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Freitag, 15. Oktober 2004

JOHN FORDS Horizont


Von Manfred Bauschulte & Michael Girke

John Ford steht da als Monument des Kinos und ist doch zugleich ein großer Unbekannter. Er ist Hollywoods erfolgreichster Regisseur, vier Oscars für Regie erhielt er selbst, unzählige weitere Oscars und Nominierungen seine Filme. Er brachte Leinwandikonen hervor wie John Wayne, der Western wird auf ewig mit seinem Namen verbunden bleiben und ganze Bücher ließen sich füllen mit der Aufzählung all der Regisseure, die Ford bis heute ehrerweisend zitieren, ihn beklauen, kommentieren oder überbieten wollen. Aber wer wüsste schon, dass Ford Filme machte seit 1917, dass seine Karriere also beinahe die ganze Filmgeschichte umfasst, oder, dass er über sich selbst sagt, nicht seine Western sind wirklich gut, sondern seine billigen kleinen Filme ohne Stars über einfache Leute? Fords Unbekanntheit begann offenbar schon zu Lebzeiten (er starb 1973). 1965 drehte er "7 Women“, seinen beinahe ausschließlich mit Frauen besetzten letzten Film, der in den von Veränderungsgeist bewegten 60ern heftig ignoriert wurde. Als Manfred Bauschulte und ich uns Anfang des Jahres aufmachten, "7 Women“ anzusehen und zu würdigen, begann ein Abenteuer. Dank der Unterstützung von Klaus Volkmer, ergab sich ein intensiver und regelmäßiger schriftlicher Austausch mit Tag Gallagher, dessen "John Ford – The Man & His Films“ eines der besten Filmbücher überhaupt ist. Gallagher schickte Videos, dank deren wir Filme wie "The Sun Shines Bright“, "Battle Of Midway“, "Wagonmaster“ im Original und ungekürzt sehen konnten, was zu Einsichten verhalf, von denen wir vorher nicht einmal etwas ahnten. Immer mehr verdichtete sich der Eindruck: Trotz einiger sehr verdienstvoller Arbeiten, wie der Hartmut Bitomskys in der FILMKRITIK, ist Ford im deutschen Sprachraum nie wirklich angekommen. Um so aufregender ist es, dass Danielle Huillet und Jean Marie Straub den Anstoß gaben zu einer Ford-Retrospektive bei der diesjährigen Viennale. Warum diese umfassende, zeitraubende Beschäftigung mit einem Regisseur, der lange tot ist? Vielleicht muss man jeder Kinogeneration das Recht zugestehen, Vorgänger geflissentlich zu übersehen oder von ihnen gelangweilt zu sein. Gerade an John Ford aber lässt sich zeigen, wie fragwürdig eine Kinologik ist, die das jeweils Neueste auch für den höchsten Stand der Entwicklung hält. Filmgeschichte verläuft zugleich vorwärts und rückwärts. Holt man Kinomonumente wie Ford von ihren Sockeln und erlöst sie aus kanonischer Erstarrung, so lassen sich beim Betrachten alter Filme eben nicht nur "Meisterwerke“ oder vergangene Welten und ihre Probleme entdecken, sondern, es wird auch möglich, die Gegenwart mit anderen Augen zu erfassen. Und nur einer der Effekte dabei ist, dass manche Anmaßung und Ignoranz des heute selbstverständlichen und gültigen (Film-)Denkens sichtbar wird. Wir hoffen, unser Gespräch zu "7 Women“, kann ein wenig dazu beitragen, zwei Brücken zu bauen; eine für das heutige Publikum zu Ford und erst recht eine Brücke für John Ford in die Gegenwart.

*

Michael Girke: John Fords letzter Film. “7 Women”, gedreht 1965. Schauplatz ist eine christliche Missionsstation in China in den 30er Jahren. Der Titel zeigt es an, diese Station ist beinahe ausschließlich mit Frauen besetzt. Der Film gehört vielleicht in eine Reihe mit George Cukors „The Women“ und Joseph Mankiewiczs „The Ghost & Mrs. Muir; reine Frauenfilme, die es aber nie wirklich zum Genre brachten. Die Handlung: Die Missionsstation erwartet dringend einen Arzt. Eintrifft aber eine Ärztin; Dr. Cartwright (gespielt von Anne Bancroft). Cholera bricht aus, ein Kind wird geboren und schließlich besetzt Tunga Khans Mongolenhorde die Station. Dr. Cartwright bietet Khan an, seine Geliebte zu werden, wenn dieser die anderen in die Freiheit entlässt. Als die Missionare abgezogen sind, bringt Cartwright Thunga Khan und sich mit Gift um. Wichtig zu erwähnen: Während der Herstellung dieses Films ist der Vietnamkrieg voll im Gange. Wie bist Du auf „7 Women“ aufmerksam geworden?

Manfred Bauschulte: Nicht, weil ich den gesehen hätte. Ich bin auf einen Filmtipp von Frieda Grafe gestoßen. Irgendwann Ende 78 schreibt sie: „Ford-Retrospektive im Filmmuseum. ‚7 Women’, sein letzter Film, den niemand sehen wollte, als er 1965 im Malteser lief. Flammend bemalte MGM Dekors. 6 Missionarinnen verteidigen an der Grenze zur Mongolei ihre Unschuld gegen eine Horde von Supermännern. Gerettet werden sie von einer Ärztin, die ihre Erfahrung mit amerikanischen Männern an dieses Weltende gerieben hat. Auf einen Mongolen mehr kommt es ihr auch nicht an. Die Frauen spielen wie Transvestiten die Rollen, die Ford sonst mit Männern besetzte. Eine wirklich behutsame Weise Weiblichkeit sich selbst darstellen zu lassen. Auch in ‚The Quiet Man’ geht es hautsächlich um Sexualität. Ein seltenes Ford Thema.“

MG: Warum aber war da sofort diese Erwartung des Wichtigen bei Dir? Weil Du Ford-Fan bist und die Neugier des Sammlers befriedigt werden wollte?

