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Mittwoch, 5. Oktober 2005

Pop-Star mit Brille


von Harun Farocki

Ich sah Fassbinder, zunächst als Darsteller, das erste Mal 1969, auf einem Festival. Damals musste ich nicht einmal den Tod fürchten, die Welt würde sich bald so ändern, dass mir ein weiteres Leben bevorstand. Was ich jetzt lebte, war nur ein Vorleben, so wie die Kindheit nur eines gewesen war. Bei einer Versammlung der Eltern des Kindergartens, in den wir unsere Kinder schickten, sagte ein Vater-Genosse, eine gewisse Ordnungsfunktion der Polizei müsse man doch anerkennen; dass sie etwa die Kinder über die Strasse brächte, man müsse notwendige Ordnung und Unterdrückung auseinander halten.

Während Godard nach den Erschütterungen von 1968 nie wieder zu den Filmen zurückkehrte, die er, mit recht viel Erfolg, zuvor gemacht hatte, glich Fassbinder bald seine Filme dem an, was jedermann so unter einem Film versteht. Er gab die Plansequenzen auf und machte die Interaktion der Darsteller wieder zur Hauptsache. Die Kamera sah sich nicht auf dem Schauplatz selbstständig um, sie nahm bloss aus ein paar Richtungen das Spiel der Akteure auf, um das Material für eine Montage zu erzeugen, für die Akzentuierung des Darsteller-Spiels mit Schnitten. Auch Wenders enttäuschte, weil er bei seinem ersten grossen Film ("Die Angst des Torwarts beim Elfmeter") mit Schuss und Gegenschuss erzählte. Das war für mich ein Verrat an der Revolution. Da zeigte sich, dass die Menschen sich nicht darauf verlassen wollten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, sie gaben der – in Gedanken – schon demobilisierten Polizei die Uniform und die Waffen zurück. Bald würde es auch wieder eine Armee geben, mit einem etwas anderen Namen als zuvor.

Wenn ich einem politischen Freund oder Genossen zu erklären versuchte, dass es einen Zusammenhang von Filmform und Politik gab, kam ich damit nicht weit. Wie ein Film erzählte, mit was für Einstellungen, das war keinem wichtig, während doch bei der Musik der Sound so viel, oder alles, bedeutete. Viele, die an Adorno ihr Sprachvermögen geschult hatten, arbeiteten sich den Tag über mit Worten ab und benutzten am Abend das Kino, das Fernsehen, als Erholungsstätte. So wie die Fabrikarbeiter von ihrem Arbeitstag so erschöpft sind, dass sie am Abend nur noch Schund aufnehmen können sollen, waren sie vom politischen Denken und Sprechen – "Anstrengung des Begriffs" – so erschöpft, dass sie nur noch einen Italo-Western sehen konnten – "Ermattung des Bildes". Sie kamen gar nicht dazu, mich zu fragen, wie es denn mit Schuss und Gegenschuss bei den amerikanischen Regisseuren stand, die ich hochhielt. Ich hätte antworten können: Godard wie Straub beriefen sich auf Hawks oder Ford, machten aber Filme, die auf den ersten Blick damit kaum etwas zu tun hatten. Es ging um eine Essenz, nicht um die Syntax. Ich hatte von den Nouvelle-Vague-Autoren die kanonische Namensliste übernommen, auch ich versuchte, beim Anschauen etwas ganz anderes aus den Amerikanern zu machen. Ich sah so sehr von deren manifester Mitteilung ab, dass ich die Worte, die gesagt wurden, gänzlich überhörte und nicht auf den Ausdruck der Darsteller sah, eher auf den Raum zwischen den Filmfiguren.

Für Fassbinder nahm mich zunächst ein, dass er die Straubs in sein Theater eingeladen hatte und in dem Stück, das sie dort inszenierten und in ihren Film aufnahmen, mitspielen liessen. In "Liebe ist kälter als der Tod" zitierte er eine Sequenz aus "Der Bräutigam, der Komödiant und der Zuhälter" der Straubs, ein wunderbares langes Travelling über eine Strasse mit Prostituierten, die aber nicht ausgestellt werden, in der Mitte der Einstellung setzt Bach-Musik ein. Das ist ein starker Effekt. Auch Pasolini hatte schon Bach-Musik eingesetzt um eine Verbindung zwischen den ausgebeuteten Menschen heute und dem Jesusleiden herzustellen, auch er hatte die Musik mitten in der Szene beginnen lassen, sodass die Willkürlichkeit der Montage zu empfinden war. Bei den Straubs kam noch hinzu, dass der Film auf einer Bühne mit Darstellern beginnt, dann das Register wechselt und auf eine wirkliche Strasse ohne Darsteller springt. Und mit dieser Parallel-Verschiebung ist der Zusammenhang von Ausgebeuteten und Gottessohn deutlich Konstruktion, eine geometrische Übung, die auf Wahrheit und Schönheit in einem aus ist.

In "Katzelmacher" gab es ein paar der Darsteller zu sehen, die in "Der Bräutigam…" gespielt hatten, und es gab ein Godard-Zitat. Eine Frau gibt einer anderen einen Stapel mit Groschenheftchen zurück und liest eine besonders schöne Stelle vor. Die gleich Stelle, die in "Vivre sa vie" eine Kollegin von Nana im Schallplattenladen vorliest: "Sein Blick war auf den türkisenen, mit Sternen übersäten Himmel gerichtet, als er sich mir zuwandte. ‚Alles an Ihnen verrät ein intensives Leben. Logischerweise müssten Sie…‘ Ich unterbrach ihn: ‚Sie messen der Logik viel zu viel Wichtigkeit und Einfluss zu.‘"

"Katzelmacher" besteht nur aus Plansequenzen. Keine einzige Grossaufnahme, keine einzige Totale. Die Kamera bewegt sich nicht, mit einer Ausnahme. Ein halbes Dutzend mal gehen je zwei Personen über einen breiten Hof, die Kamera fährt dabei vor ihnen her, eine Klaviermusik ist bei diesen Travellings zu hören, die einzige Musik im Film. Diese Travellings enden so abrupt, dass manchmal der letzteTon nicht ausklingen kann. Diese Fahrten sind eine Art Refrain und sie machen vor allem deutlich, dass es auch in den Strophen keine wirkliche Bewegung gibt. Ich glaube, diese Erzählfigur, ein solches formalisiertes Travelling immer wieder, hat es im Kino noch nie gegeben. Immerfort scheint die Sonne, als wäre der Film an einem einzigen schönen Tag gedreht.

