new filmkritik für lange texte
 
Samstag, 17. Januar 2004

Philippe Garrel, Elle a passée tant d'heures sous les sunlights, 1984


Eine Szene, die erste Einstellung. Ein Mann eine Frau. Monochromes Weiß und Grau. Ein Dialog. Worte, die sich wiederholen, auf der Stelle treten. Sie machen eine Szene. Sie machen sich eine Szene. Sie haben sich geliebt, sie lieben sich nicht mehr, sie wiederholen immer dieselben Worte: Es geht nicht mehr. Dieselben Worte, solange, bis sie vielleicht nicht mehr wahr sind. Eine Szene als Inszenierung einer Szene, in jedem Sinn des Wortes. Eine Szene, auf der das Bild verharrt, unbewegt. Die Kamera, der Blick insistiert. Insistenz der Szene, Beharren auf dem Bild und manchmal denkt die Kamera auch nach. Sie denkt nach, indem sie die Szene aus dem Schärfebereich drängt: plötzlich ist da Glas, perlt Wasser auf Glas. Es war, das denken wir, mit der Kamera, das Glas schon da, die Perlen, das Wasser: die Transparenz der Szene war nur die halbe Wahrheit. Aber dass die Kamera nachdenken kann, schon das ist ein Ereignis. Nicht: Die Kamera denkt. Oder der Schnitt denkt. Nicht Godard. Musing, das englische Wort, scheint es eher zu treffen. Oder: Sinnen. Ein sinnender Film, ein beinahe träumerisches, aber auch insistentes Nachdenken, ein rabiates Schmecken, ein wildes Tasten, ein verzweifeltes Probieren von Möglichkeiten. Die Suche nach den Leerstellen einer Grammatik. Es geht nicht um das Brechen von Regeln, sondern um das Erfinden, das Weiterspinnen, in dem dann die Regel selbst in Frage steht. Regeln des Verkettens, der Inszenierung, der Szene, des Szenischen (vom Narrativen, das immer gröbste Bearbeitung von Elementen ist, gröbste Behauptung von Zusammenhängen, ganz zu schweigen). Dekonstruktion könnte man sagen, nur hieße das schon: von der vertrauten Regel her denken. Dabei wird alles, was das Kino ausmacht, neu erfunden. Und noch das ist von der falschen Seite her formuliert. Es ist Kino, als hätte es bisher keines gegeben. Erfindung des Filmischen von Grund auf. Der Film erfindet sich, und jeder Linguist weiß (und die Dekonstruktion weiß es auch), dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, der Film erfindet sich selbst. Er spricht eine Sprache, die nicht der Dialekt einer anderen ist. In dieser Erfindung ist das Bild nicht das Bild, wie wir es kennen, ist der Ton nicht der, den wir kennen, ist der Schauspieler nicht der, den wir kennen. Hier schlägt der Film seine Augen auf und ist Film, als hätte er sich, in diesem Moment, in diesem winzigen Moment des Augenaufschlagen schon gefunden. Und beginnt zu sinnen. Träumt sich weiter, von der Szene des Beginns her. Ein Mann eine Frau. Als hätte es dergleichen, als hätte es diese Szene noch nie gegeben. Und auch die Erfahrung gibt es immer schon, aber nun, hier als etwas, das sich von den Formierungen der Geschichte nicht restlos formiert findet. Jetzt und hier die Erfahrung macht, sich anders zu erfahren. Als gäbe es keine Geschichte des Kinos als Geschichte einer Sprache der Erfahrung. Wir haben Einstellung gesagt, wir haben Szene gesagt, wir haben Dialog gesagt. Wir sind verraten und verkauft vom Film, den wir kennen, von der Geschichte, von den Begriffen. Wir haben noch nicht einmal angefangen. Wir haben nicht noch einmal angefangen. Wir können nur immer wieder anfangen. Immer. Wieder. Anfangen.

Ganz andere Szenen. Das Nachdenken, das Glas, die Perlen, das Verlieren der Figur. Ein Traumdenken, das auch, andererseits, auf die Konturen, auf die Gesichter, auf die Figuren, auf die Szene zuspringen kann wie ein Verzweifelter auf seine letzte Chance. Ein Film wie ein stummer Schrei auf der Suche nach einem Ausdruck. Pathosformeln, direkt aus dem Leben gegriffen. Pathosformeln der reinen Bedeutung. Der nackte Mann in der Badewanne, das Gesicht nichts als Verzweiflung. Wie. Nichts als. Nicht dass der Film in Vergleichen denkt. Wie gibt es nicht in seiner Grammatik, so wenig wie nichts als. Wir haben nicht seine Sprache. Wir fühlen uns getroffen (man müsste es noch einfacher, noch unvermittelter sagen können). Und wenn nicht wir, dann ich. Wie könnte es ein Wir geben, wenn ich angesprochen werde in einer Sprache, die es gar nicht gibt. Ich weiß nicht einmal, ob ich Film sagen darf. Darf ich Film sagen? Darf ich Schwarzblende sagen? Der Aussetzer. Abrupter Abbruch. Wiedereinsatz. Der Film scheint sich zu verlieren, ja, zu vergessen im Nachsinnen über das, was er zeigt. Im Nachsinnen über das Zeigen und die Regeln, die diesem Zeigen einen Sinn gäben. Eine Harlekin-Figur in einer Schublade. Ein Mann eine Frau. Und noch ein Mann und noch eine Frau. Und Chantal Akerman und Jacques Doillon und Philippe Garrel. Der Film kennt nicht die Grenze zwischen Szene und Inszenierung. Wenn ich von einer Grenze sprechen kann, dann nur, weil sie in meiner Grammatik, in meinem Sprachspiel existiert. (Die Szene, die Inszenierung, die Grenze: meine Sprache.) Dieser Film denkt ohne sie. (Jetzt formulier das doch mal ohne ohne.) Noch der Begriff des Übergangs, der Übergängigkeit ist falsch. Die Darstellerin ist die Figur. Die Darstellerin ist nicht die Figur. Beides ist wahr. Oft bleibt dem Film der Ton weg. Oft rauscht es. Oft ist das Laufen der Kamera zu hören. Ohne Ton sind die Figuren keine Figuren mehr. Sie sind nichts als dem Blick Anhalt für ein Sinnen. Als könnte der Blick sinnen. (Oder sie sind, wie Serge Daney geschrieben hat, etwas, das wir nie gesehen haben, die Gesichter der Darsteller des Stummfilms in jenem Moment, in dem die Zwischentitel die Leinwand besetzt halten.) Übrigens verweigert der Film keineswegs Sinn. Aber er sagt auch nicht: Nimm. Darüber sinnt er nicht nach, über den Sinn, den man ihm nehmen, ihm geben kann. Warum sollte er. Er ist so vollends beschäftigt damit, sich immer weiter zu finden. Er sitzt in einer Ecke und es ist ihm egal, dass keiner auf ihn achtet. Er spricht vor sich hin. Nichts an seiner Grammatik untersteht dem Gesetz der Kommunikation.

