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Dienstag, 16. März 2004
"Ein Geheimnis der Verkörperung". Über "Gertrud" von Carl Theodor Dreyer (1964) Von Manfred Bauschulte Vorspann „Les femmes sont amoureuses et les hommes sont solitaires. Ils se volent mutuellement la solitude et la amour“. René Char, Aromates Chasseurs (1975) / Jean Luc Godard, Nouvelle Vague (1990). « L Ein Frauenstück „Gertrud! –Gertrud! – Gertrud!“ – mit diesem dreimaligen Namensruf endet Hjalmar Söderbergs gleichnamiges Theaterstück aus dem Jahr 1906. Gustav Kanning, der gerade zum Minister ernannt wurde, geht in den Zimmern seines Hauses auf und ab und sucht nach der Frau, die ihn verlassen hat. - In diesen Schlussakt hat Hjalmar Söderberg, um den Verlassenheitsruf zu moderieren, um ihn etwas hinauszuschieben, das Erscheinen von Kannings Mutter hinein verlegt. Ihr Auftritt, die mütterliche Zuwendung verzögert einen Augenblick lang den Gang der Dinge. Die ödipale Situation von Mutter und Sohn hilft kurze Zeit über den Bruch, die durch Gertrud vollzogene Trennung hinweg: „Ich glaube, du weinst Gustav? Weine nicht, mein lieber Junge. Wenn das wirklich wahr ist – obwohl ich es trotzdem nicht glaube, Gustav – ist sie ja nicht so, dass du ihr nachtrauern müsstest“. Walter Boehlich hat vor 20 Jahren mit seiner Übersetzung des Theaterstücks von Hjalmar Söderberg und mit seinen kommentierenden Anmerkungen den Rahmen abgesteckt, in dem sich „Gertrud“ als ein zentrales Frauenstück unter den bedeutenden skandinavischen Theaterstücken um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bewegt. Das Stück geht einen Schritt weiter als Ibsens „Puppenheim“ (1879) und auch als Strindbergs „Fräulein Julie“ (1889). Walter Boehlich beschreibt präzise und zurückhaltend die Entstehung und Überlieferung des Stückes. Er schreibt sehr plastisch und schön über die Hauptfigur des Stückes: „Gertruds Fähigkeit, zu lieben, wird erkennbar als Bedingung ihrer Autonomie, so wie andererseits ihre Autonomie dieser Fähigkeit dringend bedarf“. Hjalmar Söderberg, Gertrud. Übersetzt und herausgegeben von Walter Boehlich. Verlag der Autoren Frankfurt/M. 1981. „Liebe und tu was du willst“. „Gertrud“ von Carl Theodor Dreyer, der Film aus dem Jahr 1964, entwickelt eine radikale Transposition für Söderbergs Theaterstück. Er entwickelt eine völlig eigene filmsprachliche Ausdruckswelt für die zentrale Frauengestalt und transportiert deren Problematik ins Zentrum moderner Erfahrungen. Carl Theodor Dreyer zeigt mit Gertrud eine Frau, die die Fähigkeit zu lieben und ihre Autonomie, die sie gleichzeitig mit dieser Fähigkeit entwickelt, verkörpert. Dreyer findet in diesem Film einen modernen Ausdruck, um die Liebesvorstellung des Augustinus zu entfalten, die da lautet: „Liebe und tu, was du willst“. Seine filmsprachliche Ausdruckswelt transportiert eine radikale Liebesvorstellung durch das 20. Jahrhundert in unsere Zeit. Ob diese Liebesvorstellung einen gangbaren Weg beschreibt, wie viel Scheitern, mit diesem Weg verbunden ist – davon will ich vorsichtig zu sprechen und zu handeln versuchen. In dem Film von Carl Theodor Dreyer werden wir nicht, wie es so viele Male schon zuvor gesagt wurde, mit „Gertruds“ Tragik konfrontiert, sondern - wenn denn überhaupt von Tragik zu sprechen ist -, werden wir mit unserer eigenen Tragik konfrontiert: mit der Unfähigkeit in Verkörperungen der Arbeit und der Liebe zu leben, zu fühlen und zu denken. Vielleicht erwächst aber gerade aus dieser Konfrontation eine neue Qualität der Sicht auf „Gertrud“, vielleicht