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Dienstag, 26. Februar 2002
Offenes Geheimnis Zu den Filmen von Maurice Pialat von Bert Rebhandl Blue transcends the solemn geography of human limits (Derek Jarman)
Macht Viele seiner Filme handeln von den Institutionen, durch die die Gesellschaft ihre Macht über die Individuen ausübt: das Sozialamt (L’enfance nue), die Schule (Passe ton bac d’abord), die Arbeit (Loulou), die Polizei (Police), die Kirche (Sous le soleil de Satan), der Kunstmarkt und die Medizin (Van Gogh), und in all diesen Filmen immer wieder die Ehe/Familie. Das Dilemma ist für die Protagonisten kaum lösbar: Wenn man erwachsen werden will, kann man sich der Bewegung in diese Institutionen hinein nicht entziehen, es sei denn um den Preis der Delinquenz. Umgekehrt deformiert die Institution ihre Träger, und es geht das verloren, wonach die Filme von Pialat suchen – Spontaneität, oder eben: Freimut. Es scheint, als wollte Pialat verschiedene Optionen in diesem Konflikt an dem Schauspieler Gérard Depardieu ausprobieren. Der inhaltsleere Vitalismus des Kleinkriminellen Loulou und der Professionalismus in Police verhalten sich zu einander wie zwei Aspekte einer Persönlichkeit, die auch in der Überwindung dieser Spaltung nicht "zu sich" finden würde. Der priesterliche Gehorsam als radikale Unterwerfung unter ein Prinzip stellt einen paradoxen Ausweg aus dieser hoffnungslosen Freiheit dar. Die möglichen Gegenentwürfe verbindet Pialat häufig mit klassenspezifischen Zeichen: kleinbürgerliche, eher noch proletarische Milieus lassen bei ihren Festen (Hochzeiten!) erahnen, was vielleicht möglich wäre, trotz Fron und Staublunge, trotz Arbeitslosigkeit und unwirtlicher Behausungen. Psychologie Wenn die Genealogie unrein wird, wächst der Raum der Freiheit. Zweimal reagieren die Stiefeltern in L’enfance nue ausdrücklich nicht "wie Gendarmen" (so die Formulierung der Stiefmutter), zweimal unterbleiben Sanktionen, die man hätte erwarten können. Es ist dies nicht die geringfügigste Unterbrechung eines Systems von Ursache und Wirkung, von Überwachen und Strafen. Kein Naturalismus setzt sich durch, kein Reflex wird ausgelöst, sondern eine unvermutete Geste ermöglicht einen Ausweg hin zu so etwas wie einem Humanismus, wie Pialat ihn meinen könnte, nämlich einer Natürlichkeit, einer Unverbildetheit, Unbehauenheit der Person, einer Kultur ohne jene spezifisch bürgerliche Kultiviertheit, die bereits wieder ein Korsett bedeutet und für die der kunstsinnige Dr. Gachet in Van Gogh die markanteste Verkörperung ist. Pialat ist kein Verfechter der Psychologie. Aber er läßt, anders als Godard oder Bresson, die Arbeit der erzählerischen Dekonstruktion des Identitätskinos gleichsam sich selbst erledigen. Geläufige Verkettungen funktionieren bei ihm nicht einmal mehr als deren Umkehrungen oder Entstellungen. Eher könnte man meinen, er vertraue die Filme seinen Darstellern an, deren Physis, nicht Psychologie, sie prägt. Ankommen Am Ende von Van Gogh spricht die junge Marguerite dem toten Maler einen Satz nach. "Er war mein Freund." Jetzt, da er abwesend ist, muß er dieses emphatische Bekenntnis zulassen, das zugleich eine Aneignung ist. Zuvor hatte er es durch sein Auftreten abgewehrt, widersprüchlich, nicht ausrechenbar, zurückgezogen hinter seine immerwährend in einer Art Anspannung halb zugekniffenen Augenlider. Es ist nicht ganz ohne Interesse, daß früh in diesem Film eine Untersuchung an Van Gogh vorgenommen wird. Dr. Gachet, Bürger, Arzt, Kunstsammler, in den Augen seiner Tochter ein "Konformist", horcht in den Patienten hinein; er kann nicht viel mit ihm anfangen, weil er keine Instrumente dabei hat. Dann überprüft er noch den Reflex, er funktioniert – eine leere Funktion. Der Körper gibt sein Geheimnis, die Seele, nicht preis. Aber im Kopf des Malers sitzt der Schmerz. Es ist die Tragik des Vincent van Gogh, wie Jacques Dutronc in spielt, daß ihm der Körper ein Gefängnis ist, aus dem er nicht freikommt, außer im Tod und in seiner Kunst. Zugleich aber erzählt der Film eine Geschichte von einem anderen toten Körper gleich zweimal, es ist die Leiche eine gefallenen Revolutionärs im Paris des Jahres 1870. Dem klinischen Blick des Dr. Gachet bricht in diesem Moment nur ein medizinisches Weltbild zusammen, für die Mutter des Toten hingegen eine Welt. Pialats Kino arbeitet dagegen an, daß der Körper erst im Tod erkannt wird. Er mutet dem Körper eine Wahrheitsarbeit zu und verschweigt nicht, daß er viel häufiger zum Ort der Züchtigung und des entfremdeten Begehrens wird. Er versucht, die Schauspieler, ob Laien oder Stars, aus der Erstarrung zu holen. Was im Leben möglich ist und was nicht, das ist bei Pialat ein offenes Geheimnis, offen wie eine Wunde und das Meer. (1996) filmkritik, 26. Februar 2002 um 07:53:31 MEZ
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