Natürlich lässt sich Sinn finden, als wäre er vertraut. Natürlich spricht der Film keine eigene Sprache. Natürlich können wir ihn mit den Begriffen beschreiben, die wir kennen, der Grammatik, die uns nie im Stich lässt. Und natürlich, sagst Du, gibt es einen Plot, eine Entwicklung. Zwei Frauen, zwei Männer. Namen werden genannt. Eine Vierecksgeschichte. Es beginnt mit einer Szene zwischen einem Mann, einer Frau, die sich geliebt haben. Sie heißt Christa wie Nico, die Frau, die Philippe Garrel, der sich hier selbst spielt, geliebt hat. Die Szene im Auto, dazu die Musik, Nico singt "All Tomorrow's Parties". Da kommt doch Sinn zusammen. Eine Frau ist tot, am Ende. Was willst Du mehr? Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, das kann dir jeder Linguist sagen, eine eigene Sprache zu erfinden. Eine Einstellung ist eine Einstellung. (Ach ja?)




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Mittwoch, 31. Dezember 2003

Normale Kurzweil




Schwenk über eigen- (normal) und fremd-verfasste (kursiv) emails aus 2003 (*)

10.1. die filmvorführung des deleuzeinspierierten war für halb neun angekündigt los ging's natürlich erst gegen 11 weil immer noch einer auf den man dann gemeinsam wartete fehlte

grundsätzlich finde ich aber die idee einer derartigen volksspeisung für verarmte cinephile nicht schlecht...

17.1. ... ich fürchte schon, ich weiß, wie das ausgeht: ich werde in den japanischen Film rennen, obwohl ich nach letztjährigem KT weiß, dass er überhaupt nichts taugen KANN.

19.1. Ansonsten, drehe ich ein wenig, und ... schreibe, tatsächlich wieder mal... Zum FDP-Wähler reichts aber immer noch nicht.

26.1. .. der film wird uns sehen.

Februar Grandrieux, LA VIE NOUVELLE

5.2. ... und das buch "abspann", von dem ich S schreiben wollte, ist von steve tesich, einem zum ende seines lebens verbittert gewordenem autor aus jugoslawien, und handelt von einem drehbuchdoktor, der anderer leute bücher verändert, sie geschichten- und damit marktfähig macht. vielleicht kommt das bild vom feldherr, das mich sehr erschreckt, aus der lektüre dieses traurigen buches, die mich sehr erschreckte.

26.2. ... auch weil über Film sprechen ja wirklich alle tun ...

27.2. malicks DAYS OF HEAVEN. dessen fabel einfach, aber biblisch. das erforschungsinteresse malicks.

1.3. ... vielleicht magst du ihn anschauen, ich halte ihn für was ganz besonderes im weltkino, finde aber im moment keinen richtigen zugang, zu diesem besonderen mich klug zu äußern.

12.3. ... Das erste, was ich mir im August zulegen werde, ist ein Abo für den Kabel-Westernkanal. Danach ein Seasonticket für die Minnesota Gophers.

13.3. ... ich höre auf, bevor der b-movie-glissandi-sound eines theremin alles niederwimmert!

19.3. ... und weiter zum fsk entlang an schwachbeleuchteten Kopfsteinpflasterstrassen.

8.4. Gestern waren wir als erstes in Toronto im Kino und sahen KICK IT LIKE BECKHAM, was eine normale Kurzweil war.

19.4. - (...) die gähnende langeweile des filmfeuilletons, die ewige krise bei steadycam, die kleinen regionalen u/o special-interest zeitschriften, die ver-cinema-sierung, die "neue filmkritk" im internet (euer weblog z.B., warum so was - trotz sympathischer grundidee: statt meinungssalven ein austausch, gespräch über den film, an dem interessierte zuhören können - auch nicht wirklich gut funktioniert - oder siehst du das anders?), vergleich mit der situation in la france und the uk (sight and sound!!!! warum kann man gute filmkritiken nur auf englisch schreiben???), etc. pp.

  • (...) und "für" oder "als" die "new filmkritik" kann ich natürlich auch nicht sprechen, weil das ja der punkt der sache ist, dass das viele sind... ...und ekkehard knoerers texte in jump-cut.de, als beispiel für internetschreiben, finde ich fast ausnahmslos hervorragend...

19.4.

"Okay. You remember the Marilyn Monroe calendar you saw in my studio." "Sure." "And you know how it is when you're starting on a project, how you sometimes have to start with a series of misunderstandings." "I always start that way." "I thought and worked and sketched and did small oils and large charcoals and finally I realized. It's not Marilyn I want, it's fake Marilyn. I wanted a packaged look. I didn't want Monroe, I wanted Mansfield. All bloated lips and total boobs. I mean it was so obvious and it took me fucking forever." "Have I ever seen a Jayne Mansfield movie?" "Nobody has. Doesn't matter. She was uncontainable in a movie," Acey said. "And there were all the other Marilyns. On the one hand you can never have too many Marilyns. On the other hand the minute Marilyn died, all the other sexpots died with her. They were like philosophically banned from existing. Jayne outlived Marilyn by only five years and for about four and a half of those years she was bummed-out, washed-up, beat up by husband number whatever-he-was and there was nothing left but exploitation movies and heavy drinking." "You're crossing over. White women" Klara said. "Jayne was a white whale. I had to shake off a lot of higher-minded shit before I got to where I am with this work. And I'm doing some things with color I want your opinion of." 'Anytime." "Because you're the one I trust." "Paying phony compliments is hard work", Klara said. "That's why I don't do it." (don delillo, underworld)

[der satz '"You're crossing over. White women"' ist, scheint mir, schwer zu verstehen -- die deutsche übersetzung hat: '"Hey, Grenzüberschreitung. Weisse Frauen"']

in diesen tagen denke ich vermehrt an jayne mansfield (40-22-35): sie lebte und starb auf amerikanische weise:

Another early-morning accident killed actress JAYNE MANSFIELD. The bleached-blonde celebrity was driving from Biloxi, Mississippi to New Orleans around 2:00 am on 29 June 1967, rushing to make a talk show appearance in New Orleans the next morning. Mansfield was in the front seat with her lawyer Sam Brody and a chauffeur when their Cadillac [?!] ran into the back of a truck that was spraying for mosquitos. Mansfield, Brody and the chauffeur were killed; her three children, riding in the back seat, survived. (http://www.who2.com/deathbycarcrash.html)

[...] Miss Mansfield was decapitated. Two small tan Chihuahua dogs were found dead in the wreckage and two others were found still alive and were taken to an animal shelter.

UPDATE: [...] Auction attendees report that Mansfield was not decapitated, but was instead scalped, which was apparently confirmed by police photos of the accident scene, and which explains why some accounts reported that she merely lost a wig. Neither it seems was she caught in crush of vehicle — she was thrown clear — nor was she wearing a dress, but slacks & knit top. (www.aarrgghh.com)

Mansfield's 1966 Buick Electra (Rated Horsepower: 325 horsepower @ 4800rpm-Fuel: Premium Unleaded plus Octane booster-Suspension: NOS Delco "Pleasurisers" all around)

"crumpled like a piece of tinfoil after a cookout, with its roof torn off and its front end smashed".

auf www.gravehunter.com stehen folgende zwei sätze, as american as they come, und im grunde die synopsis eines films:

She tried to be seen as a serious actress, but never really accomplished that.

While she was traveling to a nightclub gig, she was killed in a highway accident, but not decapitated.

20.4. ... goyaeske schattenrissfigurenfilme eines südafrikaners fand ich bemerkenswert, herausragend eine knetgummiversion eines offensichtlich postneorealistischen italienischen klassikers.

22.4. Godard, ELOGE DE L'AMOUR les couleurs godardiennes

1.5. ... während des ganzen films diesen godard-satz (aus 'ELOGE D'') im kopf, dass (sinngemäss), wenn man ein bild/gedanken haben will, man sich in richtung eines anderen wenden muss.