Männer und Frauen aus einer Nachbarschaft in München. Auf einem Hof versammeln sie sich, in wechselnder Besetzung stehen sie in einer Reihe an einem Geländer, das den Schacht zu einem Keller absperrt. Sie setzen sich auch auf das Geländer oder auf dessen Fundament. Sie nutzen anscheinend jede Gelegenheit, dort abzuhängen, wie Jugendliche, die nicht mit den Eltern in der Wohnung sein wollen. In den Wohnungen aber leben sie allein oder zu Paaren, ohne Eltern und ohne Kinder. Sie sind auch zusammen in der Gastwirtschaft, auch da in wechselnder Besetzung. Bei jedem Zusammensein sagt ein jeder kurze Sätze in einem Kunstbayrisch, wobei eigentümliche Wendungen, so die doppelte Negation, ausgestellt werden. Sie besprechen kaum etwas Faktisches, selbst das Faktische klingt bei ihnen wie eine Sentenz. Sie sprechen ständig kleine Lebensweisheiten aus. Die Männer sind hauptsächlich stumpf und haben einen Zug zum Kleingangster oder Zuhälter. Die Frauen sind auf das Schönsein und auf die Männer aus, sie tragen sehr kurze Mini-Röcke. Eine Frau hat etwas Vermögen und hält sich für etwas Besseres. Alle Schauplätze sind spärlich dekoriert, an den weissen Wänden ist meistens nichts. Die Kamera steht immer im rechten Winkel zur Rückwand, so wie es das in der frühen Kinematographie gab. Auch wenn eine Szene einmal in einem Auto spielt, bewegt sich dieses nicht ein Stück, das sieht noch künstlicher aus als ein Sessel oder Gastwirtschaftstisch, aufgenommen im rechten Winkel vor der Rückwand. Katzelmacher, von Fassbinder gespielt, ist ein Gastarbeiter aus Griechenland – die Deutschen sagen "Fremdarbeiter", wie im Krieg, und halten ihn lange für einen Italiener. Sie reden schlecht von ihm und sind sich darin einig, ohne dass damit die Gehässigkeiten unter ihnen aufhörten. Sie reden schlecht über ihn auch wenn sie ihn zu einem Bier einladen, was er nicht versteht oder verstehen will. Als seine Zimmervermieterin mit ihrem Mann und dem "Griech aus Griechenland" in die Gaststätte kommt, werden die drei von der Gruppe wieder vertrieben. Und als Katzelmacher einmal über den Hof geht und dort nur Männer stehen, fallen sie über ihn her und verprügeln ihn. Das bringt ihn nicht dazu, fortzuziehen. Und auch seine Wirtin schmeisst ihn nicht raus, weil sie ihm für ein Zimmer – dass er mit dem Ehemann teilen muss – 150 Mark zahlt. Das gibt den Ausschlag. Dass man den ausländischen Arbeitern soviel Geld abnehmen kann belegt, dass sie für die "Deutsche Wirtschaft" von Nutzen sind.

Der Katzelmacher hat auch eine Liebschaft mit der Frau, die von Hanna Schygulla gespielt wird. Einmal sitzen sie zusammen auf einer Bank, und das sieht aus wie bei Stroheim. Das Sonnenlicht macht aus den Stadtpark-Bäumen einen Zauberwald. "Katzelmacher" ist schon deshalb politischer als die meisten Filme dieser Zeit, weil er von Vielen ausgeht und nicht von einer Person oder einem Paar. Die ganze Nachbarschaft steht in Zusammenhang und die Liebe zum Gastarbeiter ist deshalb vom Gastarbeiter-Verprügeln nicht zu trennen.

"Warum läuft Herr R. Amok?" sah ich damals im Fernsehen, in schwarz-weiss, weil wir noch keinen Farbfernseher hatten. Auch die Filme von Rohmer kannte ich nur von der schwarz-weissen Fernsehwiedergabe, so waren die Gegenstände und Menschen stärker konturiert und ein Blick in die Bäume (in "La Collectionneuse") sah so zweckdienlich aus wie die Grossaufnahme eines Revolvers im Gangsterfilm. Herr R. ist ein angepasster Mensch, zu Beginn des Films kommt er mit seinen Arbeitskollegen aus der Hintertür eines Häuserblocks in München, die Handkamera geht ihnen voraus. Die Kollegen erzählen Witze und R. schweigt dazu. Als sie um die Ecke des Hauses biegen, kommt ein Auto in den Hofweg gefahren, setzt wieder zurück. In diesem Augenblick wird deutlich, dass das Auto nicht zur Inszenierung gehörte und nur zufällig in die Einfahrt einbog, um zu wenden. Eine Einstellung, für die man nicht bezahlt, die man nicht offiziell macht, mit Polizei-Genehmigung und Absperrung, nennt man in der Branche eine "gestohlene Einstellung". Alle Einstellungen in diesem Film über Herrn R. sehen gestohlen aus. Der Film behauptet, von ganz alltäglichen Menschen in gänzlich alltäglichen Situationen zu handeln. Aber R. und die Menschen um ihn, Familie, Freunde, Kollegen, sehen aus, als hätten sie sich ins Bild geschlichen. Fahren sie mit dem Auto, so ist zu erwarten, dass die Polizei den Wagen gleich anhält, und sitzen sie in der Gastwirtschaft, muss eigentlich die Wirtin gleich kommen und sie rausschmeissen. Der Film will erzählen, behauptet zu erzählen, welchem Anpassungsdruck der Alltagsmensch in der Bundesrepublik unterworfen ist. Davon ist nichts zu glauben. Der Hauptdarsteller Kurt Raab sieht verkleidet aus, hat einen Anzug an wie zur Konfirmation und hat eine Frisur als habe ihm die Mutter die Haare gekämmt. Die Darsteller haben deutlich keine Erfahrung mit dem Erwachsenen-Leben, das sie da spielen und anklagen. Eine Sequenz, die mir damals sehr gefiel, spielt am Arbeitsplatz von R., die Kamera schweift von ihm ab zu seinen Kollegen. Eine Frau schreibt auf der Maschine, ihr Klappern begleitet die ganze Szene, in der nicht gesprochen wird. Ein Bauzeichner ist zu sehen, der mit äußerster Akribie seine Zeichengeräte einrichtet und dann ein paar Bäume neben ein Gebäude setzt. Es geht um die Darstellung eines großen Wohnblocks und sicher soll auch dargestellt sein, dass die Sklavenarbeit des Zeichnens sich in der Sklavenexistenz in solchen Wohnblocks fortsetzt. Der Ordnungswahn regelt das Leben. Das Leben auf den rechteckigen Grundflächen kann nur ein überreglementiertes und überall gleiches sein – allerdings fasst auch eine Filmkamera jedes denk- oder erträumbares Bild in den gleichen rechteckigen Rahmen. Gegen die falsche Ordentlichkeit rebelliert der Film, indem er mit der Handkamera in Plansequenzen umherschweift und dabei vorgibt, er habe kein bestimmtest Ziel. Eigentlich ist jede Szene in diesem Film durchaus geeignet, zu einem Bild von R. und seiner Umgebung beizutragen, bei der Umsetzung aber schämt sich der Film zu sagen, was er sich zu sagen aufgetragen hat. Er fängt etwas an und nimmt es zurück.