MB: Ich hatte mich 15 bis 20 Jahre nicht mehr mit Ford beschäftigt. Aber dann gab es die Bilder aus Abu Ghraib und dazu liefen völlig naive und idiotische Debatten. Als ich Grafes Filmtipp las, dachte ich, hier ist ja die ganze Problematik drin, aber mehrfach verdreht. Im Zentrum stand bei mir die Frage nach dem Verdrängten der gegenwärtigen Problematik: Mongolen bei Ford, heute eben Araber, Al Kaida-Leute...dann „Weiblichkeit“ im Verhältnis zu „Horde von Supermännern“, wie Fords Film das alles in Szene setzt.

MG: „7 Women“, das sind Amerikaner auf Mission im Ausland. Was zunächst ins Auge fällt: Der Film spielt ausschließlich in der Missionsstation. Es ist ein Kulissenfilm, hochartifiziell, wie ein Musical, mit den dafür typischen extra-unnatürlichen Farben. Im Gegensatz zu allen mir bekannten Ford Filmen, außer „Der Mann der Liberty Valance erschoss“, gibt es hier keine offenen Horizonte, sondern ausschließlich Innenräume. Fast ein Theaterfilm, der aber auf engstem Raum in die Ford-Welt sich einfügt. Wie das geschieht, ist faszinierend. Dann: Die Mongolen sehen samt und sonders nicht aus wie Mongolen; keiner ist unter zwei Meter. Sie sind nicht als Mongolen wichtig, es sind Comic-Charaktere, reine Barbaren. Ford war nie Rassist. Die Handlung ist konzentriert auf die Verhältnisse zwischen den Missionarinnen.

MB: Vielleicht noch zwei Stränge, die mich zu diesem Film geführt haben. Einerseits die aktuellen Vorgänge und Debatten. Wie sich aktuell mit Amerika beschäftigt wird, die Bilder, die aus Amerika kommen, die Haltungen von Amerikanern, all das hat mich neugierig gemacht. Dann eben das Ford-Spezifische: Sein letzter Film - in Anführungszeichen oder Fragezeichen. Kurz vorher hatte ich mich ja beschäftigt mit dem letzten Film von Carl Theodor Dreyer, „Gertrud“, auch ein Frauenfilm. Die Frage ist: Ist „7 Women“ ein typischer Frauenfilm und was ist das überhaupt? Aspekte, die noch gar nichts mit dem Sehen von „7 Women“ zu tun hatten.

MG: Spannend finde ich vor allem zwei Aspekte: Wie in diesem Film alle John Ford Filme zusammenlaufen, alle Bilder, Figurenzeichnungen, Probleme, Handlungsverläufe Fortsetzungen finden. Und: „7 Women“ entwirft ein Zivilisationsmodell. Dies ernstnehmen und diskutieren, bedeutet Filme wahrzunehmen auf eine Art, die heute aus bemerkenswerten und symptomatischen Gründen ausgeblendet wird.

MB: Dieses Zivilisationsmodell kommt offensichtlich ganz anders daher als die vielen Ford Filme, die im offenen Gelände gedreht sind. Anders als Monument Valley. Dies offene Gelände, Amerika, ist hier gar nicht mehr existent; es ist ein geschlossener Raum. Das Fordsche Territory ist nur noch eine Mischung aus Fort und Missionsschule. Und das Erstaunliche: An die Stelle der sonst mit John Wayne besetzten Westernfiguren rücken in diesem Moment die Frauen ein. In einer Form von Travestie: Die Ärztin in Cowboypose. Eine Umkehrung der Motive, weg von Monument Valley in den geschlossenen Raum; weg von den klassischen männlichen Heldenfiguren. Die reinen Männerkonflikte von „Ford Apache“ sind auf einmal transponiert in eine reine Frauengruppe am Ende der Welt.

MG: Es ist ganz wichtig herauszustellen: Wir haben es mit einer Missionsstation zu tun. Einem Vorposten Amerikas, des Westens, in der „Barbarei“. Im Western geht es ja immer darum, das eigene Land zu zivilisieren. Diese Legitimität ist hier womöglich überschritten. Die Beziehungen zwischen den Missionarinnen führt Ford detailliert vor. Mehr im Bild übrigens, als durch den Dialog. Agatha leitet die Station rigide. Der ewig predigende Pfarrer ist gar keiner; nicht als solcher ausgebildet, kann er nur hier wie einer sich aufspielen. Die ganz junge Frau auf Orientierungssuche wird gespielt von Sue Lyon, der Lolita aus Kubricks Film. Und in diese Runde reitet unverhofft Anne Bancroft als Dr. Cartwright ein, wie ein Westerner auf Lincolns Esel, mit Cowboyhut und Zigarette im Mundwinkel. Ein Außenseiter.

MB: Bis auf die letzte Szene, wo sie das Auftreten des Westerners verlässt und im Kimono agiert. Erst da ist sie wirklich Frau geworden. Sie geht durch den Film als Ärztin.

MG: Eine gebrochene Ärztin. Sie erzählt an einer Stelle, wie sie in New York idealistisch ihren Beruf ausüben wollte. Aber weil dort Frauen wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, fand sich dort für sie keine Arbeit. Aus diesem Amerika wollte sie raus. Wenn wir „7 Women“ als Fordsches Zivilisationsmodell diskutieren, hängt mit Dr. Cartwright die Frage im Raum, warum sie im Missionsgeschehen nicht aufgeht?

MB: Hätten wir jemanden dabei, der noch nie was von Ford gesehen hätte, würde der „7 Women“ doch als Travestie wahrnehmen. Travestie auch des Modells für Amerika, das Du eben beschrieben hast. Es geht hier nichts mit rechten Dingen zu. Es ist dies keine Kafka- Welt, aber eine unendlich verschobene Welt. Eine Welt in Erwartung. Man wartet auf den Arzt, aber auch auf den Schrecken. Irgendwie ist klar: Das Kommende wird nicht gut sein.