1.5. ... an der fuer celik aufgespannten film-leinwand (ich glaube, die hing am mariannenplatz) bin ich heute am spaeten nachmittag vorbeigekommen, die flatterte ziemlich im sturm und wurde von diversen reggae / ska-buehnen beschallt. versprengte leute, eine lange schlange am crepes-stand und, wie ich einmal mehr feststellte - die uebliche inkompatibilitaet zwischen mir und der idee volksfest.

2.5. ... Und dann gibt es die hanebücherne Ablehnung einer Dame bei 'arte', die das Cézanne-Louvre-Projekt zu begutachten hatte ... Die hat nie einen Huillet-Straub-Film gesehen, weiss aber ganz genau, dass sie das dem Publikum nicht zumuten kann. 'Trop agacant'.

3.5. 'sie sagen, ich solle nein sagen. aber ich sage nicht einmal das. das ist mein letztes wort.' (w. herzog, letzte worte, 1967)

9.5. ... und L blickte sich dann häufig um nach passanten, eine sehr hübsche frau hatte zwei plätze neben uns alleine den film angeschaut und wir hatten beide nachher gemeint, dass diese frau, die dort alleine im kino saß, das interessanteste an der projektion gewesen sei. wir sahen sie aber nicht wieder. L erzählte später davon, wie schnell er sich verlieben würde in frauen, das habe ihn lange zeit beängstigt.

12.5. ... habe am Fr. endlich AFTERLIFE gesehen. Du hattest Recht, mich da hinzuschicken...

12.5. ... paralyse der kritik, continued: friedkin's THE HUNTED ('die stunde des jägers'), gross, treibend, antonioni-geschult, ohne rücksicht auf charaktere: '80 shots in a row without a repeat' -- catch it if you can. nach FEMME FATALE, another wonderboy is back! exorcise anthropomorphism now

21.5. ... für B ist das sowas wie die Krone der Filmschöpfung, glaub ich ...

23.5.

... the more you see...

... the better you look ...

26.5. FEMME FATAlE & THE HUNTED: was hier geschieht ist ein wiederanschliessen an eine linie des visuellen kinos, eines zwar genre- aber nicht narrations-kino (despite appearances, speziell bei friedkin). oder: die unerhörte, spezifisch us-amerikanische (die nicht einfach 'us' ist) mischung aus plot-tiefe (komplexität des plots, respektive gebrauch und verfügbarkeit von narrativen strukturen, dispositiven, genres) und visual 'shallowness' oder 'flatness'. (bei de palma liesse sich das vielleicht festmachen entlang der pole 'hitchcock' und 'antonioni', semantische aufladung 'überall' im bild ('all-over-semantics': bsp.: der name des cafes im hintergrund lautet: 'le paradis') im dienste der komplizierung, verdichtung, aufladung der story vs. flächiges plätten der handlung zur op-folie (s. die foto-ausdrucke der banderas-figur: das auslaufen, 'the leaking of semantics' (cf. leckes aquarium).)

z. b.: mikro-rezeption: die länge der einstellungen per hand stoppen und schauen, wie sich das zu den referenz-autoren der w-boys verhält. tendenz: die länge der einstellung erleidet auf dem weg von europa nach amerika eine sehr charakteristische schrumpfung (sie werden einerseits 'zu kurz', andererseits sind sie so erstmals 'richtig', je nach den inkommensurablen massen, die hier im spiel sind). warum ist das so? (jenseits von faktoren der oldeuropean-ess ('europa ist langsamer, hat mehr zeit')) (konnte man neulich im fernsehen auch beim wiedersehen von michael mann's HEAT beobachten.)

dazu: rekapitulieren, wieder ansehen der 70er, 80er filme, an die z. zt. angeschlossen wird. dann: steil durchchecken, um den lauf des flat-visual-undercurrent nachzuzeichnen. anschliessend: mit frischer munition zum armageddon des (verachtungswürdigen) anthropomorphen, narrativen kinos blasen. kampf-uniform sind t-shirts mit braunen häschen, blow-jobs gibt's für motorisierte einheiten gratis.

verrückte idee? alter hut? gähn, aufwachen? oder: hey! ?, klar! ? das-ist-aber-wirklich-mal-fällig! ?

26.5. knörer, argumentativ überzeugend in filmforen.de: diese beobachtung knörer's:

"ich ahne niemals, worauf etwas hinauslaufen könnte (oder eher noch: ich weigere mich geradezu, sehen zu wollen, was offensichtlich ist"
habe ich so ähnlich auch schon gemacht. das irritierende dabei ist, dass man sich erst mal blöd vorkommt, wenn einem andere leute dann die story, das offenkundige des plots erklären müssen. "hast du nicht aufgepasst?" anfangs eingeschüchtert 'ach so' gesagt, glaube ich zusehends, dass es sich hier um einen effekt einer quasi 'ästhetischen erziehung' handelt -- blindwerden gegenüber plots (gegenüber stories und charakteren, genauer: plot und charakteren ihre funktion etwa als leit-unterscheidungen nehmen, sie ins rauschen der allbekannten geschichten abdrängen, die plot-, die charaktere-rinde des hirns soweit durchbrennen lassen, dass es (à la freud) als narrativer reizschutz, reizschutz gegen narration (etc) fungiert -- dann: die neue ruhe oberflächlichen sehens geniessen, das 'narrative vergessen', narrativ dumm sein, narrative in-fancy), flaches schauen. daran muss weitergearbeitet werden.

folgt knörer im übrigen aber praktisch stets diesen seinen guten argumenten? na, muss ja auch nich immer.

27.5. Robert Enrico, LES AVENTURIERS

5.6. ... außerdem warte ich jetzt erst mal auf die ersten amateurbilder von möllemanns ikarus-abgang. danke für die sms.

6.6. ... Nach einer Weile fühlte ich mich geschmeichelt, immerhin einsetzbar zu sein als Schwenkfutter für ambitionierte Projekte, die sich im Grenzbereich von Kunst Kultur Wissenschaft und Medien situieren. Also geschmeichelt sagte ich zu.

7.6. ... durch drogen runtergerockt, aber dennoch mit so einem toskana terracotta touch. vielleicht haengt der eindruck mit der umgebung zusammen, also den gewaechshaeusern und pflanzen, die da ueberall rumstehen. wolfgang mueller stellte ein paar weltkugel-spielbaelle aus bayerischer fabrikation aus, auf denen island fehlt, jemand anders machte werbung fuers zuse-museum, ein paar filme waren zu sehen, die sehr nach kunstfilmparodie rochen. okayer abend, aber von einer gewissen muedigkeit ueberlagert.