Ich glaubte damals daran, dass alles ganz anders werden müsse, wenigstens im Film. Es gab zu Beginn der siebziger Jahre durchaus schon Filme, die versuchten, politische Positionen in die Alltagssprache des Kinos einzuführen. Von Entristen also, die ihre Filmpersonen etwas Fortschrittliches tun oder sagen ließen, während der Film so aussah wie jeder andere.

Stand ich an einem Morgen mit Flugblättern vor einem Fabriktor, meistens einem der Berliner Elektrowerke, nahm kaum eine der Frauen ein Blatt auch nur an. So erfuhren wir nicht, ob die Frauen – die meisten ungelernten und angelernten Arbeitskräfte waren weiblich – mit einem Wort wie "Entfremdung", "Entsublimierung", "tendenzieller Fall der Profitrate" nichts anfangen konnten oder nicht wollten. Also wurden die Flugblätter umgeschrieben, in die vermeintliche Alltagserfahrung der Fabrik-Arbeiterinnen übersetzt. Und wie diese Umschreibungen kamen mir auch die neuen politischen Filme vor. Wie die Beispiele, die der Lehrer in der Schule gibt: eingekleidete Rechenaufgaben. Die Filmpersonen redeten und handelten, damit der Lehrstoff nicht trocken blieb. Eine klassenkämpferische oder feministische Haltung schrieb man den Filmpersonen natürlich auch in den Mund, damit sie wenigstens im Film so sprachen, wie wir uns das fürs Leben wünschten.

Der Film über Herrn R. musste mir schon deshalb damals gefallen, weil Fassbinder die Versöhnung von herkömmlichem Film und neuer Politik nicht erpressen wollte. Mit seiner Fernsehserie, "Acht Stunden sind kein Tag" ist er dieser falschen Versöhnung nahe gekommen. In dieser Serie soll ständig der Beweis geführt werden, dass Arbeiter oder Hausfrauen auch Film- oder Fernsehhelden sein können. Wenn sie auf ihren Rechten bestehen und fortschrittlich sprechen, tun sie das in der gleichen Weise, in der die Figuren in "Katzelmacher" ihre Ressentiments vortragen. Ihre Ansichten sind eingefleischt. Wenn Fassbinder bei den Szenen in der Fabrik die sprechenden Arbeiter mit Reiss-Schwenks verband, kam mir das nicht nur hässlich vor. Es kam mir vor wie eine offensiv gemachte Hilflosigkeit. Die Arbeiter riefen sich von Maschine zu Maschine etwas zu, wie man das in der Gastwirtschaft von Tisch zu Tisch tut. Die Maschinen wurden damit Gasthaustischen gleichgesetzt und es blieb aus dem Spiel, dass die Maschinen selbst die Arbeiter zu einander in Beziehung setzen. Jedenfalls die einzelnen so von einander trennt, dass Dialogworte diese Kluft nicht einfach überbrücken können.

Standen wir mit Flugblättern vor einer Fabrik, so wollten die Arbeiterinnen kein Blatt von uns haben, die Frauen aus den Büros aber gaben uns einen interessierten Blick. Mit unseren manifesten Botschaften drangen wir nicht durch, eher mit der Geste unseres Tuns. Wir scheiterten politisch und hatten kulturell Erfolg. Fassbinder beteiligte sich nie an der Werbung für einen neuen Lebensstil. Sein Erfolg aber trug zu unserem, zweifelhaftem, bei. Fassbinder hatte mit allem, was er tat, Erfolg. Selbst eine Fernsehserie über Arbeiter, in der von der Kollektivität oder wenigstens Massenhaftigkeit der Arbeiter-Existenz nichts zu finden ist, wurde ihm als Erfolg gutgeschrieben.

Die Intellektuellen in den USA begannen schon in den Siebzigern in Fassbinder den Autoren zu sehen, der die Gender-Fragen ansprach. In der Bundesrepublik war Fassbinder, zu Lebzeiten, etwas anderes. Die Bundesrepublik war nach dem Krieg schnell reich geworden und schämte sich etwas ihres neuen Reichtums. Nicht, weil es der Krieg gewesen war, der die industriellen Produktionsanlagen modernisiert und die Massenfertigung ermöglichte hatte. Das Sprechen vom Wirtschaftswunder war sich nicht bewusst, dass die industrielle Kapazität nach Kriegsende grösser gewesen war als vor dem Krieg. Scham wurde empfunden, weil man zwar Geld hatte, aber keine Lebensart.

Das begann sich nach 1970 zu ändern, nun gab es Kleidung aus Deutschland, die sich exportieren liess, und aus der Scham wurde ein Triumphieren. Es war mir schwer erträglich, dass der "Junge Deutsche Film" in der Welt grosses Ansehen gewann und in der Bundesrepublik so getan wurde, als wäre er die Entsprechung zur Nouvelle Vague. Damit waren die Ansprüche der Nouvelle Vague zunichte gemacht.

Als Fassbinders vorletzter Film, "Die Sehnsucht der Veronika Voss" im Fernsehen gezeigt wurde, war mir schon die erste Szene unerträglich. Im Kino wird ein UFA- Film aus der Nazi-Zeit gezeigt und Fassbinder sitzt im Zuschauerraum und sieht sich das mit grossem Interesse, mit Bewunderung, an. Der Film ist in Schwarz-Weiss, die Titel und vor allem die Blenden sollen auf die fünfziger Jahre verweisen. Glücklicherweise spielt der Film sonst weniger auf das Kino der Fünfziger in der Bundesrepublik als auf das aus den USA an. Der Film soll in München spielen, aber es drehen sich so viele Ventilatoren als spielte die Geschichte in den Südstaaten. In den Fünfzigern waren die Südstaaten in der Bundesrepublik durch Tennessee Williams gegenwärtig. In seinen Stücken kamen Homosexualität, Impotenz, Frigidität vor, ohne dass diese Worte ausgesprochen wurden. Sexualität erschien in diesen Filmen wie ein entlegenes historisches Ereignis, wie die Königs-Kriege in den Shakespeare-Dramen.

Die Grundidee zu "Veronika Voss" ist rasant. Eine Nervenärztin verschreibt ihren Patienten Drogen und lässt sich das teuer bezahlen. Sie presst ihre Kunden aus, sie müssen ihr alles Eigentum überschreiben und wenn sie nichts mehr haben, bleibt ihnen nur noch die Selbst-Tötung mittels Drogen, womit das Testament wirksam wird. Der Film erzählt als Nebenstrang wie ein altes jüdisches Ehepaar von der Ärztin um Antiquitäten und Haus gebracht wird und sich das Leben nimmt. Der Mann zeigt einmal die Tätowierung vor, er ist im Lager gewesen. In der Bundesrepublik werden die Juden enteignet wie vor der Deportation. Dahinter steckt keine staatliche Stelle, es gibt nur einen korrupten Beamten bei der Gesundheitsbehörde, der den Drogenhandel deckt. Es geht dem Film darum, dass man mit Drogen Träume verkauft. Der Drogenhandel gehört zur Traum-Fabrikation, wie das Kino. Die besitzgierige Ärztin, zu deren Entourage auch ein dicker GI gehört, der stets US-Schlager summt, wohnt in einer Wohnung aus reinem Weiss, das blendet wie der Schnee. Der Haushalt der Ärztin, ihr Küchen-Kabinett ist eine Verächtlichmachung der deutschen Kino-Industrie.