MG: Dies müsste man aus dem Ford-Kosmos heraus erklären. „The Searchers“ beginnt mit der Öffnung der Tür des Raums der Familie Edwards; die Silhouette einer Frau zeichnet sich ab. John Waynes Erscheinen wird aus dem Inneren des Hauses heraus gesehen – eines der bekanntesten Motive der Filmgeschichte. „Rio Grande“, Teil der Kavallerietrilogie, beginnt ebenso. Mit der Öffnung eines Tors, das sich am Ende schließt. Worauf ich hinauswill: Dies Tür- und Erwartungsmotiv, ein roter Faden durch Fords gesamtes Werk, wird auch in „7 Women“ aufgenommen und weiterentwickelt.

MB: In „7 Women“ ist dies Motiv ganz merkwürdig konnotiert. Alle erwarten einen Arzt, der männlich ist. Und dann erscheint diese Frau, die wie ein Mann agiert. Das ganze Feld muss sich also neu ordnen, die Erwartung muss sich umpolen auf diese Ärztin. Und das empfinde ich zugleich als eine Form der Travestie der Zuschauererwartung. Mit anderen Worten: Ford ironisiert oder kritisiert die Erwartungsmotive, die er in anderen Filmen geweckt hat.

MG: Meine Gegenbehauptung: Diese Ärztin liegt konsequent auf der Linie bekannter Fordscher Figuren. Doc Holliday in „My Darling Clementine“, der Wyatt Earp hilft, die Grenzstadt zu zivilisieren. Auch er ist ein Arzt, sensibel, Veränderungspotential in sich tragend, der sich selbst nicht helfen kann. Der Liebe nicht integrieren kann in seine Welt und mit Alkohol sich selbst zerstört. All das ist auch bei Dr. Cartwright sichtbar. Travestie, ja, aber zugleich ist die Ärztin eine neue Verkörperung des Fordschen Loners.

[How green was my valley, 1941]

[The Searchers, 1956]

[7 Women, 1965]

MB: Die Frauen erwarten einen Arzt, es erscheint eine Ärztin. Eine Frau erwartet ein Kind, dass sie aber eigentlich schon 20 Jahre vorher erwartet hat. Was erwartet die junge Lolita- Darstellerin? Etwas vom Leben wahrscheinlich. Und die Oberin erwartet alles von Gott. Es gibt also ein ganzes Ensemble von Erwartungshaltungen, die sich aneinander reiben.

MG: Vielleicht ist das Fords Untersuchungsgegenstand: Wie Erwartungshaltungen helfen oder verhindern Realität zu erkennen. Die Oberin hat ihre Sinnlichkeit gewaltsam verdrängt. Und sie sagt dauernd: „Wir sind Amerikaner, uns kann nichts passieren“. Dr. Cartwright hat keine Erwartung, ist aber fähig, Veränderung zu registrieren und auf Fremdes verändert zu reagieren.

MB: Obwohl die Ärztin ohne Erwartung ist, macht sie die Travestieformen der Anderen umso kenntlicher. Ob das das Paar ist, das viel zu spät ein Kind bekommen will oder die Oberin in ihrem unausgefüllten Leben. Um noch ein Wort Frieda Grafes aufzunehmen, das ich treffend finde: Unschuld. Allein mit der ‚Lolita’-Darstellerin wird man wohl Unschuld verbinden. Die Oberin macht das deutlich, in dem sie diese Emma heimlich begehrt. Emma kann man herausnehmen aus diesem Erwartungskarussell.

MG: Aber auch hier sehe ich konsequente Ford-Linie. „7 Women“ versammelt zwar keine ausgemachten Väter, Söhne, Mütter, Töchter, aber trotzdem alle Generationen. Wir haben die ältere Leiterin, mit Dr. Cartwright deren Gegenpol, und mit Emma die Jugend. Die Chef-Missionarin definiert die geltende Wirklichkeit. Sie bestimmt die Tischsitten, ordnet die Hierarchie, sagt, was anstößig ist. Dr. Cartwright bleibt sitzen, trinkt, raucht, widerspricht. Mit ihr beginnt eigentlich schon das Fremde. Oder das Verdrängte. Sie ist Amerikanerin, aber eines Amerika, das die Missionarin bekämpft. Besonders die Tisch- und Essensszenen sind wieder ein Zivilisationsmodell, klein Amerika.

MB: Über der reinen Geschichte der Mission in China hinaus haben wir es mit einem Mikrokosmos Fordscher Motive und Zitate zu tun. Dr. Cartwright korrespondiert mit dem Arzt in „The Horse Soldiers“. Der spielt eine wichtige Rolle in den militärischen Operationen der Yankeetruppen in feindlichem Gebiet. Auch er verkörpert schon die ganze humane Seite. Wenn der Anführer der Mongolen auf der Veranda gegen diesen Schaukelstuhl tritt, klingt „The Searchers“ an. Das in Gefangenschaft geborene Kind könnte aus“ Three Godfathers“ kommen. Arzt, Kind, Veranda, das sind Bausteine, die Ford mitnimmt. Bleibt die Frage, ob er Sue Lyon, die drei Jahre vorher in „Lolita“ Unschuld in einer ganz anderen Weise verkörperte, mit diesem Rollenbewusstsein in „7 Women“ verpflanzt hat?

MG: „7 Women“ war nicht als Fords letztes Wort gedacht, aber man sieht hier den ganzen Ford. Es ist also ein würdiges letztes Wort und ein sehr trauriges. Denn in diesem Vorposten Amerikas ist die alles verbindende und entscheidende Western-Frage nicht mehr vorhanden: Wie kann Zivilisierung gelingen? Auf politischer Ebene zeigt Ford: Diese Missionare sollten nicht China missionieren; sie sind dermaßen fanatisch, weltfremd, verblendet, sie betreiben nichts als Selbstzerstörung. Wo ist John Fords Erwartung? Seitdem ich den total vernachlässigten „Three Godfathers“ noch mal sah, denke ich: Das Zentrum des Films sind gar nicht die sieben Frauen, sondern das neugeborene Kind. „7 Women“ ist aus der Perspektive eines Babys gefilmt.