7.6. P.T. Anderson, PUNCH-DRUNK LOVE

7.6. ... vom letzten Naiven des dtsch. Autorenfilms

8.6. ... Da hätte sich gezeigt, sagte er, dass Thome vollkommen von seinem bürgerlichen Optimismus zehre, dem unumstößlichen Wissen, das alles schon gut gehen werde, egal wie die Lage ist. Arbeitern, auch Arbeiterkindern, gehe eine solche grundgewisse Haltung ab, sie befürchten immer das Schlimmste, den Untergang. Die Studenten in der dffb waren nicht auf den Vorschlag Thomes eingegangen, gemeinsam eine Liebesgeschichte zu realisieren, und Thome hatte daraufhin seine Lehrtätigkeit einfach abgebrochen und sei gegangen. Das Bürgerlichsein des Thomes ermögliche ihm, trotz allem, immer weiter machen zu können, ohne Rücksicht auf Verpflichtungen. Kann er seine Filme nicht mehr auf 35 mm drehen, dreht er sie auf 16. Gibt es auch dafür kein Geld mehr, kürzt er sie immer weiter, bis es eigentlich nicht mehr geht, aber dann geht es doch. So entsteht Film für Film und eine Kontinuität, in der sich aufzuhalten nur der Bürger weiß. Der Arbeiter nicht. Der Arbeiter und seine Nachfahr fängt immer wieder von vorne an und muss sich, wenn er überhaupt es vermag, alle Produktionsmittel stets neu suchen und - wichtiger noch - seine Berechtigung, diese Mittel zu nutzen, verständlich machen. Ich merke da, als W mir diese Geschichte von Thome, dem Bürger und dem Arbeiter erzählt, dass ich auch teilhabe am thomeschen Optimismus, teilhabe am Selbstverständnis des Bürgertums. Ich vermute auch, dass W mir diese Geschichte erzählte, weil er sich auf der Seite der Arbeiter untergehen, mich auf der der Bürger wie ein Fettauge immer wieder oben schwimmen sieht.

12.6. "At the same time [in den siebzigern] I also did training work with a director called Robert Enrico." (Claire Denis: An Interview, in: Senses of Cinema 23 (2002)" vielleicht hast du's auch gesehen. fand ich interessant, wie dann mal wieder alles mit allem zusammenhaengt. [jetzt, zwei minuten nachdem ich das hier geschrieben habe, lese ich im gleichen interview: "Everything was absolutely connected and deep down that's what I was looking for."]

13.6. ... in einem nicht besonders schlauen buch und seinem kapitel über werbung, bildsprache und subtexte fand ich diese stelle, die mit TROUBLE EVERY DAY in bezug zu setzen spass macht (es geht um die analyse einer tv-werbung für alkoholfreies bier):

"(...) Obwohl der Spot einen animierenden Eindruck hinterläßt, scheint es dennoch, als ob die Bilder und die Botschaft dem Produkt übergestülpt sind, es entsteht ein sogenannter Vampireffekt. Die Bilder 'fressen' die Botschaft auf. Die technisch-ästhetische Machart wird bewundert, jedoch paßt die erzeugte Spannung nicht zu alkoholfreiem Bier. Daher ist dieser Spot ein Beispiel, wie starke Bilder eine eigenständige Wirkung entfalten und sich vom Produkt entfernen."
besser könnte die in den (werbe-)bildern herrschende mittelmäßigkeit, besonders die der in deutschland hergestellten, gar nicht erklärt werden: angst vor eigenständigkeit. claire denis ist eine der eigenständigsten filmemacherin der gegenwart.

18.6. ... ausserdem habe ich mich in die agfa-farbgeschichte verstrickt und will da noch sachen nachlesen. save me, sonst versinke ich in einem sumpf aus biographie, chemie und agfacolor

19.6. ... kann aber jetzt nichts zu schreiben, da ich filmarbeite für werbung... arbeite noch weiter für anderen film bis mitte juli. dann urlaub

29.6. ... ausserdem misstraue ich meinem videorecorder ja zutiefst (dem einen noch mehr als dem anderen)

29.6. ich habe gestern die beiden hellman-filme in der agb abgeholt

Juli (...) Jetzt fahren wir in Richtung Potsdam auf die Autobahn. Bei Potsdam geraten wir an einen Mann, dem ein Fruchtbaumfeld gehört. Der Mann steigt in das Auto und dirigiert mich zu dem Fruchtbaumfeld. Der Regisseur begutachtet das Feld. Es wird zum Motiv für den Dreh erklärt. Dann wird ein Baum für den Pack-Shot gesucht. Der Mann, dem das Feld gehört, steigt nun wieder mit uns in den Wagen und gemeinsam suchen wir nun einen geeigneten Baum. Wir fahren auf behelfsmäßigen Straßen über Betonplatten durch die Gegend und schließlich auf ein anderes Feld. Fast bleibt der Wagen darin stecken. Hafer sticht in meinen Socken, nachdem wir aus dem Auto gestiegen sind. Wir fahren jetzt zurück und lassen den Mann aussteigen. Neben dem Feld war kein geeigneter Baum für den Pack-Shot. So suchen wir weiter nach einem brauchbaren Baum. Das Wort Pack-Shot ist ein Wort, das inzwischen von allen mit Verachtung ausgesprochen wird. Wie sie es sprechen, klingt es wie ein Spucken. Mir fällt das Wort Cum-Shot ein.

Immer noch suchen wir. Die Producerin versucht Einfluss auf den Regisseur auszuüben, indem sie ihn lobt. Der Regisseur sei einer der wenigen Regisseure, der die Probleme der Produzenten in seine Überlegungen mit aufnehme, der sich mit dem Möglichen, nicht mit dem Besten zufrieden gebe. Die Producerin sagt, dass sie nicht nur dafür da seien, etwas gut, sondern vor allen Dingen dafür, etwas möglich zu machen. Der Regieassistent erklärt den Unterschied zwischen impliziter und expliziter Werbung. Er benutzt dazu oft das Wort Botschaft. Der Regisseur spricht von dem Unterschied zwischen Ästhetik und Geschichte. Nun sei der Spot ein ästhetischer geworden, er hätte lieber die story-Variante gedreht. Es geht viel um Glück in dem Reden der Leute. Das Glück ist aber keine Sache für sich, sondern eine, die in vielerlei Beziehungen und Abhängigkeiten steht. Manchmal rechtfertigen sie sich, indem sie vorauseilend Ablehnung gegenüber ihrer Arbeit formulieren. Alle fallen in diese Ablehnungsformulierungen mit ein. Schon sind sie wie ein Chor Ablehnender, weil sie wissen, dass die Ablehnung nur die Strophe, das viele Geld aber der Refrain ihres Liedes ist. Schließlich fällt die Entscheidung für einen Baum nahe des Fruchtbaumfeldes.

(...) Der Pförtner in Britz hat kaum eine Stimme mehr. Man hört von ihm ein krächzendes Röcheln, das wie tief aus seinem Inneren hervorgepresst zu kommen scheint, man hört die Anstrengung, die dieses Röcheln ihm zu machen scheint dabei. Für einen Augenblick denke ich daran, mit dem Rauchen aufzuhören. Andererseits, denke ich gleich darauf, ist die Vorstellung, hier draußen in Britz-Süd auf gottverlassenem Posten ein unnützer Pförtner zu werden nicht so übel, als dass man deshalb mit dem Rauchen aufhören müsse. Als ich zurückkomme, geht die Schranke von alleine auf und ich erwische einen kurzen Blick auf den Pförtner. Der Pförtner winkt mich mit beiden Armen durch. Ich solle fahren, fahren, fahren. Und ich denke: rollen, rollen, rollen.