Auch Veronika Voss ist süchtig – weil ihr Starruhm nicht anhält. Weil ihre grosse Zeit – die mit der der Nazis zusammenfiel – vorbei ist. Sie war am Handel mit der Droge Kino beteiligt und ist dabei selbst süchtig geworden. Sie stirbt daran. Das ist heroischer als Überleben und Geschäfte-Machen – so charakterisiert der Film die Kino-Industrie und die Bundesrepublik im Ganzen.

Die Darstellerin der Veronika Voss, Rosl Zech, hat Szenen zu spielen, in denen sie taumelt, weil ihr die Droge fehlt, und sie verpatzt aus dem gleichen Grund eine Filmszene – aus Gnade hat man ihr einen Drehtag gegeben. Wenn sie das Drogenabhängigsein zu spielen hat, tut sie das mit Minen und Bewegungen, die zum Repertoire des hysterischen Stars gehören, zu dem sie sich stilisiert hat. Schlimmer ist, wenn die Männer um sie herum Betrunkene spielen. Um Rückblenden als solche zu kennzeichnen, wird ein Filter benutzt, der jedes Licht im Bild zu einem strahlenden Stern vergrössert – ein Effekt aus dem Revue-Film. Eine solche Kennzeichnung fehlt für die Droge – die Droge bleibt eine Leerstelle. Die Droge wird nicht ins Bild gesetzt, ansonsten ist der Film voller Effekte. Wenn der alternde UFA-Star zu Beginn des Films einen Sport-Reporter kennenlernt und beide zusammen eine Fahrt in der Strassenbahn unternehmen, gehen hinter den Fensterscheiben der Bahn ganze Wasserstürze nieder. Solche Übertreibungen sind damit begründet, dass der Fassbinder-Film auf das Kino der fünfziger Jahre anspielt, als das Erbe des UFA-Films noch lebendig war und es den Mut gab zu etwas grösserem als dem Leben. Fassbinder hat grosses Vergnügen daran, mit den Effekt-Maschinen des Kinos umzugehen und führt die Effekte eher vor, als dass er sich ihrer bedient. Wenn eine Strassenbahn, die zwischen den Bavaria-Studios und München verkehrt, in vielen Einstellungen geboten wird, in denen grosse Wasser an den Fenstern vorbeistürzen, ist das ein Beweis für die Tatsächlichkeit der Strassenbahn und ein Schein-Beweis für die Rekonstruktion der historischen Zeit, in der der Film spielt. Wenn der Erzählapparat so sehr über einen Schauplatz gebietet, muss er sich doch in diese Zeit gänzlich versetzt haben. So gelingt Fassbinder ein Sprung in die Vergangenheit ohne all zu viel Historisieren. Gerade indem er nicht behauptet, die Welt die er zeige, ginge neben dem gezeigten Ausschnitt ebenso weiter.

Während die Bilder in vielen Fassbinder-Filmen wurschtig waren – sind sie hier sehr genau, und manche sind betörend schön. Viele sind der Konstruktion des Sets eingeschrieben. Selbst wenn einiges an der Virtuosität angeberisch ist, ist das eine sympathische Angeberei. Vielleicht, weil Fassbinder das alles nicht so wichtig war, weil es ihm eigentlich nur auf ein paar Blick-Beziehungen ankam.

Nach seinen ersten Filmen gab Fassbinder die Plan-Sequenzen auf suchte nach Gelegenheiten, das Anschauen oder Angeschaut-Werden in Szene zu setzen. Nach Augenblicken, in denen der Blick den Worten eigentlich nicht viel hinzufügen kann, und doch gewagt wird. Das Pathos dieser Augenblicke war stark und dafür verzieh man Fassbinder, dass seine Filme so vieles verweigerten. Keine Gewalt und kein Sex, auch die Schönheit eher behauptet als bewiesen. Dass Fassbinder mit solchen Filmen ein internationaler Star werden konnte war kaum wahrscheinlich. So unwahrscheinlich wie dass eine Pop-Sängerin mit Brille in die Charts kommt.

[Dieser Text ist zuerst in französischer Übersetzung erschienen in: Trafic, Revue du cinéma, Nr.55, Automne 2005.]




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Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit: Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol


von Diedrich Diederichsen

1975 beendet Manny Farber die Suche der amerikanischen Filmöffentlichkeit nach dem Verbleib des von Andy Warhol in den mittleren 60ern begonnenen Projekts. Er hat dessen Fortsetzung nämlich endlich lokalisiert: "It is interesting that the true inheritors of early Warhol, the Warhol of Chelsea Girls and My Hustler, are in Munich (…) By osmosis, Warhol´s kinkiness made a big dent in the Bavarian beer-Bratwurst-Bach film capital, Munich. Probably few of the Munichers have seen any Warhol, but (...) Bike Boy, Chelsea Girls are neighbors under the skin to some of (...) Fassbinder´s anti-cinema (...) The Tartar-faced director-actor has done one film a week (practically) since 1971 which is up to early Warhol pace."(1) Weitere Parallelen seien Fassbinders "leggy females” - Irm Herrmans Stimme erinnert ihn an Viva - und die "painterly ability to hit innocent, insolent colors, using flat, boldly simple formats”. Darüber hinaus erwähnt Farber den "cool eyed use of Brecht”, der Fassbinder befähige "to imprint a startling kinky sex without futzing around in the Bertolucci Last Tango style”(2).

Fassbinder wird von zwei amerikanischen Mitarbeitern des Film Comment kurz darauf mit Farbers Parallelisierungen konfrontiert(3) und es stellt sich heraus, dass Farber tatsächlich in einem wichtigen Punkt Recht hatte. In München kannte man damals den Filmemacher Warhol kaum. Fassbinder nennt nur Paul Morrissey, und mit dem habe er weniger zu tun, allenfalls "Warum läuft Herr R. Amok?" und dieser Film, das sagt er öfter, wäre weniger seiner als der der Gruppe. Fassbinder konzediert – allerdings in Unkenntnis der zentralen Filmproduktion Warhols, der Filme der Jahre 1964-66 - eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Warhol: die Arbeit in und mit einer Gruppe.

Nun ist diese Gruppe aber nicht nur irgendeine. In beiden Fällen handelt es sich um eine Gruppe, die teilweise zusammenlebt mindestens aber große Teile ihrer gesamten Zeit miteinander verbringt. In beiden Fällen wird diese gemeinsam verbrachte Zeit intern als kulturelle Produktion verstanden. Bei Warhol hieß der Ort, an dem man die Zeit verbrachte sogar explizit Factory, bei Fassbinder war es ein Theater, in dem man wohnte und arbeitete. Es hieß erst Action Theater, dann antiteater.