MB: Hast Du mit dieser Behauptung nicht all die von uns diskutierten Ebenen verkleinert? Es gibt in „7 Women“ auch diese Alphabetisierungsgeschichte. Die chinesischen Kinder, denen der Lehrer ja eine Erweckungspredigt hält, statt ihnen das ABC zu lehren. Und die dann brutal niedergemetzelt werden von den Mongolen. Und dann dieses neu geborene Mysterienkind. Wie erklärt man diese Konstellation?

MG: Das allerbrutalste Gegenteil einer Geburt ist eine Kindstötung. Die, die das tun werden aber von Ford nicht identifiziert. Das machen nicht konkrete Asiaten, sondern pure Barbaren. Anders gesagt: Mit solch einer eigendynamischen Welt rechnen die Missionare nicht, in ihrem arroganten und kurzsichtigen „Uns kann nichts passieren, wir sind Amerikaner“. Mehrfach hätten sie, aufgrund von Warnungen, Gelegenheit gehabt, Tunga Khan zu entkommen. Sie bilden sich aber ein, alle Welt warte darauf, ihre Glücksvorstellungen zu übernehmen Was tun in einer Welt aus Überheblichkeit, Verdrängung und Barbarei?

MB: Die können nicht weg, weil ihr Erwartungshorizont komplett verstellt ist. Der deckt alles zu, weil er hierarchisch ist, in sich verkorkst, nicht lebendig. Es gibt keinen Horizont für diese Menschen.

MG: Das ist die Bildlogik hier: Amerika ist ein Labyrinth ohne Aussicht.

MB: Ein Bunker, von Barbaren umstellt. Und das macht die Aktualität dieses Films nach dem 11. September aus.

MG: Es gibt zwei Ebenen, auf denen sich Frieda Grafes Beobachtung erklären lässt, dass 1965 und danach niemand diesen Ford Film sehen wollte. Einmal: Das Kino veränderte sich in den 60ern massiv. Das Studiosystem gab es nicht mehr und es herrschte eine völlig andere Zuschauergeneration. Kurz, Ford stand nicht für cooles Kino. Zum anderen: Die damals in Europa gängige politische Sichtweise sagte: Ford, das ist das Amerika, das in Vietnam diesen mörderischen Kolonialkrieg führt. Diese politisch eingefärbte Rezeption bricht an „7 Women“ aber vollständig zusammen, wird als oberflächlich und ignorant kenntlich. Es gibt keine hellsichtigere Auseinandersetzung mit Amerika als die von Ford.

MB: Das ist ganz offensichtlich. Der Film ist vorrausweisend und zurückblickend. Er geht zurück in das eigene Werk, das ja wie keines amerikanische Geschichte reflektierend darstellt. Und das markante Öffnen der Tür führt in seinem letzen Film nach Innen. Man kann anhand der Bilder zeigen, wie Ford hier seinen Kosmos nach innen hin baut.

MG: Die Flure und Räume sehen aus wie in einem Film von Murnau. Das Innere Amerikas, ausgedacht im Berliner UFA Studio, dem weltweit führenden Experten fürs Gespenstische, für Abspaltungen, für Doppelgänger und andere von ihrem eigenen Wahn verfolgte. Auf Murnau, auf das höchstentwickelte sensuelle Kino jemals, bezieht sich Fords Bildlogik: Die Missionare graben sich immer weiter ein, das Außen rückt dabei ferner. Der Zuschauer verliert die Orientierung, weiß irgendwann nicht mehr, wo in diesem Missionslabyrinth die Kamera ist. Das kulminiert darin, dass die Ärztin, die mit ihrem Opfer die anderen rettet, immer tiefer in diese dunklen Flure hineingeht. Und es überleben diejenigen, die diese geschlossene Landschaft geschaffen haben, die Missionare. Fords Pessimismus: Der einzig Zivilisationsfähige opfert sich, damit die Nicht-Zivilisationsfähigen weitermachen können.

MB: Aber mit dem Loner Dr. Cartwright sind bestimmte Reflexionsfiguren verbunden. Da ist dieses auffällige Innehalten kurz vor Schluss, wenn sie im Kimono am Fenster sitzt. Sie überlegt und weiß genau, was sie tut. Und dann, als sie im Tor der Station steht, während die anderen abziehen, sieht man, sie ist keinesfalls ausgesetzt, sondern in einem Entscheidungsfindungsprozess voller Entschlusskraft. Sie ist also nicht einfach ein Archetyp, sondern sie entwickelt sich.

MG: Der klassische Loner würde sich auf der Mainstreet männlich schießen; Dr. Cartwright lässt sich vergewaltigen, das ist existentieller, schrecklicher.

MB: Sie vergiftet erst Tunga Khan. Es ist also nicht völlig aussichtslos. Er fällt tot um und sie hätte da die Chance zu fliehen.

MG: Eben, der Loner entscheidet sich gegen das Leben, das die andern führen. Die furchtbare Liebe der US-Männer, wie mit weiblichen Ärzten in den USA umgegangen wird...

MB: Was sie auf jeden Fall betreibt, ist ein Protest gegen die verzerrten Erwartungshaltungen der anderen. Da sitzt ein Ausrufeszeichen. Die Missionarinnen haben einen Arzt erwartet, einen Mann. Anne Bancroft kommt und ist indirekt ein Mann. Erst der Kimono, den sie als Mongolengeliebte tragen muss, verwandelt sie ins Weibliche. Ford spielt mit sexuellen Identitäten. Was auch nirgendwo in der Ford-Rezeption gesehen wird.

MG: Zurück zur Bildlogik. Ich wage die Behauptung: John Ford hat in seinem Leben nicht 140, sondern nur einen einzigen Film gedreht. Verschiedene Variationen desselben, wie es in „The Searchers“ sichtbar ist. Eine Tür geht auf, eine weibliche Silhouette zeichnet sich ab, die Kamera ist drinnen und tritt hinaus, sieht, was draußen geschieht. Alle Ford Filme sind diese Reise nach draußen. Und die gelingende oder nicht gelingende Rückkehr in diesen Innenraum. Zu Beginn von „7 Women“ fahren wir mit Agatha in die Missionsstation hinein. Montiert man all diese Fordschen Tür- und Raummotive nebeneinander, wird klar: Die Chef-Missionarin ist diesem Innenraum entfremdet. Worum geht es in diesen Innenräumen? Oberflächlich gesehen um Familie. Das Haus ist ihr Ort. Sie fallen auseinander oder werden zusammengesetzt. In „7 Women“ ist Familie etwas, das entsteht - um das neugeborene Kind herum. Ich glaube, dieser innere Raum ist das Zentrum des Fordschen Kosmos. Zivilisation ist, was dem Kind ins Leben hilft. Agathas Missionare sind also mit dem ersten Bild als das Gegenteil von Zivilisation kenntlich.