(...) In der Sonne ist es immer noch warm. Wir fahren jetzt zurück ins Zentrum der Stadt. Im Auto erklärt der Regisseur dem Aufnahmeleiter seine Theorie über den Film MATRIX. Ich bin ganz gespannt, als ich höre, dass der Regisseur eine Theorie besitzt über den Film, lasse mir diese Spannung aber nicht anmerken. Ich höre zu. Die Theorie ist aber nur eine Mutmaßung über den Plot des Films. Dass der Held nämlich immer noch, wie zum Ende des ersten Teil des Films, in einer Matrix sei, und die Dinge deswegen irreal. Beflissen stimmt der Aufnahmeleiter dem Regisseur zu. Der Aufnahmeleiter erzählt, er habe den Film schon dreimal gesehen. Der Regisseur sagt, er habe den Film schon vier Mal gesehen. Es geht jetzt wieder ums Geld. Dass für den Film MATRIX eine ganze Kreuzung gebaut worden sei, und zum Schluß der Dreharbeiten wurde sie gesprengt - das sei kein Wunder, denn wenn man 150 Millionen Euro für einen Film ausgeben könne, dann würde man keine Straße nehmen und sie absperren, sondern sich eine bauen nach seinen Vorstellungen, mit Kurven da wo sie hinsollen und nicht da, wo sie nun halt mal sind. Der Regisseur ergänzt nun noch seine Einschätzung zu der tollen Auflösung des Films MATRIX und meint, dass so etwas wie bei diesem Film noch nie in der Geschichte des Films gemacht worden sei. Schon sind wir in Kreuzberg.

(...) In einem Durchgang sitzt ein Endzwanziger mit langen Haaren und einer Flasche Bier in der Hand und wirkt verwirrt. Der Mann ruft "DDR - Unser Vaterland", und Passanten schütteln ihre Köpfe. Heute ist der 50. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR. Gestern sah ich eine Sendung im Fernsehen, in der Historiker die Chance ergriffen, gezeigt zu werden. Einer hielt sogar sein gerade erschienenes Buch über den Volksaufstand in die Kamera, so dass es seinen Mund verdeckte und der Moderator sagte, man könne jetzt schon sagen, dass dieses Buch ein Standardwerk über den Volksaufstand sei.

(...) Ich bringe die Leute von der Werbe-Agentur vom Flughafen ins Büro der Post-Productionsfirma. Unterwegs unterhält sich die Frau mit dem Mann. Es fallen Namen, die mir in dem Moment noch nichts sagen, aber später werden sie das tun. Der Mann antwortet in eingeübten Sätzen den Gesprächsannäherungen der Frau. Der Mann ist ein Verfechter von Disziplin, Eifer und Anstrengung. Er sagt, nur die wenigsten seien mit einem goldenen Löffel geboren. Er sagt, dass manche meinen, die Welt habe nur auf sie gewartet. Die Frau sagt, dass ihr verläßliche Praktikanten wichtig sind. Das Gespräch geht so weiter, holpernd über Gemeinplätze, bis Namen von Agenturmenschen fallen.

(...) Ich warte sitzend auf einem ausladenden Sofa in dem kühlen Raum. Aus großen Fenstern schaut man auf die Straße. Auf Flachbildschirmen, die unter der Decke an jeder Wand angebracht sind, läuft MTV. Den ganzen Tag. Man kann, wenn man sich darauf einstellt, alles verstehen. Ich lasse mir von einer Angestellten einen Espresso machen. Der Espresso schmeckt nicht. Ich lese in einem wöchentlich erscheinenden Werbermagazin. Fachpresse. Rubriken über Positionswechsel von Werbeleuten. Ein Bericht über das Festival in Cannes. Die Wichtigkeit von Kreativität. Wenn zwei gleichgute Anbieter zur Wahl stehen, entscheidet oft das Kriterium Kreativität. Deshalb sind Auszeichnungen in Cannes wichtig. Aber man muss aufpassen, sonst ist man nur noch kreativ, und vergißt, dass man positive Aufmerksamkeit binden muss.

(...) Am nächsten Tag beginnen die Aufnahmen für die Werbung. Eine Frau sitzt am Abend in der U-Bahn. Sie hat Kopfschmerzen und die Passagiere neben ihr sind mürrisch und schlechtgelaunt wie sie. Da führt sie eine Ware zwischen Mund und Nase und erleichtert atmet sie auf. Augenscheinlich geht es ihr jetzt dank der Ware besser. Es ist mühsam und dauert lange am Nachmittag von Mitte nach Britz zu kommen.

7.7. ... Vermutlich sind Dreharbeiten sowieso nicht aussagekräftig und man kann anhand ihrer erstaunlich wenig über die Filme sagen. Kann man anhand von Beobachtungen in der Montagehalle von Siemens aussagekräftiges über die dort zusammengesetzten Waschmaschinen sagen?

7.7. ... à propos atlantis, unterwasserstaedte etc. gestern haben wir mit ein paar leuten zusammen filme von jean painlevé auf dvd geschaut. da ist grad was rausgekommen, teils mit musik von yo la tengo, bei anderen mit der originalmusik (pierre henry etc.). wenn "poetisch" nicht so ein schimpfwort waere. auch wieder so ein beispiel dafuer, wie wenig diese merkwuerdige trennung zwischen dokumentarfilm und fiction taugt.

9.7. ... Weil das Meer von München aus sehr weit weg war und wir nie sehr viel Geld hatten, musste der Starnberger See als Ersatz dienen. Das Wasser war für uns ein magischer, utopischer Ort. Kino ohne Wasser war für mich undenkbar. Genau so wie Kino ohne Frauen. Autos waren für mich nicht ganz so wichtig wie für Klaus Lemke, der nie eins hatte.(Thome)

24.7. Abbas Kiarostami, TEN

25.7. ... Sie stehen im Kreis und bewegen Hüften und Arme zur Musik. Die Bewegung des einen wird zum Nächststehenden weitergegeben. Die Bewegungsweitergabe sieht so aus, wie man sich passierenden Strom vorstellen würde. Die Körper als Medien der Passage wirken bewegt wie von einem fremden Impuls. Das sieht merkwürdig schön aus und man denkt, dass es sich fremd und toll anfühlt in den beteiligten Körpern. Es sieht so schön und reizvoll aus, dass man gerne Teil einer solchen Bewegung sein möchte. Man möchte seinen Körper für so etwas Gemeinsames zur Verfügung stellen aus ästhetischen und hedonistischen Gründen.

26.7. ... gestern abend doch noch AUTOFOCUS, dann bergstuebl, dann heimweg, dann musik, dann fernsehen, dann bett. jetzt kaffee.

7.8. ... aber ich fand STANDARD GAUGE von morgan fisher, ueber den ich bisher nur sachen gelesen hatte, ziemlich toll. auch ken jacobs hat spass gemacht.

7.8. ... eben auf dem mehringdamm gab es eine schoene szene: die feuerwehr kam mit einem grossen loeschzug und blaulicht angerauscht, aber komischerweise fuhr der wagen dann ploetzlich ganz langsam und hielt ohne erkennbaren anlass ganz an. kurz drauf haben wir dann gesehen, dass deren mission darin bestand, die baeume auf dem mittelstreifen zu giessen. einen nach dem anderen, giessen, dann wieder 20 meter fahren, giessen, usw.

August

  • Jacques Feyder, LES NOUVELLES MESSIEURS

  • Jean-Marie Straub, Danièle Huillet IL RITURNO DEL FIGLIO PRODIGO / UMILATI Frankreich 2002, 64'

  • Clàudia Tomaz NÓS Portugal/Frankreich 2003, 99'

  • Ishikawa Hiroshi TOKYO.SORA Tokyo.Sky Japan 2002, 127'

30.8. ... ich erinnerte mich da an eine szene aus straub/huillets UMILATI, nach vittorini, den ich ein paar tage zuvor gesehen hatte, an die messerscharfe klarheit der dialoge dieses films, und ich überlegte kurz darauf überraschenderweise auf einmal, ob ganz im gegensatz zum klaren, bis zum ende gehaltenen gestus des straubfilm in betreuten clubferien die animateure zum ende der gebuchten ferienzeit die urlauber behutsam an die wirkliche wirklichkeit zuhause gemahnen und quasi-therapeutisch auf sie vorbereiten, dass die kluft zwischen den zuständen nicht zu groß werde und so schäden vermieden, wie es auf narrationsstrategischer ebene ja auch üblich ist in vielen filmen, wo der zustand höchster erregung, verwirrung und anspannung bis kurz vor schluß gehalten, dann aber, zum wirklichen schluß, einem anhaltenden moment des ausatmens, sich wiederfindens und finalen entspannens weichen muss, über den schließlich gleichmäßig die abspanntitel streifen. es war eine verwirrende situation.

