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Donnerstag, 9. Januar 2003
Jean-Marie Straub zum 8. Januar 2003 Eine kleine Sammlung von Texten und Materialien (Übersetzung und Zusammenstellung: Manfred Bauschulte) Einstieg ein Text zu "SICILIA": Und es geschieht etwas Merkwürdiges. Das Genie, das im GESPRÄCH IN SIZILIEN wirkt, hält das Pendel, das zwischen der abstrakten Dichtung und härtesten Verismus schwingt, einen Augenblick an, so daß sich das Unerhörte ereignen kann: die grausamste Anklage wird zur reinsten Poesie, die zauberischste Schönheit zum furchtbarsten Schrecken. Das ist es, was gleich zu Beginn des GESPRÄCHS sich abspielt, in jener Szene auf dem Dampfer nach Sizilien, in der Schilderung der Hände, die nach einer Orange suchen, in den Worten "Ein Sizilianer ißt nie am Morgen" – dem Präludium einer der gültigsten Stilbewegungen der Moderne, deren Qualität hinreichte, um das Bewusstsein und die Imagination einiger großer Regisseure in Gang zu bringen, so dass sie begriffen, was nötig wäre: eine poésie pure der optischen Härte. Dies wäre das Bild, das Vittorini ihnen böte, das er uns bietet: Abstraktion und Gegenstand, ja Prosa und Lyrik selbst, erscheinen in seinem Werk als Identitäten. Ihr Gegensatz bezieht sich auf etwas Untrennbares, auf die Substanz des Dichters, auf Vittorinis Sein. "Aber im Innersten war ich erregt durch gegenstandslose Leidenschaften, und ich glaubte das menschliche Geschlecht verloren, ich senkte den Kopf und es regnete, ich sprach kein Wort zu meinen Freunden, und das Wasser drang in meine Schuhe". Aus: Alfred Andersch, Nachricht über Vittorini. In: Elio Vittorini, Offenes Tagebuch 1929 bis 1959. Deutsch von Eckart Peterich. Walter Verlag. Olten und Freiburg im Breisgau 1959 Biographie Jean Marie Straub: Daten Geboren unter Capricorn am Sonntag nach der Epiphanias in der Geburtsstadt Paul Verlaines ("Et si j’avais cent fils, ils auraient cent chevaux/ Pour vite déserter le Sergent et L’Armée”) und getauft auf den Namen eines der allerersten Kriegsdienstverweigerer (Jean-Marie Vianney, Pfarrer von Ars) in dem Jahr, als Hitler an die Macht kam... Bis 1940 nur französisch gehört, gelernt und gesprochen – zu Hause und draußen. Und auf einmal darf ich draußen nur noch deutsch hören und sprechen und muß es in der Schule (wo wie überall jedes französische Wort verboten ist) "direkt" lernen... Nach der Befreiung Schüler bis zum 1. Abitur am Jesuiten-"College Saint-Clément" (wo ich lernte das Ungehorsam eine nicht nur poetische Tugend ist) und dann ein Jahr im staatlichen Lycée, 2. Abitur. Manifestation gegen die kümmerliche Programmierung der Filmtheater von Metz; erste Kontake mit der französischen Polizei. Von 1950/51 bis 1954/55 Leitung eines Filmclubs in Metz und zugleich Student an der Universität zu Straßburg (51/52) und zu Nancy (52/53 und 53/54). November 1954: Ankunft in Paris mit dem Projekt einer abendfüllenden Filmbiographie: "Chronik der Anna Magdalena Bach"; algerische Revolution; Begegnung mit meiner Frau... Gucke ein wenig Gance (LA TOUR DE NESLE), Renoir (FRENCH-CANCAN, ELENA ET LES HOMMES), Rivette (LE COUP DE BERGER), Bresson (UN CONDAMNÉ A MORT S’EST ECHAPPÉ), Astruc (UNE VIE) beim Drehen zu. Aus: FILMSTUDIO 48 Zeitschrift für Film – 1. Januar 1966 Über Carl Theodor Dreyer Féroce par Jean-Marie Straub Aus : Cahiers du Cinéma, numéro spécial Carl Th. Dreyer, numéro 207 décembre 1968. Fortini/Cani In einigen grundlegenden Einstellungen des Films, die offensichtlich an eine Vergangenheit anschliessen, die auch Zukunft sein könnte, wenn jemand es unbedingt wissen wollte (die befriedeten Berge, der blühende Oleander, das Panorama von Florenz, der Hügel am Schluß) gibt es einen fließenden Wechsel zwischen Entsagung (rinuncia) und Versprechen (promessa). Die Entsagung kann auch in ein Versprechen münden. Die Abwesenheit des Menschen, wo sie am Vollkommensten ist, (weil auch die Stimme verstummt, wie in den Einstellungen von den Apuanen) bestätigt "die ungeheure Gegenwart der Toten", aber nicht allein jener Toten, nicht allein der Opfer der Naziverfolgungen. Wenn die Gegenwart von außerhalb der Gegenwart gesehen wird, dann wird sie ein Ort, auf den sich die Geister der Vergangenheit und der Zukunft projezieren lassen. So kann schließlich auch der Raum der apuanischen Alpnen ein Versprechen der Bewohnbarkeit enthalten; und auch Florenz kann bewohnbar werden, solange es von den Hügel betrachtet wird. Diesem leisem Vesprechen wird jedoch ständig in anderen Einstellungen widersprochen vom Lärm der Gegenwart oder dem Gesetz der Vergangenheit mit seiner unbetretbaren Heiligkeit (das Glockengeläut, der Verkehr, die Stimme des Rabbiners, die den Erzähler übertönt). "Nicht hier aber anderswo" ist der beherrschende Gedanke des Films. Das bedeutet aber in Wahrheit: "Nicht heute sondern gestern und morgen". Daher ist die tiefe Intention des Films nicht grundsätzlich von meiner eigenen Aussage verschieden. Der Film trägt sie mit anderen Instrumenten vor, verleiht ihr eine gesteigerte Bedeutung. Das Panorama der Apuane sagt nicht nur, was hier vorgefallen ist und zeigt nicht nur, wie viel Schweigen über den Orten alter und jüngster Verbrechen liegt. Es sagt auch, dieses Stück Erde ist ein bewohnbarer Ort für die Menschen, es ist ein Ort, den wir bewohnen müssen. Deshalb fordert Straub von mir zu verstummen. Meine Stimme muss verstummen, weil wie es in "Le temps retrouvé" heißt, "damit das Gras nicht des Vergessens, sondern des ewigen Lebens sprießt, der derbe, harte Rasen fruchtbarer Werke, auf dem künftige Generationen heiter und ohne Sorge um die, die darunter schlafen, ihr ‘Frühstück im Freien’ abhalten werden". Auszug aus: Franco Fortini. Una nota 1978. Per Jean-Marie Straub Franco Fortini, I cani del Sinai. Con una nota 1978 per Jean Marie Straub. Torino 1979. filmkritik, 9. Januar 2003 um 01:10:29 MEZ
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