kann durch diesen Film ein sich entwickelnder Freiraum für Gefühle und Verwandlungen erkennbar werden: ein Freiraum, in dem schöpferische Akte, sich mit den Fähigkeiten zu lieben vereinen lassen. Es würde sich dabei um eine konkrete Utopie gegenseitiger und wechselseitiger Akte von Schöpfung und Liebe handeln. Mein vorsichtig formulierter Vorschlag würde so einfach wie konkret lauten: im Arbeiten und Lieben mit den Händen zu denken. Blicke und Hände, die zu einer solchen Verbindung fähig wären, könnten die rätselhafte Coda des Films auflösen und in die konkrete Wirklichkeit transponieren. „Un phare pilote“. Michel Delahaye sah und beschrieb „Gertrud“ im Jahr 1968 mit der folgenden Einstellung, die ich in ihrer existentialistischen Klarheit – einen solchen Realismus sucht man in dieser Zeit vergeblich – hier im Orginalton als Einstieg wiedergebe: „>Gertrud<, évidemment, est un film qui ne parle que de l’essentiel. Et d’abord de l’amour. Carl Th. Dreyer fait partie (comme Ingmar Bergmann ou Mizoguchi Kenji) des cinéastes amoureux de la Femme, et >Gertrud< est entièrement fait sur l’Esprit de la femme, Esprit de don, de risque et d’aventure, mais que tolère mal l’Esprit masculin, cet esprit besogneux d’égoisme et de vanité que décrivait déjà le >Maître du logis< et qu’incarnent diversement les differents mâles de >Gertrud<. Nous avons dit l’Esprit, et c’est bien. <Mais, j’ai aussi aimé son corps>, dit le jeune époux d’>Ordet<. Et il va de soi qu’il s’agit toujours, avec Dreyer, de l’un et de l’autre. C’est à cela que >Gertrud< doit sa qualité unique d’érotisme.
Michel Delahaye, Un phare pilote. In : Cahiers du cinéma, Carl Th. Dreyer numéro spécial avec disque souple. Numéro 207, décembre 1968. „Aber ich habe geliebt“. Zu Beginn dieser Darstellung und dieses Versuchs kann also nur der Schluss des Films Erwähnung finden. Die „Gertrud“ von Dreyer ist eine alte Frau geworden, die im Gespräch mit ihrem Freund Axel Nygren, einem Psychoanalytiker, ihr Leben Revue passieren lässt. Gertrud ist eine alte Frau geworden, die es gelernt hat, Abschied zu nehmen, die jetzt Abschied nimmt für immer, weil sie sich wie zuvor schon viele Male lösen und trennen konnte. Diese Abschiedszene wie auch der Psychoanalytiker-Freund sind eine Erfindung von Carl Theodor Dreyer. In dieser Abschiedszene operiert er gezielt mit Elementen aus Söderbergs Stück, die er transponiert. Er rückt das Gedicht der sechzehnjährigen Gertrud, ihr „Liebes-Evangelium“ aus dem Zentrum des Stücks an das Ende und macht es jetzt in der Retrospektive zu einer zentralen Aussage des Films. Während Gertrud das Gedicht liest, wird der geschriebene Text als Bild-Testament eingeblendet: „Sieh mich nur an. Bin ich schön? Nein. Aber ich habe geliebt. Sieh mich nur an. Bin ich jung? Nein. Aber ich habe geliebt. Sieh mich nur an. Lebe ich? Nein. Aber ich habe geliebt“. Die filmsprachliche Kontrapunktik von Carl Theodor Dreyer kulminiert im Schlussteil. Auf die Einzelheiten dieser Coda, die merkwürdigen Rollen, die der Hausdiener und der Psychoanalytiker, aber auch Gertrud in ihrer scheinbar manischen Konsequenz, auf all diese Einzelheiten der wundersamen Schlusseinstellungen werde ich am Ende dieses Versuchs zu sprechen kommen. Ich werde die Frage zu stellen haben, wie Carl Theodor Dreyer mit dem Freiheitsanspruch der Liebe verfährt, wie er ihn an seine Zuschauer weiterreicht. „Henry van de Velde“. In Hjalmar Söderbergs Stück konnte die Psychoanalyse noch keine Rolle spielen, sie war ja erst wenige Jahre jung. Was