September Assayas, DEMON LOVER Clark, KEN PARK

14.9. Zufällig las ich heute in der zeitung, daß der neue film von gaspar noé in berlin läuft. Auf dem filmmarkt der berlinale habe ich einen anderen film von ihm, SEUL CONTRE TOUS, gesehen, den ich klasse fand. Sehr düster und grausam. Wäre vielleicht was für dich...

23.9. die filme von tsai ming-liang sind aber auch schön.

2.10. ... MARSEILLE schien mir an jenem vormittag im schneideraum flirrender und größer und leuchtender als WOLFSBURG. was vermutlich auch mit den sujets und den wirklichen städten der filme zu tun hat, ein strahlendes und leuchtendes wolfsburg wäre ein falsches wolfsburg. in wolfsburg, dem film, schlucken die aufgenommenen sachen und leute das licht, es kommt in den film als plane, grafisch angeordnete fläche ohne sichtbare tiefen zum wirken, jedweder überschuss ist aus ihm gesogen zugunsten der unbarmherzigen exekution(!) des plots; in marseille strahlt aber alles in den plot hinein und verwirrt ihn.

4.10. ... mit den beiden schauspieler-vermutungen lag ich doch daneben: weder ist der pruegelnde vater mit dem entenmaler aus FARGO (der hat tatsaechlich weniger haare, aber eine gewisse aehnlichkeit ist nicht zu verleugnen) noch ist shawn mit dem pubertierenden langweiler aus STORYTELLING identisch. shame on me. dafuer habe ich das tolle "parents"-stueck identifizieren koennen: das sind "the shaggs", drei ausgewiesene heldinnen der chicks on speed, die in der selben dilettantinnen-fraktion spielen, aber das wahrscheinlich seit ungefaehr dreissig jahren. mehr dazu unter home.flash.net

13.10.

- The Simpsons executive producer Al Jean: (....) We have a show coming up where Marge writes a novel and gets endorsements from writers playing themselves, including Tom Clancy, Thomas Pynchon-
  • IGN DVD: How did you get him [Editor's note: For the unfamiliar, Pynchon is the most reclusive and elusive author in the U.S. He's never does interviews, has never been photographed, and people don't even know where he lives. He makes Calvin & Hobbes cartoonist Bill Watterson look like a publicity hound.]

  • Al Jean: We got him. (laughs) He was really nice.

  • IGN DVD: Oh well of course, he's not seen, right?

  • Al Jean: He's wearing a paper bag over his head, but it is his voice.

  • IGN DVD: Oh that's priceless. I hope somebody gets the joke. Actually, I think getting J.K. Rowling is a bigger coup because she is better-known.

  • Al Jean: Well, she likes the show, we got her by satellite, I think from Scotland, and she'd just had her baby.(...)

dvd.ign.com

14.10. ... kennst du diesen marcus stiglegger eigentlich? so ein nachlaessiger vielschreiber, der papier fuellt, indem er altbekannte worte in exakt die erwartbarste reihenfolge bringt, die sich vorstellen laesst.

16.10. hey, sonntag habe ich geburtstag, vielleicht magst du zum abendbrot kommen gegen 7. bis dahin kannst du dir filme einfallen lassen mit entführungsopfern in entführungssituationen eventuell in fremden ländern mit unbekannten entführern. als geschenk.

26.10. Tarantino, KILL BILL VOL.1

27.10. ... stattdessen dreyer auf dvd. das daenische hoert sich immer so merkwuerdig zerdehnt an, eher nach der karikatur einer sprache, wuerde gern wissen, ob das die vorgabe dreyers war oder es an der kombinatorik von konsonanten und vokalen liegt.

29.10. ... der Film geht so: 6 oder 7 Frauen in einer Studiodisposition erzählen je unterschiedlich je unterschiedliche eigene Träume. Drei Kameras nehmen das auf, eine von Ihnen (DAS hätte dich vielleicht interessiert) ist dabei konsequent auf die Hände der Erzählerinnen gerichtet und zeigt deren Arbeit beim Erzählen. Wobei dem Film dieses spezifische Interesse jedoch wie nachträglich eingeflüstert wirkt, Senatsgelder und Kunstfilmschauen aufhorchen zu lassen. Not my cup of tea, aber in einer noch zu erarbeitenden enzyklopädische Sammlung von "Händen am Werk" einen Eintrag wert. Übrigens sah ich einen S/W-Fotoband aus den Nazi-30ern (oder waren es doch die DDR-50er?) mit diesem Titel (für 20 Euro allerdings) in meinem Stammantiquariat an der Hauptstraße. Interesse? Außerdem merkt S an, dass am Donnerstag um 20:45 Uhr in der Brotfabrik ein selten gezeigter Film zu sehen ist. Titel und Regisseur habe ich vergessen, ich erinnere nun nur, dass es eine semiddokumentarische Fiktion um die erste Deutschlandtour der ADVERTS (um 1977) mit Rahmenhandlung um der Band hinterherreisende Fans geht. Der Regisseur hat später einen Film mit Nena und Markus ("kleine taschenlampe brenn") gemacht, sich aber grundsätzlich Verdienste um die Dokumentation von "Punk in Deutschland" erarbeitet. S geht da hin, ich auch.

30.10. Wolfgang Büld: BRENNENDE LANGEWEILE / bored teenagers (BRD 1978)

30.10 ... immer die gleich doofen fragen in der diskussion, vor allem mit so einem bloeden tonfall gestellt. (warum jede einstellung so schief sei, ob er damit die architektur interessanter machen wolle etc.) emigholz reagiert darauf aber immer ganz gut, auch wenns ihm echt aus den ohren rauskommen muss mittlerweile.

6.11. ... Fast jedesmal renne ich nach zehn Minuten aus dem Kino, ich guck mir beim Hineingehen schon an, ob Säulen im Weg, Kurven in der Treppe, Podeste eingezogen sind. Die Werbung ist nütze, nicht solange sie Bilder zeigt, weil sie zu schnell sind, aber Schriften und die kommen immer vor, um das Produkt zu benennen und eine CI abzuliefern. Die Schärfe stimmt fast nie. Das muß ich monieren und mich manchmal dumm anmachen lassen dafür; heute hat es mich nicht gestört, weil ich allein im Saal war. Auf der Anzeigetafel an der Kasse stand "freie Plätze 180"; nachdem ich die Karte gekauft hab, 179. (...) Als Knut auftaucht und tags drauf vom Semmelholen kommt, schmeißt einer einen Schneeball auf ihn, man sieht, wie er alle Semmeln wieder aufklaubt, eine liegenläßt, förmlich die geweichte Kruste schmeckend. Wenn zu dem Geplänkel VOR der Kamera eben SIE ganz streng gewesen wäre, ganz scharf und unverrückbar, hätte ich den Film großartig finden können. Manchmal biedert sie sich an, wie sie verfolgt und mitschleicht, erscheint mir. Das Charmelose des Films zeichnet ihn aus als einen deutschen; das finde ich befreiend, weil er nichts anderes sein will.

