannt hat, "Freimut". Bei Pialat ist sie eine Errungenschaft des erzählenden Kinos überhaupt, abgetrotzt dem Widerstand der Schauspieler gegen ihre Rollen. (Nicht Regieanweisungen seien wichtig, sagt Pialat, sondern Sympathie oder Antipathie.) Freimut verbirgt sich fast in einer Montage der Ellipsen. Psychologische Zeit, die immer Kontinuitäten konstruiert, löst sich auf in privilegierte Augenblicke der Wahrheit – und häufiger in solche des Ennui. Die Erzählung der Stiefeltern von ihrer späten Liebe in L’enfance nue, die dem Adoptivsohn Francois erstmals Vertrauen einflößt (was Pialat damals noch mit einer Großaufnahme des Jungen bedachte, einem Mittel, das er heute kaum mehr so deutlich positiv konnotiert einsetzen würde); oder der Augenblick, da den Eltern in Passe ton bac d’abord ihre Schulabschlußprüfung einfällt (die sie mit einer Arbeit über Colette überraschend gut bestanden haben) und darüber ihre Liebe zueinander. Das Warten auf Augenblicke wie diesen ist die Arbeit des Kinos von Pialat.

  2. Genealogie Zwei Seiten weiter in Cahiers du Cinéma findet sich ein zweites dieser rätselhaft verdichteten Photos, die zu Le garcu wie ein Metatext wirken. Im Vordergrund auf einem Sofa spielt Pialat herzlich mit dem kleinen Antoine, seinem Sohn, der vielleicht vier Jahre alt ist. Antoine ist einer der Hauptdarsteller in Le garcu. Im Hintergrund sitzt Depardieu, im Film der Vater des Kleinen, auf einem Sessel, die Augen geschlossen, mit der rechten Hand streicht er versonnen über das Kinn. Es ist ein kontemplativer Moment, in dem drei Generationen zusammenkommen, und die Genealogie ist eine unreine, ausgespannt zwischen der Wirklichkeit des Films und der Wirklichkeit, die das Photo dokumentiert: Der Vater und der Sohn erschaffen sich in Le garcu Gérard Depardieu als einen Ersatzvater, wie um die unmittelbare Abfolge der Generationen aufzubrechen und ihrer Konflikthaftigkeit auszuweichen. In A nos amours spielt Pialat selbst einen Vater, und Sandrine Bonnaire die Tochter. Während eines in auffälligen Großaufnahmen gefilmten Gesprächs zwischen den beiden könnte man einen Moment lang auch meinen, er muß die Familie verlassen, weil er seiner Tochter zu nahe ist. In Le garcu bricht der Vater einmal mit Macht in das Leben des kleinen Sohns ein, als Depardieu mit einem lächerlich großen Spielzeug mitten in der Nacht in die Wohnung poltert, aus der er ausgezogen ist. Umgekehrt begreift er am Sterbebett seines Vaters seine eigene, vergessene Herkunft. Pialat beobachtet häufig jugendliche Helden vor der Generationenablöse, bei ziellosem und nichtsnutzigem Zeitvertreib. Dieses Verhalten wirkt, als gelte es für die Protagonisten, Zeit zu überbrücken, bis sich die Gesellschaft ihnen nicht mehr versagt, sie nicht mehr als Versager zurückweist. Zugleich scheinen sie zu ahnen, was ihnen die Väter und die Institutionen bringen werden: Unterwerfung und Disziplin. Pialat hat als Filmemacher übrigens keine Väter und keine Söhne. Allenfalls eine Tochter, die Schauspielerin Sandrine Bonnaire, die er für A nos amours entdeckt hat, und die mittlerweile den Weg der Disziplin sehr weit gegangen ist. Aber fügen sich die Filme Pialats seiner väterlichen Disziplin?

