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Mittwoch, 7. September 2005
Anmerkung zum Beruf des Auteur Réalisateur de Films Von Jean Grémillon Gibt es ein besonders schwieriges Problem, an dessen Lösung man weder ohne Scheu noch ohne Hemmungen heranzutreten vermag, so ist dies wohl die genaue Analyse einer so vielfältigen Tätigkeit, wie es die des auteur réalisateur de films ist. Diese Analyse würde ihrerseits eine solche Loslösung von ihrem Untersuchungsgegenstand - einer im höchsten Maße rebellischen Materie - erfordern, daß diese Abstraktion sich unverzüglich im Widerspruch zur Ausübung jenes Berufes befände, welche, nach meiner Meinung, demjenigen, der sich der Techniken und Kunstgriffe dieses Berufes bedient, kein wirklicheres und von vornherein triftigeres Wissen verleiht, als es das eines Kopfes ist, dessen eigentliche Tätigkeit davon ganz losgelöst ist. Indessen gibt es einen direkten Weg, das kinematographische Problem in Angriff zu nehmen, und dieser besteht darin, daß man von seiner etymologischen Basis ausgeht: Schrift der Bewegung oder Schrift des Lebens (Kinematograph oder Biograph), was auf dasselbe hinausläuft. In der Tat böte sich an, eine praktische Bestandsaufnahme vorzunehmen, die Gegebenheiten und Manifestationen des Kinos zu untersuchen, die Übereinstimmung zwischen Belegen und Definitionen zu überprüfen und die Abweichungen zu studieren, die auf diesem Gebiet haben stattfinden können. Diese Bestandsaufnahme würde ganz naturgemäß die Unterteilung des Gegenstandes in drei Teile oder Partien herbeiführen:
Ein jeder dieser Teile würde sich seinerseits wieder soweit unterteilen lassen, dass der Umfang dieser Schrift die sämtlichen Unterteilungen nicht zu fassen vermöchte. Genauer ausgedrückt handelt es sich bei dem, was wir dem Leser hier unterbreiten, also um Betrachtungen, um unvollständige Beobachtungen, die in die erwähnte Anordnung sich einfügen und die im übrigen mit einigen der angezeigten Unterteilungen sich überschneiden werden. Die Arbeit des Auteur Réalisateur Es gibt im schöpferischen Verfahren des auteur réalisateur cinématographique nur das Problem des Stilistischen - wobei ich mich auf ein Verfahren beziehe, das im wesentlichen darin besteht, die vielschichtige Sprache, die gehandhabt wird, also Bilder und Töne, mit Bedeutung zu erfüllen. Anders ausgedrückt: es geht darum, das Reale hervorzurufen und es gegenwärtig zu machen, sei diese Gegenwart nun erklärbar oder unerklärbar, das heißt, die Geheimnisse einer Welt zu entdecken oder wiederzugewinnen, einer Welt, die sowohl die der Menschen als auch die der Dinge ist. Der gesunde Menschenverstand betrachtet im allgemeinen das Reale und das Poetische als Gegensätze. In meinen Augen ist das ein unleugbarer Irrtum, denn es scheint offenbar, daß die gewöhnliche Sprache der Bilder die Wahrheit in sich verbirgt. Ein Glas, eine Karaffe, ein Handschuh, das Knarren einer Wetterfahne, Zweige, die knacken, ein Gesicht, ein Wort - wie oft verlieren sie, sobald sie kinematographiert, das heißt mit photographischen Mitteln reproduziert sind, diejenige Bedeutung, die sie im Leben der Menschen durch den Gebrauch, den diese von ihnen machen, eingenommen haben. Sie sind nunmehr nicht länger die Imitation dessen, was sie ins Leben rief, und werden zu Bedeutungsträgern. Sie nehmen eine operative Eigenschaft an, die uns an ihnen die unergründliche Realität wird entdecken lassen, je nachdem wie unsere Phantasie unsere Anteilnahme oder unsere Ergriffenheit sich daran geheftet haben werden. Dies ist der Bereich, in dem das Kino der Sprache der Bilder eine so erstaunliche und beunruhigende Tiefe verleiht. In Gestalt lebender Personen, von Ereignissen und Handlungen projizieren wir Bilder in die äußere Welt, die manchmal sehr einfach sind und das in Klarheit erscheinen lassen, was uns als rätselhaft erscheinen möchte - als Wiederherstellung einer Welt in ihrem wahren Gefüge, wo das Außergewöhnliche gewöhnlich und das Gewöhnliche außergewöhnlich ist. So wendet der Mensch sich einst vertraut gewesenen Gegenständen zu, Gesichtern, Landschaften, Fetzen einer Melodie, um mit Hilfe dieses magischen Treibguts all das heraufzubeschwören, was in ihm darauf wartet, in Bewegung gesetzt zu werden. Aber in meinen Augen ist die Photographie von unbekannten oder geliebten Gesichtern, die Kinematographie der Gesten, der Haltungen und Handlungen nur totes Abbild, dem das Tränken in einem Element abgeht, in dem diese in beständiger Verschiebung befindlichen Realitäten ihren tiefen Sinn annehmen. Dieses Element ist der Ton. Für diejenigen, die eine rationalistische Erklärung des kinematographischen Ausdrucks anstreben, sind die Bilder und die Töne reduzierbar auf die Dimension eines Naturphänomens, vollkommen erklärbar durch die Mechanik jeder lebensbedingten Äußerung: ein Baum ist ein Baum, und ein Wald ist eine Ansammlung von Bäumen. Alles ist erklärbar und erklärt. Indessen wäre es gut, zu ermessen, was im Kopf eines Zuschauers