11.11. ... aus Hollywood habe ich selten so etwas seltsames, eklektizistisches, verbrämtes, größenwahnsinniges und gleichzeitig peinlich kunstgottesdiensthaftes und wundervoll scheiterndes wie diesen Film gesehen...

19.11. ... gestern abend waren die augen dann muede, sonst haetten sie sich den FLUCH DER KARIBIK angesehen. aber bis zur videothek reichte es noch; wir hatten ALIENS oder ALIEN III anvisiert, dann hatte christian doch keine lust drauf und ich konnte ihn von FEMME FATALE ueberzeugen. an einigen stellen mussten wir lachen, an anderen glitt ich mit der kamera mit und freute mich ueber die oberflaechen. schoene eingangsszene, der plot bewegte sich, so kam es mir vor, immer am rand von irgendwas, daher war es so leicht, immer wieder in was anderes zu springen, weil die distanz zu diesem anderen (die zwischen menschen, zwischen varianten einer erzaehlung, zwischen gegenwart und zukunft) ohnehin immer so klein war.

19.11. ... mach doch ein gespraech mit farelly, wo kiarostami nichts geworden ist. vielleicht einfach ihm genau die fragen stellen, die man an kiarostami richten wollte...

20.11. BLISSFULLY YOURS

28.11. ... 'geheim' war die vorstellung, weil mishima und erben die westliche welt für derart verrottet halten, dass ihr jedes verständnis für den mit den gezeigten vorgängen verbundenen ehr-begriff abgeht, und daher jede vorführung ausserhalb des japanischen kaiserreichs, streng, verboten haben.

29.11. ... finde die überlegung, einen solchen film in und mit WOLFSBURG zu machen, absolut catchy. schon allein irre, mit dem zug in wolfsburg zu halten. wenn revolution, dann dort. oder in kassel, bielefeld, etc., später dann einzelne stadtteile von frankfurt/m.

4.12. Grandrieux, SOMBRE

5.12. ... interessanter film jedenfalls, fiel wieder einigermassen raus aus der kategorientafel, die man sich so zusammenbastelt implizit.

5.12. ... einem entzug sich ausgesetzt zu fühlen, was den zugang betrifft zu zeitgenössischen relevanten und oder avantgardistischen positionen, die anscheinend immer noch innerhalb der klassischen produktionsweisen und vertriebswege jenes autoren-weltkinos entstehen, von dem daney noch sprechen wollte (und auch schon nicht mehr konnte).

14.12. stimmt das, dass in dem film massenweise frauen ermordet werden? dann kann ich das nämlich glaube ich heute nicht ansehen




* *
*

(*) dank an meine adressaten, speziell an andreas, anna, antje, ariane, david, dietmar, ekkehard, johannes, martin, matthias, michel, rembert, stefan und volker, von denen die kursiven mailauszüge stammen

michael baute




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Donnerstag, 4. Dezember 2003

Landscape Suicide


Regie: James Benning, USA 1986

Die letzten vier Minuten von Antonionis "Blow Up": Thomas, Fotograf, Spurensucher, unfreiwilliger Kriminalist, schlendert durch den Park, der sich auf seinen Vergrößerungen scheinbar als Schauplatz eines Mordes entpuppt hatte. Aber die Leiche, die vorher, bei der Rekonstruktion in der Dunkelkammer sichtbar geworden war, ist nicht zu finden. Jetzt, neben dem Tennisplatz, begegnet er wie zu Beginn des Films den maskierten und ausgelassen johlenden Jugendlichen. Sie springen vom Wagen, zwei von ihnen laufen auf das Feld. Ein längerer Schlagabtausch beginnt, die Kamera verfolgt gemeinsam mit Thomas und den anderen Zuschauern den Ball, der hin- und hergeschlagen wird. Allerdings: da ist kein Ball (da sind auch keine Schläger, aber plötzlich sind dennoch die dazugehörigen Geräusche zu hören). Wie ist das zu verstehen? Dass es da auch kein Verbrechen gab?

James Bennings Film "Landscape Suicide", zwanzig Jahre später, 1986, beginnt auf dem Tennisplatz. Die Kamera, halbnah, ist starr auf ein junges Mädchen gerichtet, das in ermüdender Gleichförmigkeit an ihrem Aufschlag arbeitet. Anders als bei Antonioni mangelt es hier nicht an Bällen (an handfesten Verbrechen auch nicht). Im Gegenteil: Immer wieder wirft sie, scheinbar aus dem Nichts, einen weiteren Ball in die Luft und schlägt ihn aus dem Bild hinaus. Kurze Schwarzbilder - erste Lücken, in denen der Zuschauer etwas ergänzen muss - unterbrechen die Einstellung und lassen undeutlich werden, ob hier eine unendliche Wiederholung gezeigt wird oder immer wieder neue Bälle zu sehen sind. Dann, nach mehreren Minuten, in denen die ausholende, fließende Bewegung und der dazugehörige Klang schon fast zur Struktur geronnen sind, gibt es den (buchstäblichen) Gegenschuss auf die gegnerische Hälfte. An die hundert Bälle liegen da, unregelmäßig auf dem Platz verteilt wie ein schwer zu deutendes Sternenbild. Zu hören ist jetzt nichts mehr; zu sehen ist ein interpretierbares Muster. Ein Ort, der sich schon merkwürdig von der Tat abgelöst hat und zum unbeweglichen Bild geworden ist. Zum Bild wofür, fragt sich. James Benning ist niemand, der dem Zuschauer die Bälle einfach zuspielen würde.


Fall 1: "PAIN", 1984: Kirsten, 15, eine beliebte Cheerleaderin in einer kalifornischen Kleinstadt, ist erstochen worden. Es ist zunächst unklar, von wem, bis die ungefähr gleichaltrige Bernadette Protti den Mord gesteht. Offenbar ist sie von ihrer Mitschülerin häufig gehänselt worden; an einem Abend dann, als sie Kirsten zu einer Party abholt, sticht sie mehrfach mit einem Küchenmesser zu. "Death of a Cheerleader", nennt der 'Rolling Stone' die Geschichte. Bernadette reißt die Seiten aus dem Magazin heraus, als ließe sich die Tat dadurch ungeschehen machen.

Fall 2: "PLACE", 1957: Edward Gein, 57, lebt zurückgezogen - wohl auch etwas zurückgeblieben - auf einer kleinen Farm in Wisconsin. Im Hardware-Store des benachbarten Dorfes will er, neben Frostschutzmittel für seinen Pick-Up, auch ein Gewehr kaufen, das mehrere Arten von 22er Munition abfeuern kann ("short, long, and long rifle", wiederholt er später, etwas stumpfsinnig und mit leerem Blick, bei der Befragung immer wieder). Er lässt sich die Waffe zeigen, ein Schuss fällt, die Frau des Ladeninhabers ist tot. Jetzt, Jahre später, kann er sich nicht mehr so richtig erinnern, neigt auch, wie er sagt, dazu ohnmächtig zu werden, wenn er Blut sieht (ungewöhnlich für einen Jäger…). Jedenfalls findet man ihr Herz am folgenden Tag in seiner Bratpfanne, und auch sonst ist der Körper der Leiche in allerhand Einzelteile zerlegt. Aus der Gesichtshaut einer anderen Frau hat er sich eine Maske angefertigt. Er wird in eine Anstalt eingeliefert.