diese Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bedeutete, was die Zeit vor dem 1.Weltkrieg bewegte, wie sie sich den Aufbruch in eine neue Zeit vorstellte, - das hat sehr einfühlsam und plastisch Henry van de Velde, der Theoretiker des „Neuen Stils“, beschrieben. Er hat es von einem Standpunkt avancierter Modernität beschrieben. Der folgende Programmtext berührt Carl Theodor Dreyers Intentionen und seine Filmsprache. - Frieda Grafe hat zu Recht immer wieder auf Henry van de Velde hingewiesen -. Van de Velde formuliert eine programmatische Brücke für die ästhetische Wahrnehmung im 20. Jahrhundert, die heute noch gültig ist: „Den Sinn, die Form, den Zweck aller Dinge der materiellen modernen Welt mit derselben Wahrheit erkennen, mit der die Griechen, unter vielen andern, Sinn, Form und Zweck der Säule erkannt haben. Es ist nicht leicht, den exakten Sinn und die exakte Form für die einfachsten Dinge heute zu finden. Wir werden noch lange brauchen, um die exakte Form eines Tisches, eines Stuhles, eines Hauses zu erkennen. Religiöse, willkürliche, sentimentale Phantasiegebilde sind Schmarotzerpflanzen. Sobald die Arbeit der Reinigung und Auskehr beendet ist, sobald die wahre Form der Dinge wieder ans Tageslicht kommt, dann eben mit der Geduld, mit eben dem Geist und mit der Logik, mit der die Griechen nach der Vollkommenheit streben. In gleichem Maße wie bei den Griechen scheint mir die künstlerische Sensibilität bei uns ausgebildet zu sein; weniger ausgebildet, aber schwächer entwickelt, ist bei uns der Sinn für Vollkommenheit. Unter welchem sozialen Regime aber werden wir die heiter verklärte Ruhe genießen, die wir zur Arbeit und zum ernsten Streben brauchen? Antwort: Sollen wir von einem sozialen Programm erwarten, was doch nur unserem eigensten Innern entstammen kann? Vernünftig denken, die künstlerische Sensibilität kultivieren! Jeder von uns vermag das heute für sich selbst; es handelt sich nur darum, dass es deren Viele werden, auf dass eine neue soziale Atmosphäre entstehe“ Henry van de Velde, Zum neuen Stil. Aus seinen Schriften ausgewählt und eingeleitet von Hans Curjiel München 1955. („Henry van de Velde hat am Entstehen der Anthologie lebhaften Anteil genommen und sie durch vielerlei Anregungen sehr gefördert“, schreibt der Herausgeber). „Ich möchte meine Männer selbst wählen“. Vernünftig denken und die künstlerische Sensibilität mit dem kultivieren, was aus dem eigensten Innern entstammt! – Das ist eine pointierte Formulierung für Carl Theodor Dreyers filmisches Credo, das sich exemplarisch als Sujet die Liebesgeschichte einer Frau wählt: Gertrud fühlt sich von einer Männerwelt bedrängt und beengt, die in einem gefühllos gewordenem Arbeits- und Berufsleben erstarrt ist. Sie sucht dieser Welt mit innerlichen Kräften zu widerstehen. Gegenüber ihrem Mann, dem angehenden Minister, gegenüber Kanning, den sie verlassen wird, sagt sie dies programmatisch. Ihrem jugendlichen Liebhaber, dem Komponisten Erland Jansson erzählt sie es, nachdem sie ihm ihre Liebe erklärt hat, als Bedrohung, als Traum: „Ich träumte, dass ich nachts durch die Straßen lief mit einer Meute Hunde hinter mir, als sie mich einholten, erwachte ich“. Gertrud ringt von Anbeginn an mit den scheinheiligen und verstellten Vorstellungen einer allgegenwärtigen, überdeterminierten Männerwelt. Als in einer späteren Szene Gertrud auf dem Festakt für den Dichter Gabriel Libman, für ihren Ex-Liebhaber, einen Schwächeanfall bekommt und sich in den Salon zurückzieht, hängt übergroß an der Wand eine Tapisserie, die