Diese Namen sind sowohl eine Gemeinsamkeit als auch ein kleiner Gegensatz. In der Factory ging es darum, dem, was sowieso stattfand, künstlerische Produktion mit allen denkbaren Medien, eine bestimmte Logik zuzuordnen, die der industriellen und mechanischen Produktion. Dies ist, so die Idee, kein romantisches Künstlertum, keine humanistisch verstandene Kreativität, keine Kritik der Kulturindustrie und des Star Systems, sondern dessen Überbietung. Im Action Theater oder antiteater ging es darum, das, was sowieso stattfand, ein emotional intensives und ökonomisch prekäres Zusammenleben, an dem keinesfalls nur Künstler teilnahmen, sondern auch sogenannte Gammler und Drop outs, also überspitzt gesagt soziale Romantik plus Revolte ohne eine entwickelte Kunst, durch die Beschwörung eines institutionellen künstlerischen Charakters zu stabilisieren.

In beiden Fällen handelt es sich aber um Namen für künstlerisch produktive Gruppen, die sich anders als bei den Künstlergruppen der Avantgarde und der Neo-Avantgarde nur indirekt und vage auf einen künstlerischen Inhalt bezogen. Unter den vielen Parallelen, die Farber aufzählt, habe ich nicht umsonst die der sagenumwobenen Produktivität der Factory wie der Fassbinder-Gruppe herausgegriffen. Diese Produktivität ist bei Warhol zu Beginn und bei Fassbinder dauerhaft tatsächlich selbst ein künstlerischer Inhalt. Ihr Hintergrund ist eine neue schnelle und flexible Verfügbarkeit von zwei Ingredienzien künstlerischer Arbeit unter seinerzeit neuen historischen Bedingungen: diese sind zum einen Medien und Medienformate und zum anderen Stoff.

Zum einen: Warhol kaufte sich eines Tages eine Bolex. Fassbinder übernahm in einer langen verschlungenen Kette von Machtkämpfen Theater weil man damals eben Institutionen einfach so übernehmen konnte, sie waren in den Tagen der Studentenbewegung verfügbar geworden. Vor allem aber, davon handelt zum Beispiel "Warnung vor einer heiligen Nutte", stellte er immer wieder im Kampf mit deutschen Fernsehsendern, Filmförderungen und diversen internationalen Deals den Zwang her, fortgesetzt zu arbeiten, um im Besitz der lebens- und intensitätssteigernden Produktionsmittel zu bleiben. In beiden Gruppen gab es die, einem perpetuum mobile verwandte Idee, dass man durch sichtbare Produktion von Intensität in den Besitz von Produktionsmitteln kommen konnte, dieser Besitz wiederum und die damit verbundene Produktion steigerte wiederum die Intensität. Die Konstruktion und Reproduktion dieses Produktionsmodells war so ein wesentlicher Inhalt der künstlerischen Arbeit – als Voraussetzung und Inhalt. Alle Zweifel an der Gruppe werden nicht als Zweifel an den Produkten, sondern als Zweifel an der Lebensform, am Lebensstil und als Klage über Intensitätsverlust artikuliert. Man denke etwa an Fassbinders beleidigte Klage über die Gruppenangehörigen, die lieber "ihr kleines Pantoffelleben führen" wollen in Joachim von Mengershausens Dokumentarfilm "Ende einer Kommune" von 1970. Ähnlich klingen Warhols Klagen darüber, dass nach dem Attentat auf ihn nichts mehr dasselbe war.

Für dieses Produktionsmodell war es aber auch wichtig, dass es keine klar bestimmten Jobs, keine Arbeitsteilung gab. Wer aus der Gruppe was vor wie hinter der Kamera machte, war im Prinzip aushandelbar. Der Dichter Gerard Malanga wird zum Peitschentänzer, in "Camp" führt jeder vor, dass er auch irgendetwas Anderes kann. Die Rollen und Funktionen vor und hinter der Kamera sind in der Factory und ihrem Umfeld, den Multimedia-Performances von Jack Smith oder John Vaccaros Theater of the Ridiculous, absolut im Fluß. Nicht absehbar war aber auch in Fassbinders Umfeld, wer eigentlich welche Spezialisierungen entwicklen würde. Dass etwa der Regisseur Peer Raben später sich zum Komponisten spezialisieren wird oder Kurt Raab, ursprünglich Requisiteur, zum zentralen Schauspieler wird etc. Fassbinder nutzt diese Ungeklärtheit später öfter als Machtmittel, wenn er etwa in seiner Zeit als Intendant am Theater am Turm einerseits Mitbestimmungsmodelle durchsetzt, andererseits die Schauspieler in A- und B-Schauspieler mit unterschiedlichen Bezahlungen und Pflichten einteilt.(4)

Genau diese Voraussetzung aber, dass keiner prinzipiell für irgendetwas zuständig ist, jeder alles machen kann und die technischen und medialen Apparate immer irgendwie zur Verfügung stehen, sorgt in beiden Gruppen für 1.) die gewünschte Intensität beim Übergang von Leben in Darstellung, 2.) Konkurrenzkämpfe mit diversen Verletzten und Opfern, Traumatisierten, Mordversuchen und erfolgreichen Selbstmorden, 3.) für eine hohe produktive Flexibilität, 4.) - und das gilt vor allem für die Fassbinder-Gruppe - für ein hohes Gespür für die so entstandenen Machtverhältnisse bei allen Beteiligten: sie liegen offen zutage und werden ständig ausgetragen und auch politisch diskutiert. Das stark entwickelte Bewusstsein aber schützt nicht davor, dass ständig neue Opfer produziert werden.

Zum anderen: die so intensivierte und in Hassliebesbeziehungen ineinander verstrickte Gruppe liefert selbst sehr schnell und unmittelbar den Stoff. In Filmen wie Warhols "Camp" oder den diversen "Screen Tests", in "Couch", "My Hustler" oder "Sleep", den diversen Filmen mit und über Edie Sedgewick und unzähligen anderen spielen die Figuren der Factory sich selbst. In Fassbinders Filmen tragen die Rollen oft die Namen der Protagonisten oder die Namen anderer Leute aus dem Umfeld. In allen frühen Filmen spielen die Darsteller entweder sich selbst oder einen andere aus der Gruppe. Hinzugefügt wird lediglich ein, meist einem schon bestehenden Genre entnommener fiktiver Rahmen.

Warhols Idee der Produktion ging ungefähr so: Wenn die Konstante Produktion maximal unaufwendig und mechanisch läuft, dann wird die Variable Person maximal groß, der Star wird zum Superstar. Da aber jede Erzählung oder Handlung wieder die Produktion größer und komplizierter machen würde und von der Person und ihrer Präsenz ablenken, muss der maximal eindrückliche Superstar als lebendes Bild verharren, als Pose eines Versprechens, eines Potenzials. Selbst bestimmt, aber noch vor der Handlung.