Macht Viele seiner Filme handeln von den Institutionen, durch die die Gesellschaft ihre Macht über die Individuen ausübt: das Sozialamt (L’enfance nue), die Schule (Passe ton bac d’abord), die Arbeit (Loulou), die Polizei (Police), die Kirche (Sous le soleil de Satan), der Kunstmarkt und die Medizin (Van Gogh), und in all diesen Filmen immer wieder die Ehe/Familie. Das Dilemma ist für die Protagonisten kaum lösbar: Wenn man erwachsen werden will, kann man sich der Bewegung in diese Institutionen hinein nicht entziehen, es sei denn um den Preis der Delinquenz. Umgekehrt deformiert die Institution ihre Träger, und es geht das verloren, wonach die Filme von Pialat suchen – Spontaneität, oder eben: Freimut. Es scheint, als wollte Pialat verschiedene Optionen in diesem Konflikt an dem Schauspieler Gérard Depardieu ausprobieren. Der inhaltsleere Vitalismus des Kleinkriminellen Loulou und der Professionalismus in Police verhalten sich zu einander wie zwei Aspekte einer Persönlichkeit, die auch in der Überwindung dieser Spaltung nicht "zu sich" finden würde. Der priesterliche Gehorsam als radikale Unterwerfung unter ein Prinzip stellt einen paradoxen Ausweg aus dieser hoffnungslosen Freiheit dar. Die möglichen Gegenentwürfe verbindet Pialat häufig mit klassenspezifischen Zeichen: kleinbürgerliche, eher noch proletarische Milieus lassen bei ihren Festen (Hochzeiten!) erahnen, was vielleicht möglich wäre, trotz Fron und Staublunge, trotz Arbeitslosigkeit und unwirtlicher Behausungen.

Psychologie Wenn die Genealogie unrein wird, wächst der Raum der Freiheit. Zweimal reagieren die Stiefeltern in L’enfance nue ausdrücklich nicht "wie Gendarmen" (so die Formulierung der Stiefmutter), zweimal unterbleiben Sanktionen, die man hätte erwarten können. Es ist dies nicht die geringfügigste Unterbrechung eines Systems von Ursache und Wirkung, von Überwachen und Strafen. Kein Naturalismus setzt sich durch, kein Reflex wird ausgelöst, sondern eine unvermutete Geste ermöglicht einen Ausweg hin zu so etwas wie einem Humanismus, wie Pialat ihn meinen könnte, nämlich einer Natürlichkeit, einer Unverbildetheit, Unbehauenheit der Person, einer Kultur ohne jene spezifisch bürgerliche Kultiviertheit, die bereits wieder ein Korsett bedeutet und für die der kunstsinnige Dr. Gachet in Van Gogh die markanteste Verkörperung ist. Pialat ist kein Verfechter der Psychologie. Aber er läßt, anders als Godard oder Bresson, die Arbeit der erzählerischen Dekonstruktion des Identitätskinos gleichsam sich selbst erledigen. Geläufige Verkettungen funktionieren bei ihm nicht einmal mehr als deren Umkehrungen oder Entstellungen. Eher könnte man meinen, er vertraue die Filme seinen Darstellern an, deren Physis, nicht Psychologie, sie prägt.

Ankommen Am Ende von Van Gogh spricht die junge Marguerite dem toten Maler einen Satz nach. "Er war mein Freund." Jetzt, da er abwesend ist, muß er dieses emphatische Bekenntnis zulassen, das zugleich eine Aneignung ist. Zuvor hatte er es durch sein Auftreten abgewehrt, widersprüchlich, nicht ausrechenbar, zurückgezogen hinter seine immerwährend in einer Art Anspannung halb zugekniffenen Augenlider. Es ist nicht ganz ohne Interesse, daß früh in diesem Film eine Untersuchung an Van Gogh vorgenommen wird. Dr. Gachet, Bürger, Arzt, Kunstsammler, in den Augen seiner Tochter ein "Konformist", horcht in den Patienten hinein; er kann nicht viel mit ihm anfangen, weil er keine Instrumente dabei hat. Dann überprüft er noch den Reflex, er funktioniert – eine leere Funktion. Der Körper gibt sein Geheimnis, die Seele, nicht preis. Aber im Kopf des Malers sitzt der Schmerz. Es ist die Tragik des Vincent van Gogh, wie Jacques Dutronc in spielt, daß ihm der Körper ein Gefängnis ist, aus dem er nicht freikommt, außer im Tod und in seiner Kunst. Zugleich aber erzählt der Film eine Geschichte von einem anderen toten Körper gleich zweimal, es ist die Leiche eine gefallenen Revolutionärs im Paris des Jahres 1870. Dem klinischen Blick des Dr. Gachet bricht in diesem Moment nur ein medizinisches Weltbild zusammen, für die Mutter des Toten hingegen eine Welt. Pialats Kino arbeitet dagegen an, daß der Körper erst im Tod erkannt wird. Er mutet dem Körper eine Wahrheitsarbeit zu und verschweigt nicht, daß er viel häufiger zum Ort der Züchtigung und des entfremdeten Begehrens wird. Er versucht, die Schauspieler, ob Laien oder Stars, aus der Erstarrung zu holen. Was im Leben möglich ist und was nicht, das ist bei Pialat ein offenes Geheimnis, offen wie eine Wunde und das Meer. (1996)




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