genau diese Traumszene darstellt: Eine Frau, die von einer Meute Hunde umstellt wird und zerrissen zu werden droht. Als ersten Besuch in diesem Salon empfängt sie ihren Freund Axel Nygren, der ihr eine Kopfschmerztablette reicht und dann von seinem neuen Buch über den freien Willen berichtet. Woraufhin Gertrud Axel Nygren von ihrem Vater und ihrer Kindheit erzählt, von dessen Fatalismus und Vorsehungsglaube. „Ich möchte meine Männer selbst wählen“, sagt Gertrud am Ende ihrer Kindheitserinnerung so unvermittelt, dass Nygren nur erstaunt nachfragen kann: „In der Mehrzahl“. „Ja, in der Mehrzahl“, bestätigt Gertrud entschlossen. „Psychosen, Neurosen, Träume“. Dann erzählt Nygren Gertrud, dass er aus Paris kommt, wo sich eine neue Generation von Psychologen und Psychiatern zusammengefunden habe. Diese Gruppe, zu der er sich zähle, analysiere mit Hilfe der Hypnose und Telepathie Symbole und Träume, sie beschäftige sich mit Psychosen und Neurosen. Daran würde auch sie gerne teilhaben, sagt Gertrud. Solche Diskussionen würde auch sie gerne führen. Das ganze Gespräch über hängt Gertruds Traum als Tapisserie übergroß an der Wand im Hintergrund. Ihr Traum ist sichtbarer Teil des filmischen Arrangements geworden und führt zu einem erweiterten psychoanalytischen Prozess, in den der Zuschauer unmittelbar hineinversetzt wird. Diese psychoanalytische Sitzung wird aber gleichzeitig von Anbeginn an, - das ist das Bedeutsame an dieser langen Einstellung -, von der Festrede Kannings, die er im Festsaal neben dem Salon hält, akustisch überblendet oder begleitet. Immer wieder dringen Wort- und Satzfetzen von der Rede ihres Mannes in dieses Gespräch ein. Dreyer verleiht so einer allgegenwärtigen und niemals ins Leere laufenden männliche Rhetorik Ausdruck. Die männliche Rede in ihrer Monotonie ist als enervierendes Hintergrundgeräusch einfach nicht auszustellen oder abzuschalten. Das innere Drama Gertruds bildet in Gestalt der Tapisserie die Kulisse für eine erste psychoanalytische Sitzung mit Nygren, aber gleichzeitig spielt sich ihr wirkliches Drama von Männern umstellt zu sein und zerrissen zu werden, unmittelbar optisch und akustisch vor den Augen und Ohren des Zuschauers ab. Es scheint so, als ob Gertrud mit ihren widerstreitenden Gefühlen von den Ansprüchen und Lügen der sie umgebenden Männerwelt buchstäblich jeder Zeit zerrissen zu werden droht. Auch Axel Nygren, der Psychoanalytiker hat einen nicht geringen Anteil an dieser bedrohlichen, allgegenwärtigen Repräsentanz. Ein Gorilla-Pärchen. Der anschließende Dialog, den Gertrud mit ihrem Ex-Liebhaber Libman im Salon führt, wird von der gleichen, aber jetzt zweifach-verschobenen Problematik bestimmt. Im Aufbau der Film-Kulissen des Salons weiß man jetzt: die Protagonisten müssen der Tapisserie genau gegenüber auf einem Sofa sitzen. Libman versucht im Gespräch auf eine vollkommen verquere Weise seine alte Liebe zu Gertrud wiederaufleben zu lassen und zu erklären, gleichzeitig kann er aber nicht anders, als ihr von den Verfehlungen ihres aktuellen Liebhabers Erland Jansson in der vorangegangenen Nacht zu berichten. Er will ihr berichten, dass dieser ihren Namen und Ruf in den Schmutz gezogen hat. Und während all dieser krampfhaften Annäherungen und Versuche überlagern die Klänge einer Komposition eben dieses Liebhabers, die gerade im Festsaal gespielt wird, das Gespräch. Zudem hat Dreyer offensichtlich auf eine besondere Weise die erstarrte Szene von Gabriel Libman und Gertrud auf dem Sofa durch eine listige Spielanweisung an die