vor sich geht. Jegliche Bild- oder Tondarstellung löst in ihm eine umfassende Vorstellung aus, von der jenes Ausgangsmaterial nur einen Teil bildet. Wenn das, was sie zeigen oder zu Gehör bringen, Teil einer bereits erlebten Empfindung ist, dann wird diese Empfindung in ihrer Totalität sich wieder herstellen, und somit - und das ist von grundlegender Bedeutung für das Vermögen des auteur réalisateur de films - werden Gesetzmäßigkeiten von Gleichzeitigkeit und Übereinstimmung unverzüglich den Platz der realen Beziehungen zwischen den Dingen einnehmen. Diese Gleichzeitigkeit und diese Übereinstimmung sind es, die Beziehungen offenbar werden lassen, welche ursprünglich nicht gegeben schienen. Es wird somit ersichtlich, daß der Cineast im Hinblick auf den Zuschauer gleichzeitig auf Überraschung und auf Erwartung setzt, da es ihm obliegt, jedem Augenblick innerhalb der Kette der geschaffenen Bilder die Sprengkraft einer Entdeckung zu geben. Die Filmmontage ist somit das einzige Mittel, über das der Cineast verfügt, um dem Unvorhersehbaren den Charakter des Notwendigen zu geben. In meinen Augen ist dies ein Hauptelement der Dialektik des Films. Der Film ist nur dort existent, wo sich diese unerbittliche Besitzergreifung vom Zuschauer ereignet, deren Instrument der Rhythmus ist. Die Zusammenstellung der Bilder und Töne bringt indessen unermeßliche Schwierigkeiten mit sich. Es ist sehr mühsam, die Bilder von ihren traditionellen Inhalten abzulösen, während es ein Leichtes ist, einen Ton von seinem ursprünglichen Sinn wegzuleiten. Und dennoch beruht das Gefühl von Gegenwärtigkeit im Kino auf dem Zusammentreffen zwischen dem dargestellten Ereignis und der Intention des tonlichen Geschehens, welches dieses Ereignis ankündigt oder ausdehnt. Der Ton trachtet weniger danach, eine eindeutige Information zu geben, als danach, unsere intuitive Wahrnehmung zu leiten - und von daher besitzt er ein wunderbares Vermögen, Gefühlserschütterungen zu vermitteln. Sagen wir, daß die Töne beschreibende und das Gemüt erregende Gehilfen des Bildes sind, wobei das Bild die räumliche Begrenzung ihres Wirkens oder ihrer Macht abgibt. Ihre Kombination miteinander, das heißt die Kunst des Schreibens in Bildern und in Tönen, ist wie ein System der Zeichengebung, das sie uns wahrnehmbar machen, indem sie die äußere Realität in unergründliche innere Realität verwandeln durch die Offenlegung von Entsprechungen und Gegensätzen. Doch übt die Magie der Töne nicht in allen Fällen ihre Wirkung auf die Bilder aus, und umgekehrt. Dies liegt daran, daß es tote Töne gibt - wie es auch tote Wörter gibt -, und wir sehen uns veranlaßt, die Frage zu stellen, worin die Wirkungskraft eines Geräusches begründet ist. Ist ein Geräusch per definitionem wirksam - also indem es in uns die Entstehung eines Bildes verursacht, das genau dem Objekt entspricht, welches das Geräusch erzeugt - oder eher über die Evokation - uns so die Wahl lassend zwischen mehreren Bildern von relativ ungenauer und unbestimmter Beschaffenheit, so daß der Sinn, den es annehmen wird, seine Zuweisung durch uns erfährt -, oder ist es vielleicht wirksam, indem es uns behext - ruft also das Geräusch, insofern es kein Erinnern mehr zuläßt, andeutungsweise ein Bild hervor und hat so teil an der Schaffung eines Zustandes von Wohlbefinden oder von Unbehagen, welcher demjenigen Bilde Vorschub leistet, das wir gewillt sind, im Zuschauer/Zuhörer sich einstellen zu lassen? Diese Art Alchemie ist ein mühsames Spiel in einer Welt der Töne, deren Höhe und Klangfarbe nicht festgelegt sind. Wenngleich die Geräusche sich analogisch in die Bestandteile eines bestimmten tonlichen Gefüges gliedern lassen, ist ihre Beschaffenheit selbst sehr viel rebellischer als die der Musik. In der Musik verhält es sich so, daß die Töne in einer Stufenfolge und in einer Ordnung auftreten, die sehr genau ihre Tonart bestimmt. Der Komponist wirft diese Ordnung durcheinander und bringt die Töne in eine Reihenflge, eine Nachbarschaft, die eine wirkliche Verwandtschaft innerhalb dieser neuen Familie hervorbringen wird, deren Bestandteile endlos auswechselbar sind. Aber die Stufen einer Skala oder einer Tonart besitzen eine besondere Wertigkeit, die in sich dem operativen Genie des Musikers keinen Widerstand entgegensetzt. Das Ausmaß der Kombinationsmöglichkeiten von sichtbaren und tönenden Bildern ist derart, daß der Cineast unablässig auf das Bekannte zurückzukommen vermag und daraus in endloser Zahl neue Ausdrücke hervorbrechen lassen kann in einer Welt, die ewig jungfräulich zu bleiben scheint. Undatierter Text aus dem Nachlaß Jean Grémillons. - Aus dem Französischen von Peter Nau und Melanie Walz. Dank an Christiane Grémillon. [Zuerst veröffentlicht in Filmkritik 316, Jahrgang 27, Heft 4, April 1983; Themenheft „Auf den Spuren von Grémillon“, zusammengestellt von Peter Nau. Mit bestem Dank an Peter Nau.] pburg, 7. September 2005 um 10:05:21 MESZ
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