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Donnerstag, 22. April 2004
Wie man das 21. Jahrhundert erzählt Wenn ein Regisseur schreibt; Heinz Emigholzs famoses neues Buch „Das schwarze Schamquadrat“ Von Michael Girke Heinz Emigholz spielte kleine Parts in Josef Vilsmaiers Stalingrad und im Tatort. Nebenrollen. In Deutschland eine herabwürdigende Bezeichnung, die sich wie ein Bannfluch auswirkt. Nur so ist es zu erklären, dass man in der Filmszene zur Zeit James Bennings geduldige Bilder diskutiert, die verwandten Architekturfilme des Regisseurs Heinz Emigholz aber seit Jahren systematisch ignoriert. Im Berliner Kino Arsenal führt Emigholz seit 1993 regelmäßig alte Filme vor. Dafür geschriebene kurze Ankündigungen sind im Schwarzen Schamquadrat verstreut. Filme beschrieben, wie man Tagebuch schreibt: aus dem Augenblick heraus, mit einem deutlich vernehmbaren Pfeifen auf Objektivität. Emigholz Buch ist eine umfassende Filmgeschichte. Das kann akzeptieren, wessen Augen nicht von wissenschaftlichen Scheuklappen verstellt sind. Das Kino erschließt sich keinem systematischen Zugriff. Es ist ein Raum, beinahe so groß wie die Welt, gebaut aus den Erfahrungen eines jeden Zuschauers, dessen Blicke die Leinwand erst lebendig machen. Vom weltweiten Filmbestand hat Emigholz nur einen Bruchteil berücksichtigt. Und doch stellt sich im Schwarzen Schamquadrat das ganze 20. Jahrhundert ein. Weil die beschriebenen Filmbilder dessen Ambitionen, Vorstellungen, Wünsche enthalten und so: dessen Irrsinn. Zudem sind Alltagsbeobachtungen, aufgeschriebene Träume, Reiseskizzen, Gespräche, Fotos, Zeichnungen im Schwarzen Schamquadrat gesammelt. Jedes für sich füllt vielleicht einen Bierdeckel. Zusammen bildet alles ein Buch für die, die Fiktionen satt haben. Bei Emigholz ist alles real. Auch Originalseiten aus seinen Arbeitskladden sind ins Buch hineinkopiert. Die sehen aus, als sei das Vorbild des Autors eine deutsche Fantasiefigur: Fritz Langs Mabuse, der in seiner Zelle sitzend, unaufhörlich seine Einfälle in Girlanden aufs Papier kratzt. Dessen Schreib- und Denkzwang, nähme man ihm Papier und Stift, mit Sicherheit andere Mittel und Wege fände. Emigholz unterwirft seinen Zwecken alle Medien. Er filmt, zeichnet, doziert an Unis, schreibt. Keine feste Heimat. Kein Schicksal, sondern Vorraussetzung, um hellsichtiger wahrzunehmen, als diejenigen, die sich in ihren Landesgrenzen und Fachgebieten einschließen. Wie, durch Fernsehen, neue Medien, Interaktivität bedingt, Sehen sich verändert hat, ist sein zentrales Thema. Er wirft heutigen Bildern ihre Wörtlichkeit vor. Weil jeder zu sehen erwartet, was ihm in Worten schon bekannt ist, sind die Bilder so armselig. Nicht der Publikumsgeschmack allein ist für dies Elend verantwortlich. Häufig wird verdrängt, dass man die Bilder allerorten im Namen von gutem Geschmack, Moral, Pädagogik und Politik konditioniert. Dienst nach Vorschrift müssen sie tun, zugkräftige Illusionen dürfen sie illustrieren. Was droht verloren zu gehen, ist der schönste Traum der Cinématographie: mit bewegten Bildern das wirklich Vorhandene in seiner unvertrauten Vielfältigkeit sichtbar zu machen. „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.“ So beschrieb Walter Benjamin das Anbrechen des 20. Jahrhunderts. Wie verletzlich und winzig der moderne Mensch ist, wurde drastisch spürbar angesichts der ungeheuren Zerstörungskraft neuer Technologien im ersten Weltkrieg; angesichts der Beschleunigung der Wirklichkeit durch Eisenbahn, Auto, Flugzeug, Telefon, welche die menschlichen Sinne überforderte; angesichts ökonomischer Krisen, die weite Bevölkerungskreise dem Hunger und der Zukunftslosigkeit auslieferten. Laut Gertrude Stein wurde das 20. Jahrhundert dadurch sichtbar, dass „in dieser Zeit niemand mehr wirklich und wahrhaftig daran glaubt, dass irgendjemand friedlich und glücklich sein wird, nicht ein einziger, nicht die riesige Mehrheit glaubt so etwas.