Schauspieler präformiert. Wie Ebbe Rode, der Darsteller des Libman, in seinen Erinnerungen berichtet, hielt er ihm und Nina Pens Rode vor dem Drehen dieses Gesprächs eine Aufnahme vor, die ein Gorilla-Pärchen in erstarrter Pose und Distanz zeigte. Ebbe Rode hat dieses Bild offenbar sehr, sehr wörtlich genommen, denn selbst als Libman einen Weinkrampf bekommt, hat man den Eindruck, das er einen Gorilla mimt. Welten trennen Gertrud in dieser Szene von ihrem Ex-Geliebten. Sie werden sichtbar. Die Kontrapunktik von Stil und Gefühl. Mit den subtilsten, gleich wohl folgerichtigsten, einfachsten Wechselschritten von Wort und Geräusch, Erzählung und Bild, Eindruck und Traum, Dialog und Geste, Vorder- und Hintergrund: - in der genauen und konkreten Abfolge des Wechselverhältnisses von Hörbar-Gesagtem und Unsichtbarem, Unsagbarem und Sichtbarem - entwickelt Carl Theodor Dreyer Schritt für Schritt Beweg- und Beweisgründe für den Absolutheitsanspruch und das Unabhängigkeitsverlangen von Gertrud. Ihr Freiheitsverlangen sieht sich auf eindringliche Weise ständig mit Enttäuschungen, Versagungen, Anfeindungen und Scheinheiligkeiten konfrontiert. Es wird überall auf die Probe gestellt und unerwarteten Prüfungen unterzogen. D.h. zentral geht es Dreyer darum sichtbar zu machen, wie Gertruds Liebesverlangen ständig mit dem eigenen Erwachen zu ringen hat. Sie fühlt sich durch alle Stadien ihrer vergangenen und gegenwärtigen Enttäuschungen wie durch einen Tunnel hindurch, um implizit und am Ende an ihrem Absolutheitsanspruch festzuhalten. Wobei allerdings diese Behauptung niemals ein Manifest ist, das gilt es zu zeigen. Der Zuschauer kann zu einem Teilhaber dieses Begehrens werden, wenn er bereit ist, den Bewegungen aufmerksam zu folgen, wenn er erkennt, wie es sich zu behaupten lernt. Carl Theodor Dreyer führt die Zuschauer so direkt wie möglich zum wider-streitenden Gefühlsleben seiner Protagonistin. Beinahe bin ich geneigt zu sagen, er stößt sie geradezu mit der Nase darauf. Vielleicht verweigern sie ihm gerade deshalb die Aufmerksamkeit, weil es sehr schmerzhaft ist, immer genau zu zuhören und zu sehen, wie Gertrud umstellt wird. In Dreyers Film kann der Zuschauer lernen in den Gesichtern der Schauspieler zu lesen. Er kann lesen lernen, was der eine Schauspieler wohl denkt, während der andere spricht. Er kann lesen lernen, wie sich im Laufe einer langen Einstellung und eines langen Gesprächs der Gesichtsausdruck der Schauspieler verändert. Er kann aber auch lernen zu hören, was während der ganzen Zeit aus den Kulissen heraus an Geräuschen, Uhrenschlagen, Glockenläuten usw. hereindringt. Er kann lernen, wie Menschen sich mit ihren Bewegungen und Gesten und Worten in Räumen bewegen können und welche optisch-akustisch-gestischen Beziehungsformen sie entwickeln. Er kann lernen, wie die Körper sprechen und nur von sich. Der Filmregisseur Carl Theodor Dreyer teilt mit dem Kunsttheoretiker Henry van de Velde einen Vollkommenheitsanspruch an die Kunst der Darstellung, der sich aus der Genauigkeit und Klarheit, der Sicht und dem Gefühl für die einfachsten Dinge des Lebens her entwickelt. Dieser Vollkommenheitsanspruch überkreuzt sich mit dem Absolutheitsanspruch seiner Protagonistin, mit Gertruds Begehren nach freier Liebe, und er verhilft diesem Anspruch zur Darstellung. Beide Ansprüche, die künstlerische Darstellung und das weibliche Begehren, sind mit der modernen Welt, mit den ins Leere laufenden, unreflektierten, überdeterminierten Anforderungen in einer männlich-dominierten Welt konfrontiert. Sie