MB: Ja, vielleicht macht er immer nur einen Film. Einen Film, der auf der Suche ist nach dem verdrängten Weiblichen. Zum Beispiel Maureen O’ Haras Rolle in „The Long Gray Line“. Sie ist die Person, in der sich das ganze Geschehen in der West Point Militärakademie kristallisiert. Sie küsst in einer unglaublichen und leidenschaftlichen Weise die jungen Rekruten, die ausrücken in den ersten Weltkrieg. Und als der Krieg zu Ende ist, küsst sie noch mal einen, der nicht in den Krieg ziehen muss. Hier, wie in „The Searchers“, wie in dem Irlandfilm „The Quiet Man“, ist Ford gleichsam auf der Suche nach dem verdrängten Weiblichen.

MG: Meine Gegenbehauptung: Die Verdrängung ist allein ein Problem der Ford-Rezeption. Die Küsse in „The Long Gray Line“, sie gelten Soldaten, die in einen Raum gehen, der nichts Weibliches mehr hat. Folgt man „Gray Line“, sind der erste und zweite Weltkrieg unumgänglich. Die deutschen und japanischen Barbaren müssen bekämpft werden. Zu dieser Haltung ringt sich mit Ford einer durch, der US-Militärakademien dumm und grotesk findet und Krieg widerlich. Krieg ist das Anti-Modell des inneren Raumes.

MB: Das sehe ich anders. In “The Horse Soldiers“ bleibt diese Südstaatenfrau hinter der Front zurück, wenn John Wayne über die Brücke prescht. Damit immer verbunden ist die Frage: Wo leben die Frauen? Die ist in der Amerika-Diskussion immer aufgeworfen worden mit Herrmann Melville, mit „Moby Dick“. Schon die ersten Rezensenten „Moby Dicks“ hatten damit ein Problem, und der Roman wurde anfangs überhaupt nicht gelesen. Denn da kommt keine Frau drin vor. Frauen haben in „Moby Dick“ keinen Raum. Auch die Reaktionäre oder Feministinnen heute würden ganz platt feststellen, in John Ford Filmen kommen Frauen allenfalls am Rande vor. Auch in Fords Amerika haben die überhaupt keinen Ort.

MG: Man darf nicht mit heutigen feministischen oder politisch vernünftigen Maßstäben alte Ford Filme messen. Die Fordsche Sensibilität ist gleichsam weiblich, was aber nicht heißt, dass Frauen die Action dominieren. Das passiert nur in „7 Women“.

[How green was my valley, 1941]

MB: Aber die Frage ist doch, wie Ford anknüpft an das Problem von Melville: Wo haben in den religiösen und politischen Vorstellungen von Amerika die Frauen einen Raum?

MG: Jean Marie Straub betont an irgendeiner Stelle das Brechtische an Ford. Das wirklich massiv ist. Ford macht kein Kino, das zur Identifikation einlädt, selbst dann nicht, wenn John Wayne mitspielt. Vielmehr animieren seine Filme den Zuschauer, Figuren und Situationen objektiv zu betrachten. Und wie facettenreich Fordsche Figuren und Situationen sind. Die werden auch am Ende eines Films selten einer Harmonie unterworfen. Bei der Suche nach dem Ort des Weiblichen stößt man natürlich zunächst auf Rollen, die heute als Klischees gelten: Mütter, Hausfrauen, Huren etc...das sind aber nie Klischees, sondern eben komplexe, „brechtisch“ entfaltete Charaktere in Bildlandschaften. Und: Das Weibliche ist bei Ford oft Zentrum des Bildes - es ist, wie soll man sagen, in der Psyche.

[The Quiet Man, 1952]

[The Last Hurrah, 1958]

[The Man who shot Liberty Valance, 1962]

[The Last Hurrah, 1958]

Dr. Cartwright nun bringt am Schluss von „7 Women“ ein Opfer, wird Geliebte von Tunga Khan. Sie vergiftet Khan und anschließend sich selbst. Ich sehe in dieser Szene vollständigen Pessimismus, Du aber nicht.

MB: Ich sehe auch die pessimistische Grundstruktur des Films, die labyrinthischen Formen des Hauses, in denen sich die Personen verlieren. Ich sehe aber auch ein Moment von Licht, wenn die junge Emma beim Auszug aus der Mission mit dem Kind in den Armen sagt: „Eine Frau wie Dr. Cartwright werde ich, und wenn ich 100 Jahre alt bin, nicht vergessen.“ Das sehe ich im Gegensatz zu Tag Gallagher, der Emma nichts als Oberflächlichkeit und Unreife bescheinigt. Bei all der Ambivalenz der Charaktere in „7 Women“, ist doch an Emma nachvollziehbar, dass sich etwas entwickelt. Wie sie sich von der ursprünglichen Fixierung auf die Oberin Agatha löst und sich neu orientiert an der ganz anders vorbildlichen Haltung der Ärztin. Und mit dieser Karrensituation am Ende ist subtil ein Überleben der Haltung der Ärztin inszeniert. Deren Charakterstärke lebt weiter in der jungen Emma.

MG: Im barbarischen Gelände wäre der größtdenkbare Optimismus das Setzen auf eine Annahme: Vielleicht hat Dr. Cartwrights Tat einen Sinn, vielleicht kommt das Kind durch, vielleicht erinnern sich die Leute ihrer. Zynismus/Nihilismus wäre, gar nichts zu versuchen. Du hast recht, auf dem Ochsenkarren werden ja unterschiedliche Haltungen zur Ärztin geäußert. „Die Hure Babylons“ sagt Agatha die Missionarin. Die vielleicht schrecklichste Person des Films, weil sie innerhalb der Zivilisation nichts von dieser begreift. Agathas Assistentin sagt sich los von ihr. Noch mal Neuorientierung.