Fassbinders Grundidee ist ungefähr die: Im Kapitalismus übersteht das Subjekt sein elendes Leben nur in der Pose. Pose ist auch hier ein Rest Selbstbestimmung um den Preis der Handlungsunfähigkeit, aber es ist eine Notlösung, freilich die, an der sich der letzte Rest individueller Würde zeigt: nichts machen, aber auch keine Scheiße. Pose steht in der Mitte zwischen Aktion und Passion. Diesen gesellschaftlichen Mechanismus nicht nur darzustellen, sondern zu reproduzieren ist die Arbeit des Schauspielers. Die Arbeit des Regisseurs sei es nun die Pose entstehen zu lassen und dann wieder kaputt zu machen – so entsteht Bewegung und Narration, die Mechanik und die Genealogie der Pose wird sichtbar. Fassbinder will ja erklärtermaßen aufklären. Später wird auch die neuartige medienspezifische Idee der Pose durch die alte theaterspezifische Idee der Lebenslüge ersetzt. Auf diesem Wege entfernt sich Fassbinder in einigen Filmen von Warhol.

Die Pose im Sinne eines narzisstischen lebenden Bildes, einer Kinokategorie, die nicht nach der Narration und der Konsequenz, sondern nach dem gedehnten Moment strebt, ist auch in einem allgemeineren Sinne die neue, man kann sagen: minoritäre oder auch in einem weiteren Sinne queere Position zwischen Selbstermächtigung und Unterdrückung. Erfunden haben sie James Dean und Montgomery Clift, verfeinert und vom Nebenprodukt zur Hauptsache befördert hat sie Andy Warhol. Auch Fassbinder liebt die Pose, zugleich muss er sie zerstören und in die Zange der benachbarten Möglichkeiten, vollständige souveräne Subjektwerdung und sklavische Abhängigkeit nehmen. Bei Fassbinder sind die Poser nicht positiv. Die Über-Poser in "Katzelmacher" entwickeln sich zu rassistischen Widerlingen. Bei Warhol stellt hingegen die Pose ein Versprechen dar. Zunächst ist sie einfach das, was entsteht, wenn man einen originellen, interessanten Menschen filmt, die Gewährung des Rechts gefilmt zu werden, das Walter Benjamin jedem Menschen zugesteht.

Craig Owens hat das Posieren vor der Kamera mit dem grammatischen Begriff des Mediums verglichen.(5) Man spricht ja in der grammatischen Terminologie nicht nur bei den Substantiven von Geschlechtern, sondern auch bei den Verben gibt es das sogenannte Genus verbi. Die vertrauten Genera verbi sind Aktiv und Passiv, das dritte Geschlecht ist aber, anders als bei den Substantiven, nicht ein Neutrum, sondern die etwa im Altgriechischen eigenständig vorkommende Form des Mediums: man übersetzt das Medium reflexiv. Sich geben versus geben und gegeben werden. Owens und andere heutige Interpreten von Warhol aus einer Sicht der queer studies kann man so lesen, dass für sie dieses posierende Subjekt im Medium auch so etwas wie ein blueprint eines politischen Subjekts ist, jenseits von Sadismus und Masochismus, jenseits von ungebrochener Macho-Souveränität und minoritären Opfer.

Fassbinder ist sich da nicht so sicher. Es ist nicht klar, ob er den Poser nur durch sadistische Angriffe und masochistische Zustände testen, verstören und letzten Endes erheben will oder ob er gerade den Schritt aus der Pose für den eigentlichen und wünschenswerten Durchbruch zur Politik hält. Man könnte den Unterschied zwischen beiden in dieser Frage in die Sprache von 1975 übersetzen. Hughes und Riley unterscheiden im Gespräch mit Fassbinder zwischen der Warholschen Homosexualität als Folge sexueller Unterdrückung und Fassbinders Homosexualität als Spiegelbild der Heterosexualität. Farber stellt Fassbinders "marxist world" dem "liberated SoHo" gegenüber. Die in den 90ern ausgetragenen Diskussionen zwischen "subkulturalistischen" und "universalistischen" Befreiungstheorien werfen hier die Schatten ihrer Antagonismen voraus.

Es gibt aber auch bei Warhol eine andere, eine zweite Instanz, die sich zwischen die rein mechanische Kamera und die reine Pose schiebt – ohne jetzt zur Narration zu streben. Diese Instanz verkörpert mehrfach Warhols Kollaborateur und Script-Autor Ronald Tavel. Während des "Screen Tests No 2" mit Mario Montez stellt dieser später vor allem als Theaterautor hervorgetretene Ronald Tavel aus dem Off einige Fragen an Montez. Montez bewirbt sich für eine Rolle und anders als bei den meisten anderen Filmen aus der Screen- Test-Reihe scheint es sich tatsächlich um eine Art Casting zu handeln, jedenfalls glaubt Montez das. Montez, der u.a. in Jack Smiths "Flaming Creatures" eine Drag-Rolle gespielt hat, soll auch hier für eine weibliche Rolle vorsprechen. Doch Tavel treibt ihm immer weiter in die Enge und demütigt ihn. Schließlich befiehlt er ihm seinen Hosenschlitz zu öffnen. Montez ist sichtbar im Kern seiner Person zutiefst beschämt, beleidigt und gedemütigt. Zum einen wegen der immensen allgemeinen Respektlosigkeit und sexuellen Demütigung an sich, zum anderen wegen der spezifischen Demütigung seiner sexuellen Identität als Drag Performer.

Zugleich erscheint dem Zuschauer Montez Verwirrung und seine Scham auf verwirrende Weise als ein schöner und vor allem beabsichtigter Moment. Die verhaltene Empörung und Unsicherheit von Montez, die in keinem Verhältnis zu Tavels Gemeinheit steht, nicht weil Montez höflich wäre, sondern weil ihn Tavel so getroffen hat, öffnet einen unüberschaubaren moralischen Abgrund, der sich zwischen der Zumutung und Beleidigung und ihrer Grundlosigkeit öffnet. Während die starre Kamera immer mehr zum Freund des Darstellers wurde, zu seinem Anker in seiner Darstellung, erscheinen die immer sarkastischeren Regieanweisungen von Tavel bodenlos und gemein. Montez wirkt wie von einer Waffe getroffen. Der Moment hat eine Tiefe, die dazu führt, dass der Voyeurismus und die Identifikation oder Empathie mit der beschämten Figur sich gegenseitig verstärken und infrage stellen.