sind dies so unmittelbar, ständig, so direkt, dass daraus geradezu eine tragische Konstellation erwachsen kann. Eine solche tragische Konstellation muss jedoch nicht zwanghaft erwachsen. Im Gegensatz zu Frieda Grafe, die vor 30 Jahren Beeindruckendes über den Film schrieb, glaube ich, dass man sagen kann, - wenn man auf die Details des Films und ihre Genese zurückgeht -, dass Dreyer fähig gewesen ist, dieser Tragik zu begegnen. Er hat sie empfunden, und er begegnet ihr auf Schritt und Tritt, er hat sich ihr bewusst ausgesetzt. Gerade aus der exemplarischen Begegnung mit dem „Scheitern und Nicht-Scheitern“ Gertruds in der Abschiedsszene, wachsen dem Film heute Qualitäten zu, mit denen wir weiterarbeiten können. Genau besehen führt dorthin die genaue Auseinandersetzung mit der von Dreyer instrumentierten Kontrapunktik von Stil und Gefühl. Früher, d.h. in der Zeit vor der Romantik nannte man eine solche Verbindung so einfach wie direkt: Takt. Stil und Gefühl waren im „tactus“ noch eins. Die Vorstellung von romantischer Liebe zerbrach diese Einheit. Das unreflektierte Nachleben einer Vorstellung von Liebe, die auf dem bloßen Gefühl für Liebe, ohne die damit verbundene Vorstellung von Freiheit und Würde beruht, verhindert seither einen spannungsvollen Liebesdiskurs. Hier, genau hier liegen Dreyers unerhörte, unsichtbare Qualitäten: er macht einen solchen Liebesdiskurs wieder möglich, indem er das Verhältnis von Freiheit und Liebe, von Stil und Gefühl kontrapunktisch entfaltet. Der Standort einer Frau von vierzig Jahren. Carl Theodor Dreyer nimmt in seinem Film die Einstellungen und Positionen von Gertrud ein. Er teilt, wie Serge Daney es exemplarisch an der Szene mit ihrem Liebhaber Erland Jansson im Park beschrieben hat, den Blick einer vierzigjährigen Frau auf einen jüngeren Mann. „Es gibt im Kino eine Einstellung, die mir ganz außerordentlich erscheint. Es handelt sich um Gertrud von Dreyer (einer derjenigen, die es am besten verstanden haben, von Frauen zu reden): Gertrud steht zögernd (hésite) zwischen drei Männern, wobei der eine sehr viel jünger ist; in der Szene im Park (mit all den Statuen) gibt es eine geniale Einstellung und Kadrage, die den Körper dieses Jungen genau in diesem Gemisch erscheinen lässt von: ziemlich nah gesehen und doch, um ihn herum, etwas, das ein bisschen größer ist als er – was dazu führt, dass er anwesend und gleichzeitig unteilbar in dieser Anwesenheit ist. Man nimmt wirklich den Standort einer Frau von vierzig ein – eben Gertrud, die sich ganz einfach und sehr ernsthaft die Frage stellt, ob dieser Körper etwas für sie sei – dieser Junge, der jünger ist als sie. Das ist sehr eindrucksvoll bei Dreyer. Das hat zu tun mit ‚der Eroberung des Körpers’, einer Eroberung, die sich die Fetischisierung des Körpers verbietet – im Gegensatz zum Mann“. Serge Daney, Devant la recrudescence des vols de sac à main. Cinéma, télevision, information (1988-1991) Lyon 1991. (Diese Übersetzung stammt von Johannes Beringer. Herzlichen Dank an ihn. Er schickte sie mir vor Jahren. Sie blieb lange zwischen meinen Papieren liegen und kommt jetzt wieder aus der Versenkung in einer von ihm überarbeiteten Fassung.) Die situative Entwicklung der Autonomie. Dreyer geht in seinem Film bei Gelegenheit noch einige radikale Schritte weiter: Er zeigt Gertrud in einer Rückblende und in einer langen Einstellung, wie sie ihre Beziehung zu ihrem Liebhaber Gabriel Libman reflektiert, wie sie sich in dessen Wohnung aufhält und bewegt, dort aufräumt und phantasiert, wie sie sich in