MB: Ambivalenz. Man kann durchaus den Pessimismus ausmachen. Aber dieser Loner aus dem Fordschen Kosmos erfährt hier ja noch mal eine Metamorphose, hat neue Facetten. Das hat damit zu tun, dass sie sich selber ins Gesicht sehen will, in der Spiegelszene.

MG: Sie sieht sich im Spiegel verschwommen, nebelig. Ein filmgeschichtliches Zentralmotiv. Spiegel sind eigentlich selbst Filme. Sichtbare Sinnbilder innerer Welten. Sie brechen, gehen kaputt, spiegeln nichts zurück, verhöhnen Betrachter mit dämonischem Lachen. Identität wird von Spiegeln bestätigt oder zerfällt in Scherben, die kein Glück bringen. Dass Dr. Cartwright sich nicht deutlich sieht, ist für Dich kein Pessimismus, sondern ein Ja zu einem gerade nicht idealistischem, sondern komplizierten Ich in einer unerbittlichen Welt. Die Missionare dagegen flüchten vor schwierigen Umständen in den Wahn.

MB: Ja, das ist der Rest von Dr. Cartwrights Haltung. Sie hat ihre Haltung bewahrt, ihre Persönlichkeit. Die Vergiftung von Tunga Khan findet im Raum der Oberin statt. Der ist ja das Zentrum des Labyrinths. Wenn die Missionsstation ein Ort der inneren Kämpfe ist, ist das ein deutlicher Hinweis, wie sie mit ihrem Freitod sich hier verortet. Sie bleibt souverän, erstreitet und besetzt diesen Ort für sich. In diesem labyrinthischen Innenraum behauptet sie das Recht auf Widerstand.

MG: Tag Gallagher stellt heraus: Sowohl die Oberin Agatha, als auch Dr. Cartwright sind Frauen, die ihre Körper ihrem Willen unterwerfen. Die Beischläferin von diesem Chefbarbaren werden zu können, dies Opfer verlangt einen ungeheuren Willen. „7 Women“ handelt aber nicht von Heroismus, sondern davon, einen Unterschied zu machen - den zwischen Resignation und Humanismus. Und zwar auch dann, wenn es niemanden interessiert.

MB: Die Zigaretten in den Händen von Dr. Cartwright. Die spielen ja eine ganz besondere Rolle. In Situationen der Entscheidung und der Selbstbehauptung raucht sie. Auch am Ende. Die Zigaretten sind als Requisiten Bestandteil der Persönlichkeit. Ähnlich die Ärztetasche. Ab dem ersten Moment, in dem sie vom Esel steigt, wandert die durch den Film. Bei der Cholera, bei der Geburt, im Raum des Mongolenfürsten. Sie erobert die Tasche zurück, um die Geburt einzuleiten. In der Tasche sind die Tabletten für den Freitod. Diese Tasche übergibt sie am Schluss den Fahrern auf dem Ochsenkarren. Dr. Cartwright also bleibt nicht nur in Emmas Erinnerung, es gibt eine weitere Form ihres Vermächtnisses.

MG: Ja, wie seine Figuren lässt Ford auch Gegenstände viele Stationen eines Spannungsbogens durchlaufen. Der Arztkoffer ist Instrument des Heilens, der Selbstzerstörung und des Elends - in den Händen der Mongolen wird Dr. Cartwright durch ihn erpressbar. Eigentlich müsste man die ganze Filmgeschichte noch mal neu schreiben, aus der Perspektive von Rauchern. Die sehen wahrscheinlich Filme ganz anders als Nichtraucher. In mehreren Szenen sieht es so aus, als werde Dr. Cartwright von der Zigarette durch all diese Anfeindungen der Oberin und der Mongolen getragen.

MB: Die Zigarette repräsentiert ihren Selbstbehauptungswillen. Sie ist aber kein Zeichen der Härte, der Kälte, der Überlegenheit. Am Anfang ist die Zigarette Zeichen des Protestes gegen die Konventionen der Missionare. Sie ersetzt quasi das Gebet, steht gegen die Falschheiten dieser Frömmigkeit. Die Zigarette steht für eine nuancierte Haltung, aus der sich Distanz und Selbstbehauptung entwickeln können. Die Tasche ist verschlossen und wird geöffnet, um Kräfte hinauszuholen, die man in bestimmten Situationen freisetzen muss. Die Zigarette ist ein sichtbar spirituelles Zeichen, die Tasche birgt unsichtbare Kräfte. Auch andere Zeichen in „7 Women“ sind massiv. Ob das die erstarrten religiösen Konventionen sind, mit denen weder Geist noch bestimmte Heilkräfte verbunden sind. Aber auch die primitiven und barbarischen Umgangsformen der Tunga Khan-Leute. Die sind nicht spiritualisierbar, das sind Bulldoggen...

MG: Die Zigarette als Protestform funktioniert bis heute. „7 Women“ würde die aktuelle amerikanische Genussmittel-Zensur nie passieren. Ich möchte noch auf „Three Godfathers“ hinweisen. Der Film erlaubt Einblicke ins Fordsche Oeuvre, somit auch in „7 Women“. In „Three Godfathers“ fliehen drei Bankräuber in die Wüste. Sie verlieren ihr Wasser, ihre Pferde und finden einen Planwagen, in dem eine Frau ein Baby erwartet. Sie helfen bei der Geburt. Die Mutter stirbt und macht die Drei zu Paten. Das Innere dieses Planwagens ist so inszeniert wie auch die Innenräume in „The Searchers, „7 Women“ etc. Hier hat die Öffnung nach draußen eine vaginale Form. Die drei Paten sind in diesem Moment im mütterlichen, weiblichen Innenraum. Den dortigen Anforderungen nachzukommen, verwandelt sie. Sie kämpfen keine Fluchtwege mehr mit Revolvern frei, sondern helfen dem Baby in der Wüste. Ab dieser Entscheidung, ist Ford egal, was das Gesetz in den Dreien sieht. Fords Skala der Sympathie seinen Figuren gegenüber, das ist der Abstand, den diese zum Kind einnehmen. Das ist auch in „7 Women“ so. Aus den Anforderungen dieses mütterlichen oder weiblichen Innenraums heraus wird die Welt bewertet.