Douglas Crimp hat darauf hingewiesen, dass hier strukturell und historisch ein proto-politischer Moment steckt, der eben nicht so sehr in einer Aufklärung über sexuelle Unterdrückung läge, sondern in der Mobilisierung gerade der Besonderheit des queeren Subjekts(6) - und zwar in einem historischen Sinne für die proto-politische Entwicklung von queer politics vor Stonewall, die Crimp "Queer before Gay" nennt als auch im Sinne einer Mechanik der Entstehung und Herstellung von Präsenz und Ausstrahlung. Im Anschluss an Eve Kosofsky Sedgwick beschreibt Crimp wie Tavels wohl gesetzte und sadistisch fein komponierte Grausamkeit schließlich die "außerordentliche Reinheit des Superstars" hervorbringt: "Er hat nichts an sich als Glamour", zitiert Crimp Stefan Brechts einschlägiges Werk "Queer Theater" aus dem Jahre 1972. Mit anderen Worten, erst die zusätzliche Arbeit eines Dompteurs und Dominators bringt die Qualität dieser Reinheit hervor, die Warhol ursprünglich für die reine, nur von dem Darsteller und einer demütig aufzeichnende Kamera erwartet hatte.

Warhol brauchte also eine Doppelspitze. Während er mit der Kamera zu seiner geliebten Maschine verschmolz und sich quasi als Spiegel anbot, und Tavel (oder andere wie Chuck Wein, der in "Beauty # 2" die arme Edie Sedgewick quält), die mit Regieanweisungen und auf die einzelnen Akteure zugeschnittenen Fragen und Verunsicherungen die Spiegelung in der Rolle gefährdeten. Dabei war für die Factory-Akteure die Fallhöhe besonders hoch. Sie hatten schließlich auf ihre Rolle gewettet, sie sollte tragfähig sein, wurde sie kaputt gemacht wie bei Mario Montez, gab es keine andere Identität, keine allgemeine Schauspieler-Profi-Routine, auf die sie sich zurückziehen konnten. Mit Warhols Kamera hatten sie sich geeinigt, dass sie mit dieser Kamera-Person identisch werden würden, Tavel durchbrach diesen Vertrag, indem er sich benahm wie ein Regisseur. Fassbinder, das wäre meine These, wäre eine Synthese aus Warhol und Tavel, dem good cop des spiegelnden Mediums und dem bad cop des sadistischen Theatertyranns. Diese Synthese ist nicht nur die Synthese aus zwei scheinbar gegensätzlichen Schauspielertheorien sondern auch zweier verschiedener Medienpraktiken, zwischen dem nackten, gefährlichen Präsenz auf der Bühne, verschärft dadurch dass auf dieser Bühne in Kommune und Factory mein Leben stattfindet, einerseits und der sicheren Situation, in der ich eine Kamera allein durch meine idiosynkratische, glamouröse Präsenz zwingen kann, mir zu folgen andererseits.

Man hat sich immer gewundert, warum es Fassbinder so leicht fiel zwischen Theater und Film, aber auch Film und Fernsehen zu wechseln, hat seine Meisterschaft der Adaption von einem Medium zum anderen gelobt. Genau das ist aber die eigentliche synthetische Fähigkeit, die sich in den beiden gegensätzlichen Ideen der Schauspielerführung spiegelt: einerseits soll der Schauspieler gar keiner sein, sondern nur eine beautiful person, die nur ihre Pose, die ihr Leben ist, zur Schau stellt; andererseits soll der Schauspieler durch persönliche Verletzungen auf das Unwahre seiner Pose zurückgeworfen werden in den Abgrund der Darstellung, bei der es gerade für ihn, den Schauspieler/Superstar des Warhol-Typus keine Versicherung gibt.

Diesen Moment gibt es nun bei Fassbinder andauernd. Für die frühen Filme hat auch wieder Farber eine sehr schöne Formulierung gefunden, er spricht von dem Prinzip der Musical Chairs – also dem Spiel, das im deutschen Sprachraum "Reise nach Jerusalem" heißt. Eine Gruppe ist in Bewegung eine ganze beiläufige Szene lang, der im Grunde nur Posen eingenommen und ausgefüllt werden und plötzlich trifft einen die Keule der Demütigung und er ist am Boden oder draußen. In "Warnung vor einer heiligen Nutte" hat Fassbinder die eher flachen Bühnenbilder seiner aller ersten Filme etwas weiter geöffnet. Die posierenden Gruppen stehen nun in der Tiefe eines Raumes, meistens ein Hotelfoyer oder ein Filmset. Wieder stehen Paare und kleine Grüppchen an der Bar oder knutschen oder betreiben das, was man früher Engtanz nannte zu Fassbinders geliebten Leonard-Cohen-Songs. Die Bewegung besteht nun darin, dass immer einer in die Gruppe einbricht, jemanden beleidigt wird und der Gedemütigte zur nächsten Gruppe zieht, wo er entweder erneut beleidigt wird oder einen anderen Vorgang auslöst, der in einer Demütigung endet.

Wir schauen also zu, wie sich die Personen gruppieren, sich in Posen stabilisieren und dann in der Pose zerschmettert werden und vor Scham die Gruppe verlassen müssen. Später schälen sich bei Fassbinder aber Einzelschicksale heraus. In "Faustrecht der Freiheit", "Händler der vier Jahreszeiten" und "Angst essen Seele auf" geht es nicht mehr um einen endlosen Zirkel von Pose und Zerstörung, sondern um exemplarische Schicksale, um Narration und Entwicklung. Hier kann die Logik der Pose nicht mehr greifen und womöglich sind diese Filme auch im Sinne der oben angedeuteten Möglichkeit als ein Einspruch gegen die Pose zu lesen.

So wie Douglas Crimp die Strategie Tavels im "Screen Test No 2" im Kontinuum proto-politischer schwuler Kultur vor Stonewall gelesen hat und in der vorhin beschriebenen Weise gerade in der Vertiefung der Pose und ihrer Zuspitzung in Momente der Scham und damit verbundener Ausstrahlung und nicht in ihrer normalisierenden Eintragung in ein Drama ihren wesentlichen Punkt einer spezifisch queeren Politik sieht, die heute durch die Homogenisierung und Desexualisierung schwuler Kultur in den USA" gefährdet sei, so hat Fassbinder darauf bestanden, keine "romantische Sicht auf das Leben der Homosexuellen"(7) zu entwerfen, wie er sich ausdrückt, zu zeigen, dass alle seine Minderheiten eben einfach nur Unterdrückte seien, wenn auch markierte Unterdrückte.

Crimp weist dagegen daraufhin, dass diese Beschämung (oder Bestrafung) im Kontext einer frühen Selbstverständigung einer schwulen Community gelesen werden muss. Fassbinder hat die posierenden Subjekte universalisiert: es sind Proletarier, Gastarbeiter, Prostituierte und andere Marginalisierte. Dennoch funktionieren auch bei Fassbinder ihre Posen und Beschämungen genau so wie sie von Warhol/Tavel bzw. Crimp als schwule bzw. queere konstruiert wird, nach dem gleichen Mechanismus. Und das gilt nicht nur für die fiktiven Charaktere, sondern auch und vor allem für das Verhältnis der Darsteller zu ihrer Rolle. Die Rolle ist zugleich Chance der Selbstdarstellung und Beschämung. Folgt man indes Crimp, und dafür gibt es bei Fassbinder viele Bilder, führt aber gerade diese Beschämung zu dem Glanz der Figuren in einem queeren Sinne.