“ Auch am Beginn unseres 21. Jahrhunderts wandeln sich Technologie und Ökonomie radikal, gibt es neue Kriege und Terror. Und auch heute herrschen Gefühle vor von Unheimlichkeit und Angst. Und hat man bei irgendeiner im öffentlichen Rampenlicht stehenden Figur den Eindruck, ihre Sprache gehe über Parolencharakter hinaus, sei nicht total entfremdet der Realität, in der wir leben und der Frage nach deren Zukunft? Welche Rolle spielen Erzähler, Filmemacher heute? Was können sie sinnvolles tun in einer Zeit, in der alles wankt, in der Resignation und Zynismus sich ausbreiten? Für Ablenkung sorgen? Flucht aus der Realität ermöglichen in Mythen und Fantasien? Von Sören Kierkegaard kommt ein verblüffender Vorschlag: „Die Menschheit wird aus Einzelnen gebildet; es muss also in der Macht des Einzelnen liegen zu werden, was er ist, ein Einzelner. Es geht darum so zu schreiben, dass der Einzelne in Erscheinung treten kann, dadurch, dass man sich ihm widmet.“ Zweifellos geht Heinz Emigholz, vielleicht ohne sie je gelesen zu haben, aus von diesen Kierkegaardsätzen. Er spart in seiner Kunst seine konkrete Alltagssituation nicht aus; seine Depressionen, Drogen, Launen, seine Lust und Enttäuschung. Bei Emigholz fällt von den Worten der Zwang ab, Allgemeingültigkeit herzustellen. Intimität ist ein Kleid, dass Sprache schön macht und jedes einzelne Wort unersetzlich. Am besten vergleicht man Emigholz Buch mit dem Filmemachen. All die kurzen Texte im Schwarzen Schamquadrat sind mit ihrem Entstehungsdatum markiert, folgen aber nicht chronologisch aufeinander. Man muss das Buch lesen, wie man einen Film sieht. Dann offenbart sich der Geist der Montage. Die Texte sind so kombiniert, dass sie sich zu bestimmten Themen widersprechen, streiten, gegenseitig befragen. So blitzen Einsichten auf im Leserhirn, die, wenn man nachschaut, im Buch selbst oft nicht geschrieben stehen. Es ist grob, aber begründet: man kann alle Kunst der Welt in zwei Richtungen unterteilen. Die eine unterstellt dem Publikum schlichtes Gemüt. Deshalb kaut sie ihm alles vor, legt fest, was gefälligst empfunden werden soll. Emigholz gehört zur anderen Richtung. Seine Montagen suchen ein Gegenüber. Sie brauchen das Mitdenken des Publikums bei der Suche nach einem erkennenden Standpunkt in einer nie stillstehenden Welt. Das Schwarzen Schamquadrat ist fragmentarisch, nonlinear und randvoll mit Zitaten. Aber das Buch ist nicht postmodern. Die Bezeichnung ist zu theoretisch gedacht, zu technisch. „Ein gewisses Maß von Narzissmus bleibt trotz hochentwickelter Objektliebe fortbestehen.“ Das ist ein Satz von Freud, mit dem sich der Medienforscher Heinz Emigholz gut beschreiben lässt. Emigholz nimmt Filmbilder persönlich. Ihn fasziniert die Realität, die durch die Illusion hindurchschimmert. Er spiegelt und sucht sich in Bildern, behandelt sie wie einen Schatz menschlicher Erfahrung und Erinnerung. So kann der Leser es auch mit seinem Buch tun.
Und so ist die Rolle des Erzählers im Schwarzen Schamquadrat eine, die es lange vorm Aufkommen des Marktes schon gab. Es ist die eines orientalischen Geschichtenerzählers. Das war ein eigentümlicher Wanderer zwischen den Welten. Er trug Geschichten aus allen Teilen der Erde zusammen und machte so unbekannte menschliche Erfahrungen vernehmbar. Er stellte Aufmerksamkeit her für das, was den Menschen jenseits von Grenzen und Glauben gemeinsam ist. Für die Ängste, Probleme, Sehnsüchte, in denen sie verbunden sind. In der Praxis eines solchen Erzählens wohnt ein Gefühl der unauflösbaren Zusammengehörigkeit der Einzelnen. Heute, wo politische und ökonomische Systeme Trennendes betonen, Konkurrenz schüren und destruktiven Triebkräften Tür und Tor öffnen, ist ein solches Erzählen wichtiger denn je.
Lesen Sie, wie Emigholz ein Filmfestival beschreibt: „Das Morgengrauen miterleben, lange vor dem Frühstück allein im Park, nur ein einzelner Mensch in Sportklamotten erwartet dort frierend den Tag. Die Stadt erscheint so aufgeräumt. Als habe die Bevölkerung vor einem kollektiven Selbstmord alle Spuren vergangenen Lebens beseitigt. (...) Was willst Du eigentlich noch, fragte ich mich und setzte ein undefiniertes hier, das die ganze Welt zu umspannen schien, an das Ende meines Satzes.“ Kein Glamour, keine Stars, kein Spektakel; stattdessen die brutale geschichtslose Leere deutscher Stadtlandschaft. Keine Zeitung würde diese intimen Impressionen von den Oberhausener Kurzfilmtagen drucken. Es ist, als gäbe es den ganzen Kulturbetrieb mit seinen Sende- und Sprachregelungen, um den Einzelnen, wenn er nicht Superstar- oder anderen ausbeutbaren Formaten entsprechen will, besser ignorieren zu können. filmkritik, 22. April 2004 um 11:58:58 MESZ
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