der Gegenwart des abwesenden Geliebten fühlt, ihn erwartend und umsorgend. Sie durchquert in träumerischer Weise alle Räume der Wohnung. Es wird offensichtlich, dass der Sinn für Einfachheit bei Dreyer sich hier paart mit einem weiblichen Blick auf Umstände und Situationen, für die Dinge, für Anwesende und Abwesende. In leichthin gleitenden, in völlig zwanglosen Bewegungen, die jeder Fetischisierung aus dem Weg gehen, in einer meditierenden, fast schwebenden Weise wird Gertrud gezeigt. Bis zu jenem Moment, wo sie an den Arbeitsplatz, den Schreibtisch des geliebten Mannes tritt und einen Zettel mit der Notiz findet, dass Arbeit und Liebe sich ausschließen würden. Diese Notiz – das wird dann retrospektiv deutlich – führte zur ihrer Trennung von dem Schriftsteller Gabriel Libman. In einer anderen, beinahe unscheinbaren Nebenszene wird der gleitende Bewegungsmodus von Carl Theodor Dreyer ebenso sichtbar: an dem subtil komischen und grotesken Umgang mit der Zigarette ihres Liebhabers Erland Jansson. Im Anschluss an ihr Rendezvous, als Jansson sich eine Zigarette ansteckt und sie Abschied nehmen will, entnimmt sie die brennende Zigarette seinen Händen, raucht sie und hält sie buchstäblich bis zum letzten Augenblick des Abschieds fest. Sie reicht sie ihm erst im letzten Augenblick, als sie schon fast aus der Tür und aus dem Bild ist, wieder durch die offene Tür zurück Gertrud beherrscht bereits hier ein Stück weit die Situation des Abschiednehmens. - Wobei hinzugefügt werden muss, dass dieses Rendezvous und alle Passagen (z. B. die lyrische Einstimmung durch Gertruds Traumgesicht, auf die ich noch näher eingehe) davor und danach einer Erfindung und Dramaturgie von Dreyer folgen. Bei Söderberg gibt es solche Szenen nicht. Dreyers filmische Intelligenz und Erfindungskunst versuchen in diesen Szenen einen Rahmen für all jene Bedingungen aufzuzeigen, unter denen sich Gertruds Autonomie situativ entwickeln kann. In vielen einzelnen Szenen wird deutlich, wie Dreyer Gertrud in gleitende, träumerische und zurückhaltende Bewegungsformen eingehen lässt, die jeden Fetischismus ausschließen. Die Sichtweise des Spiegels, den ihr Libman schenkte, macht dieses erkennbar. Libman zündet die Kerzen neben diesem Spiegel an, als wolle er in einer Haltung männlicher Erwartung, dass Gertrud darin erscheint, und sie erscheint ihm tatsächlich darin. Aber Gertrud ist es, die im Anschluss an dieses, ihr letztes Gespräch mit Libman, die Kerzen wieder löscht, und darin ihre weibliche Gelöstheit und Intuition verkörpert. Eine solche, die sich von sich kein Bild machen will und muss. Gertrud, die im Spiegel wie aus einer lebendigen Vergangenheit ihrem Liebhaber erscheint, überwindet durch sich den Fetischismus dieses Geschenks, weist auf eine unbeweisbare Zukunft hin, die durch sie lebt, durch die sie lebt. Es handelt sich um gleitende Bewegungen, die jede Form von Fetischisierung und Symbolisierung aufheben, d.h. implizit damit einen emanzipatorischen Umgang mit Menschen und Dingen aufzeigen und eine Selbstfreigabe evozieren, die den Gefühlen einer Frau innewohnt. Sohin auch und vor allem der Arbeit des Regisseurs zu Grunde liegt. Dreyers Protagonistin, die so sehr der männlichen Dominanz preisgegeben und ausgeliefert ist, überwindet ihr Ausgeliefertsein Schrift für Schritt, weil sie sich zu den Kräften eines Innenlebens bekennt, das in der Lage ist, sich selbst freizugeben, das auf Symbolik und Repräsentation verzichten lernt. In dem ständigen Widerstreit mit der übermächtigen Außenwelt wird Gertrud