MB: Ein anderes Beispiel ist „The Long Gray Line“. Da spielt Maureen O’ Hara die Frau vom Ausbilder Marty Maher und hat eine Fehlgeburt. Die führt dazu, dass sie jungen Rekruten, die in West Point für den Krieg ausgebildet werden, als ihre Kinder adoptiert. Und sie überzeugt auch ihren Mann davon, in einem lebenslangen Aufopferungsprozess, die jungen Rekruten als seine Kinder zu sehen. Die Fehlgeburt leitet gleichsam die Geburt des Ausbilders Marty Maher ein.

MG: Die Mahers sind für West Point, was die drei Godfathers in der Wüste sind, und Dr. Cartwright in der Missionsstation: In ihrer Sensibilität und Menschlichkeit ein Gegenprinzip zur Umgebung, zur törichten, maschinenhaften Militärakademie.

MB: In „The Horse Soldiers“ absentiert sich der Arzt William Holden bei einer Schlacht. In einer Hütte entbindet er in aller Eile das Kind einer Schwarzen. Worauf er mit John Wayne Zoff kriegt, eine Entbindung, erst recht die einer Schwarzen, liege außerhalb seiner militärischen Aufgaben. Holden verkörpert sehr ähnlich die forsche ärztliche Haltung Dr. Cartwrights. Das scheint ein Hinweis darauf, dass bei Ford, die Sorge um die Geburt bei allen Beteiligten Niederschlag finden muss.

MG: In „7 Women“ kommt dies Kind zur Welt, und die von Tag Gallagher als oberflächlich beschriebene Emma zeigt die größte Fürsorge, nicht die von Ford als unwürdig gezeigten leiblichen Eltern. Geburt, Elternschaft sind keine Familienangelegenheit. Jeder kann dabei eine wichtige Rolle spielen – es ist eine Sache der Entscheidung. Das hört sich in Worten ausgesprochen romantisch an oder nach Hollywood Konvention. Es ist aber in jedem Ford-Film eine Entscheidung innerhalb einer komplexen, verstrickten Situation mit offenem Ausgang. Auswendig gelernte Konzepte sind für Ford kein Humanismus.

MB: Man muss das zuspitzen: Jedes neu geborene Leben entbindet ein Ethos. Bei denen, die in unbeschreiblich problematischen Verhältnissen leben, in Not, in Angst, in der Wüste, die von Feinden umstellt sind, entbindet es eine Haltung. Wenn sie denn noch Kräfte dazu haben.

MG: Die Erstarrung der Missionsstation wird also gar nicht nur durch Äußeres, durch den Mongolensturm, aufgebrochen, sondern auch durch Geburt. Und die Chefmissionarin empfindet körperlichen Ekel davor. Ihre Religion hat sie allem Menschlichen entfremdet.

MB: Es ist nicht die Tatsache der Geburt, um die es hier geht, sondern die Geburt gebiert Haltungen. Jede Person wird neu buchstabiert und formiert. Das Erstaunliche: Es geschieht selbst bei denen noch einmal neu, die als Ärzte schon ein Ethos haben.

MG: Die Figuren können an den Umständen wachsen. Bei den Hauptfiguren aktueller Produktionen ist es genau umgekehrt: Sie definieren die Umstände; räumen aus dem Weg, was ihrer Definitionsmacht im Weg steht. Sie wachsen auch gar nicht, sie siegen bloß. Weil Fans, Filmwissenschaftler und Kritiker Bilder von Babys und Müttern offenbar nicht zum wichtigen Teil eines Films zählen, oder weil man darin nur Klischees ausmacht, wird übersehen, wie und was Ford-Bilder artikulieren.

MB: Klar, aber beim ersten Sehen von „7 Women“ fällt erst mal nur diese pessimistische Grundstruktur ins Auge. Erst bei genauem Hinsehen bricht der Ford die ein wenig auf.

MG: Du hast diese Schlussszene als Mysterienlösung bezeichnet. Was heißt das?

MB: Ich meine damit die Ochsenkarrensituation, die Abreise der Missionare, den Kuss für Dr. Cartwright, die Übergabe der Arzttasche an die alte Frau und Emmas Erinnerungsschwur. Diese Szenen halte ich für eine versteckte Form von Auferstehung. Oder des Weiterlebens des Ethos der Ärztin unter allen barbarischen Umständen. Das muss man nicht an dem Kind festmachen, sondern vielmehr an der sich verändernden Emma. Auch an der älteren Frau, die sich von der Devotion gegenüber Oberin löst. Die führen fortan ein neues Leben.

MG: Die Abreisenden auf dem Ochsenkarren haben das Kind, die Ärztetasche und die Erinnerung. Von Dr. Cartwright oder John Ford aus gesehen, könnte man sagen: „So, jetzt macht mal was draus!“ Das ist ein Optimismus, den viele nicht als solchen erkennen oder anerkennen werden. Es ist kein umsonst zu habendes „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“, sondern ein Optimismus, der an jedermanns Teilnahme appelliert. Die allein ist das Versprechen, das Wunder.

[Three Godfathers, 1948]

MB: Da bricht dann durch, was Du betonst: Dass man in der Rezeption bestimmte Züge bei John Ford nicht gesehen hat. Er bricht mit dieser Schlussszene ganz subtil aus aus traditionellem filmischen Handlungsaufbau. Das gibt es aber immer bei Ford, all diese Kleinigkeiten, die Hunde, die da von kaum jemandem bemerkt mitmachen in Western, dass selbst der dritte und vierte Mann an der Bar noch wichtig ist, dass gleichsam jedes Staubkorn im Monument Valley mitspielt. Er bricht herrschende Schemata dadurch auf, dass er nicht wirklich hierarchisch ist. Sieht man all das aber mit so einer eingespielten Star- Sichtweise, dann sieht man eben nur die Ärztin mit Haltung untergehen.