Was Fassbinder nur anderes macht, ist dass er die Beschämung aus der Immanez der Darstellung löst, sie gilt auch den fiktiven Charakteren. Ja, sie verschiebt sich immer mehr zu den unglaublichen Ungerechtigkeiten, die diese erleiden müssen. Wie sagt doch Farber über das entscheidende Element der Plots des mittleren Fassbinder: Humiliation; daily, hour by hour, in the shop, at breakfast, humiliation everywhere(8). Diese fortgesetzten Demütigungen sind aber nur locker an Plots gebunden, sie haben nur sehr locker etwas mit Entwicklung zu tun. Sie sind eher zirkulär wie Höllenstrafen und Hadesqualen – so statisch wie die Pose selbst. Die Demütigung bricht nicht wie bei Warhol und Tavel in die Pose ein, sie ist genauso permanent wie diese – und sie hat noch einen anderen, einen zusätzlichen Hintergrund. Die Demütigung ersetzt nach und nach die Pose und wird zu einer eigenen ähnlichen, aber alternativen Struktur. Sie erscheint nämlich nun vor dem Hintergrund einer unfassbaren Ungerechtigkeit. Während die Demütigung bei Tavel/Warhol punktuell und gemein ist, ist sie bei "Angst essen Seele auf", "Händler der vier Jahreszeiten" etc. unfassbar ungerecht und strukturell. Die Opfer leben in ihr wie in einer Pose, nur dass sie nicht mehr die Macht haben, sich im Vollbesitz ihrer expressiven und exhibitionistischen Kräfte an eine Straßenecke zu stellen oder sich in eine bestimmte Schale zu werfen: sie werden gestellt.

Doch wie bei "Screen Test No 2" hat die Ungerechtigkeit etwas Schönes, nein sie hat etwas Erhabenes. Sie ist unendlich und scheint uns verschlingen zu können, aber wir stehen diesseits mit aller unserer Empathie und schauen zu. Fassbinder hat wiederholt darauf hingewiesen, dass man die Schönheit des Leidens verstehen lernen muss, um seine Filme zu verstehen(9). Dennoch ist da kein simpler Masochismus gemeint, der ja immer schon die eine Demarkationslinie der Pose gebildet hat und als Nachbar jederzeit zur Verfügung steht. Im Masochismus wird das Leid gesucht und gefunden: es kann keine Erhabenheitseffekte geben, es bleibt diesseitig. Der Erhabenheitseffekt entsteht vielmehr durch das Gegenüber der ungerechten Macht und das Gerechtigkeitsgefühl, das sich beim Zuschauer einstellt, der sich versucht des Bodens, der Sicherheit zu versichern, der ihn davor schützt, in diesen Abgrund zu stürzen.

Im Gegensatz zur klassischen Tragödie, die ja ähnlich funktioniert, aber zur Grundlage hat, dass genau das Gesetz, das den mit Empathie besetzten Protagonisten ins Unglück stürzt, von uns bejaht wird und werden muss, ist diese Gerechtigkeitsidee, die sich im Negativ an den Ungerechtigkeiten entwickelt, erst im Werden. Sie ist unfertig, wir schauen ihr zu, wie sie sich bei uns entwickelt. Das ist in jedem Falle politisch: es ist eine Gerechtigkeit a venir und doch ist sie auch unmittelbar und quasi spontan zur Stelle. Sie wirkt auf den ersten Blick banal, weil sie sich so verlässlich einstellt wie die Tränen sich im Melodram einstellen, aber sie beruft sich nicht auf Selbstverständlichkeiten zwischen Guten und Bösen, sondern muss mit den Konfliktabgründen umgehen, die sich unter lauter Opfern entwickeln. Es gibt einen Bezugspunkt der Bosheit außerhalb des Konflikts – außer den aus der Ungerechtigkeitserhabenheit sich negativ entwickelnden Gerechtigkeitsgefühlen. Wir sind gezwungen, um dies aushalten zu können, uns Gerechtigkeit vorstellen zu müssen.

Vermutlich hat Fassbinder wie Warhol die gesellschaftliche Produktion der Pose und die technisch darstellerische im Leben der Darsteller und ihrer Gruppe immer wieder parallelisiert. Die verheerenden immer wieder gemeldeten und in Memoiren von Fassbinder-Vertrauten und auch ihm selbst gerne geschilderten Grausamkeiten innerhalb der Gruppe(10) scheinen die auf der fiktiven Ebene dargestellten Ungerechtigkeiten überlagert und befeuert zu haben. Nur in der Gruppe gab es dann den, den es in den Filmen oft nicht gibt: den Chef, den Machthaber, die Autorität. Die Leute haben ihn dann geliebt und gehasst, die Zuschauer hatten den Vorteil darüber hinaus geraten zu können.

(1) Manny Farber, Rainer Werner Fassbinder, Film Comment Vol. 11, No 6, Nov./Dez. 1975, zitiert nach derselbe, Negative Space, New York: da capo 1988 S.307f.

(2) a.a.O., S.312

(3) John Hughes/Brooks Riley, A New Realism, Film Comment Vol. 11, No 6, Nov/Dez 1975, zitiert nach dieselben, Ein neuer Realismus, (deutsch von Marion Schmid), in: Robert Fischer(Hg.), Fassbinder über Fassbinder, Frankfurt/M: Verlag der Autoren 2004, S.348f.

(4) Kurt Raab/ Karsten Peters, Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder, München: Bertelsmann 1982, S.137

(5) Craig Owens, Posing, in derselbe, Beyond Recognition. Representation, Power and Culture, Berkeley, Los Angeles und London: University of California Press 1992, S.201-217, zitiert nach: derselbe, Posieren (dt. Von Wilfried Prantner), in Herta Wolf, Diskurse der Fotografie, Frankfurt/M: Suhrkamp 2003, S.112f.

(6) Douglas Crimp, Mario Montez, for shame, in Diederichsen, Frisinghelli, Gurk, Haase, Rebentisch, Saar und Sondergger (Hg.), Golden Years – Positionen und Materialien zur queeren Subkultur 1959-1974, Graz: Camera Austria, im Druck

(7) Hughes/ Riley, a.a.O., S.348

(8) Farber, a.a.O., S.313

(9) John Hughes/Ruth McCormick, Der Tod der Familie – Rainer Werner Fassbinder über Angst vor der Angst, in Robert Fischer (Hg.), a.a.O., S.394

(10) Wolfgang Limmer/Fritz Rummler, "Alles Vernünftige interessiert mich nicht", in Fischer, a.a.O., S.510ff

[Dieser Text ist zuerst in französischer Übersetzung erschienen in: Trafic, Revue du cinéma, Nr.55, Automne 2005.]




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