Soweit der Inhalt von "Landscape Suicide". Nur: Zur Beschreibung des Films sind diese Angaben völlig ungeeignet. Sicher kommt all dies vor, aber zugleich geht eine solche Zusammenstellung der Fakten radikal an dem vorbei, was die Bilder erzählen. Es führt nicht auf den Film zu, sondern allenfalls von ihm weg, hin zu den beiden Zeitungsmeldungen, die für Benning den Ausgangspunkt dargestellt haben könnten, um etwas völlig anderes daraus zu machen.

Wer Filme von James Benning kennt, kann sich vorstellen, dass die beiden Mordfälle, die "Landscape Suicide" rekonstruiert, nicht im herkömmlichen Sinne "erzählt" werden. Der Film ist nicht an der spannungsgeladenen Konvention des Kriminalfalls, sei sie dokumentarisch oder fiktional ausformuliert, interessiert. Das bedeutet nicht, dass er nicht spannend ist. Aber die Spannung liegt weniger in der Erzählung der Verbrechen als in der Untersuchung formaler Möglichkeiten ihrer Erzählbarkeit. In welchen Bildern sedimentieren sich Ereignisse? Benning zergliedert das Bild- und Sprachmaterial, das sich um die Morde angelagert hat und ordnet es nach einem strengen Muster. Er übersetzt die Polizeiakten zurück in Orte, Personen und Texte. Dabei werden weniger die Dinge selbst sichtbar als der Übersetzungsvorgang. Er hält die Bilder (der Landschaften, der Gesichter) offen, in denen sich Teile des Verbrechens - das glaubt man zu sehen - einnisten können. Die "Story" ist da eher ein Vorwand. ("Landscape Suicide" ist auch der einzige Film, in dem Benning überhaupt mit Schauspielern arbeitet: "In earlier films, I used minimal narratives as a context for formal investigations, because back then I thought, 'People need narrative to watch. If I do non-narrative experiments they'll never enter the film.'" Kommt darauf an, was man unter "enter" versteht.)

Wie steigt man in "Landscape Suicide" ein? Der Film operiert aus dem kriminalistischen Archiv heraus, es könnte also hilfreich sein, die Ebenen seines Zugriffs zu inventarisieren:

  • 1 Einblendung mit Tagesdatum

  • 1 lange Autofahrt, starr aus der Frontscheibe herausgefilmt. Im Radio predigt jemand wortgewaltig von Übel, Untergang und der Möglichkeit der Vergebung.

  • 1 lange Interviewsequenz, die Kamera ist starr auf die Schuldige gerichtet. Sie sitzt vor einer weißen Mauer, die Fragen kommen aus dem Off, knapp und präzise gestellt.

  • 1 stark stilisierte Szene: man sieht ein kitschig-gewöhnliches amerikanisches Teenagerzimmer, auf der Tonspur ist ein Song zu hören: "Memories", das Lieblingslied des Opfers, wie vorher zu erfahren war. Aha: dann ist das Mädchen mit Fönfrisur, das in starrer Einstellung für die gesamte Dauer des Liedes beim Telefonieren gezeigt wird, also Kirsten.

  • 1 Ausschnitt einer Landkarte von Kalifornien. Dazu eine Stimme, die nüchtern Hintergründe des Falles aufzählt

  • 1 Blick, wieder ausschnitthaft, auf einen Computerbildschirm: Police-File, schätzungsweise.

  • 1 handgeschriebener Brief: Bernadette an ihre Eltern. Nur auf diesem Weg kann sie den Eltern ihre Tat beichten. Sie hat alles kaputt gemacht. Einsicht. Klarheit. Fatalismus. Vergebung?

  • 1 Zeitschrift: die "Rolling Stone"-Ausgabe mit dem Artikel über den Mord

  • 1 Fotografie, grobkörnig, vielleicht aus dem Artikel. Dann wäre darauf das reale Opfer zu sehen, das Mädchen, dessen Fall hier nachgestellt und rekonstruiert wurde

  • sehr viele Aufnahmen, vielleicht 15 die ausführlich verschiedene Orte zeigen, immer in unbewegter Einstellung. Einige davon werden per Bildunterschrift zugeordnet ("sowieso-Highschool"), bei anderen muss man den kriminalistischen Bezug selbst herstellen.

Unter diesen Teilen bilden die Interview-Sequenz und die Ortsaufnahmen die beiden deutlichen Schwerpunkte, die übrigen Elemente dienen als Verbindungsmaterial, auch zum jeweils Neu-Justieren der Perspektive. Dem Gespräch und den Bildern von Orten lassen sich auch die beiden Worte des Titels zuordnen: von der Möglichkeit des Selbstmords spricht Bernadette, und die Landschaft ist der dritte große Akteur neben dem Täter und dem Opfer. In der Insistenz und Beharrlichkeit, mit der Benning die Orte filmt, werden sie Mitwisser, stumme Zeugen, Handelnde. Dem Ort wird hier eine Macht zugesprochen, wie man es aus wenigen anderen Filmen kennt. Auch die beiden Kapitelüberschriften "Pain" und "Place" sind auf Ort und Person beziehbar. Was der Film als Spannung in Szene setzt, ist das Verhältnis zwischen beidem: zwischen Subjekt und Topographie. Er nähert beides einander an, ohne es auseinander herzuleiten.

Ein Interesse für Polaritäten und Spiegelverhältnisse - Westcoast vs. Heartland, Sonne vs. Schnee, Jugend vs. Alter, Klarheit und Einsicht vs. Stumpfheit oder Unzurechnungsfähigkeit - ist auch auf der Makro-Ebene wiederzufinden. Denn der zweite Fall, Ed Geins Geschichte, ist über die Mittelachse an der ersten Hälfte des Films gespiegelt. In dieser Hinsicht ist der Film der einzige strukturalistische Krimi, den ich kenne. Wie präzise der Mathematiker Benning, der in der Kalifornien-Trilogie (LOS, El Valley Centro, Sogobi) jede Einstellung exakt 2 Minuten 30 Sekunde dauern läßt, dieses Spiegelungsverhältnis berechnet hat, könnte man erst beurteilen, wenn man den Film noch ein zweites Mal sehen würde, am Schneidetisch oder am Recorder. Jedenfalls finden sich in der zweiten Hälfte von "Landscape Suicide" ("PLACE") äquivalente Szenen zu allen oben aufgelisteten wieder, aber - so scheint mir - weitgehend in umgekehrter Reihenfolge. Hier sind zunächst die Orte zu sehen: Leere, verschneite Landschaften, geschossenes Wild, ein Hardware Store.

Die Verkehrung der Reihenfolge hat einen erstaunlichen Effekt: Die Interview-Sequenz, in der Gein in monoton-leeren Erläuterungen zum Tathergang die meisten Informationen liefert, rückt fast an das Ende des Films. Die langen Landschaftsaufnahmen bleiben daher unbesprochen, es sind vorerst potentielle Tatorte, zu denen das Verbrechen noch gefunden werden muss. Jetzt ist es die Landschaft, die die Vorgaben macht, die zu mehr als einem beliebigen Rahmen wird, sondern zum Raster für (Kriminal-)"Geschichte". Zumindest gedanklich wird man dadurch auch als Zuschauer selbst zum Täter, der auf der weißen Leinwand des verschneiten Wisconsin blutige Spuren hinterlässt.

Dass jeder Ort - und das bezieht sich bei Bennung nicht zuletzt auf die USA - ein Schauplatz des Verbrechens ist, ist dem Film ohnehin ausgemachte Sache.

Volker Pantenburg




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