MG: Wenn am Schluss die alte Frau ihre Wut ausspricht gegenüber der Oberin, wird für das Publikum wahrscheinlich bloß ausgedrückt, was es die ganze Zeit schon denkt. Nicht das innere Drama, die vollständig veränderte Haltung dieser „Nebenfigur“, und wie wichtig die für den ganzen Film ist.

MB: Man ist auch fixiert der Sexualität wegen. Das Selbstopfer der Anne Bancroft ist natürlich eines der Sexualität. Als hätte der John Ford fast Hitchcockmäßig alles in diese Richtung gezogen; diese zarte Frau und diesen Orang-Utan-Mongolen zusammenzuschweißen und alle Zuschauerenergien dran zu binden. Und wie wenig Zeit Ford sich nimmt, um ganze Handlungsstränge und Charaktere zu entwickeln; die Assistentin der Oberin oder Emma – so, dass es nicht mal der Tag Gallagher wirklich wahrnimmt. Das sind ja alles Miniaturen, die vom Gesamtfilm ganz wenig beanspruchen. Einen derart reichen Space zu entwickeln, vor Zuschauern, die davor sitzen und fragen, wann endlich die Mongolen kommen und die Action beginnt.

MG: Ford hat das Aufkommen des Tonfilms in den 20ern zwar begrüßt, sich selbst aber immer als Stummfilmregisseur beschrieben. Wenn in „7 Women“ eines Nachts der Feuerschein das Bild auffrisst, wenn der Himmel brennt, dann ist das für meine Augen Action. Gewaltbilder. Die, wie Dr. Cartwrights Spiegel, Innerliches ausdrücken: Die verdrängte Wirklichkeit, der sich die Missionare stellen müssen. Niemand hat in den 60ern noch so mit der Kamera gemalt wie Ford. Das geschieht ganz beiläufig, aber es ist der Film. Es gibt diesen von Stanley Cavell auf Howard Hawks gemünzten Satz, der treffender auf Ford anzuwenden ist: „Er scheint zu wissen, dass ein amerikanischer Künstler, erpicht darauf ein Publikum zu schaffen, oder es zu halten, bloß nicht als solcher in Erscheinung treten, vor allem aber sich selbst nicht als solchen verstehen darf.“

MB: Aber wir kommen dem nahe, sehen doch in Ford fast einen Shakespeare. Für Amerika. Warum sieht die amerikanische Rezeption - außer eben Tag Gallagher - das nicht? Warum arbeiten, außer wenigen Kinoenthusiasten, so wenige damit? Warum haben wir mit Samuel Huntington, oder, in Deutschland mit Michael Rutschky, so viele Plattfußamerikaner an der Hacke? In der gängigen Reflexion über Amerika ist überhaupt kein Niveau anzutreffen, bei Fords Reflexion aber ein immenses.

MG: Die hiesige Amerika-Rezeption ist eine Kultur des Missverständnisses, der radikalen Vereinfachung. Ich behaupte: Weil niemand sich diese Ford-Filme anguckt. Oder Filme nicht als Reflexion von Wirklichkeit und Geschichte sieht. Bei Linken, Rechten, wem auch immer haben sich Muster verfestigt: Niemand steht so sehr für amerikanische Ideologie wie John Ford oder John Wayne. Bei Ford ist Wayne aber nie dieser strahlende Held. Er ist Rassist, Selbstmörder, Bankräuber; immer gebrochen, nie allein ein Problem lösend. Für andere verkörpert niemand so sehr das großartige US-Unterhaltungskino wie Ford. Denen ist er willkommen als Alternative zum unerwünscht komplizierten Autorenfilm, zum Kunstkino. Ford aber propagiert nicht Amerika und er feiert es nicht, er reflektiert es. Er formuliert Erfahrungen und kritisiert dabei andere Amerikadarstellungen. All das mit einer Differenziertheit, auf deren Höhe weder Amerikagegner noch Amerikafreunde sich bewegen. Wir hatten vorhin diesen Satz von Straub über Fords Brechtische Züge. Die sollen auch betont werden. Zugleich sehe ich selbst in Straubs kluger Ford-Rezeption ein Äquivalent zum öden Ford immer wieder nur anzusehen als Regisseur von Männerfilmen. Noch einmal: Fords Sensualität, seine radikale Sensibilität, die sich nicht in der Erzählung zeigt, sondern im Bild, die beachtet niemand...die wird verdrängt, verleugnet, vergessen...

MB: Ford ist ein Fass ohne Boden, wenn man anfängt sich mit ihm zu beschäftigen. Menschen, Landschaften, Alltagsszenen, Gesten. Ein ungeheuer reicher Kosmos menschlichen Verhaltens, den Ford entwickelt und den er teilweise naiv, unbeteiligt, dann wieder hochreflektiert präsent macht. Den man aber nicht will und überall primitiv reduziert und denkt, diese Reduktion hätte noch irgendwas mit Amerika zu tun. Selbst jemand wie Georg Seeßlen bietet, was Ford angeht, eine Reduktion von Fords Territory. In einer bestimmten Weise ist Ford aktueller als Brecht. Weil er nicht diesen didaktischen Zug hat, sondern alles in seiner Beiläufigkeit oder Selbstverständlichkeit auftaucht. In einer scheinbaren Beiläufigkeit. In unscheinbarsten Sequenzen zeigt er noch etwas, teilt etwas mit. Etwas, das mitgeteilt werden will und muss.

MG: Das heißt: Diese Filme, deren Design sie ungeheuer alt erscheinen lässt - diese betuliche Action, diese seltsam gekleideten Frauen und schiefmäuligen Typen, diese Langsamkeit – sind hochaktuell. Durchbricht man diese modisch diktierte Wahrnehmung, stößt man auf ein gegenwärtiges filmisches Wunder.

[John Ford]




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