befähigt, in fließenden und träumerischen Ausdrucksbewegungen ihre eigenen Schwächen zu überwinden, an ihren liebenden Fähigkeiten festzuhalten und für sich einen Schritt weiterzugehen. Die Rückblenden im Film zeigen, wie sich aus der Erinnerungsarbeit von Gertrud heraus ihr Freiheitsanspruch entwickelt hat. Diese Reisen in die Vergangenheit verfahren niemals symbolisch oder repräsentativ, sondern sie entfalten sich in der Kontrapunktik zu aktuellen Konflikten und Verstrickungen in fließenden Bewegungen. „Wer bist du eigentlich?“ In der Liebes-Traum-Sequenz von Gertrud, diesem Akt einer meditierenden Annäherung an die Vereinigung mit einem Mann, liegen all diese Elemente sehr deutlich vor. Ich gebe die lyrische Gesprächs-Meditation hier im Wortlaut wieder: Erland: Wer bist du eigentlich? Gertrud: Ich bin viele verschiedene. Erland: Wer? Gertrud: Ich bin der Morgentau, der von den Blättern tropft. Und die weiße Wolke, die vorüberzieht. Niemand weiß wohin. Erland: Was noch? Gertrud: Ich bin der Mond. Ich bin der Himmel. Erland: Bist du noch mehr? Gertrud: Ich bin ein Mund: ein Mund, der einen anderen Mund sucht. Erland: Das klingt wie ein Traum. Gertrud: Es ist ein Traum. Das Leben ist ein Traum. Erland: Leben? Gertrud: Das Leben ist eine lange, lange Kette von Träumen, die sich aneinander reihen. Erland: Und der Mund, von dem du sprichst? Gertrud: Ein Traum. Erland: Und der Mund, den du suchst? Gertrud: Auch ein Traum. Dreyers filmsprachlicher Stil und Gertruds Freiheitsbegehren berühren sich in diesen Einstellungen und Gesprächen unmittelbar: in Form einer träumerischen Lösung und Gelöstheit und Loslösung, die es erlaubt selbst mit Fehlern, mit Unvollkommenheiten, mit Widerständen, mit Widersprüchen zu operieren. Genauigkeit und Direktheit, der Sinn für jede Nuance und ein Absolutheitsanspruch sind durchaus vereinbar, wenn sie sich in Form einer träumerischen Gelöstheit manifestieren. Deren Kennzeichen ist es: sie ist niemals abzulösen vom Körper. Der Traum, jede fließende oder träumerische Bewegung und Suche ist inspiriert von einem körperlichen Gestus, offenbart sich darin und mündet in einen anderen, weiteren. Der Traum und die Liebe gehören der Körperwelt so unmittelbar wie notwendig an. Sie lassen sich davon schlechthin nicht lösen, der Traum und die Liebe, sie sind derart nicht romantisch, nicht gnostisch, nicht post-modern zu vernebeln. Sie werden ohne einen Anspruch oder eine Erklärung für Erlösung oder Selbst-Erlösung vorgetragen. Die Liebes-Traum-Sequenz Die Liebestraumsequenz verweist auf die Dominanz der Introspektion, die Dreyer mit seinem Schaffen erforscht, die er betreibt, die er aber zugleich für die Moderne fordert. „Wörter braucht man, die aus dem Innern des Herzens, aus der Seele kommen“ – sagt er in jenem legendären letzten Gespräch mit den Leuten von den Cahiers du Cinéma 1968. Diese Form der Introspektion dient als Instrument einer künstlerischen Sensibilität, die auf klar umrissenen Voraussetzungen ruht. Dreyers geschärftes Sensorium für Introspektion, das er auf Gertruds Liebesverlangen überträgt, zeigt, wie sie die Fähigkeiten entwickelt, um ihren Freiheitswillen zu realisieren. Dieser Freiheitswille steht in unmittelbarer Verbindung mit ihren Gefühlen, Träumen, Gedanken und ihren Worten. Der Mund, der solche Träume und Gefühle und Worte artikuliert, ist der gleiche Mund, der ein Liebesverlangen hat. So direkt wie einfach. Der Psychoanalytiker Nygren schreibt ein Buch über den freien Willen, Gertrud findet Mittel und Wege, um den freien Willen zu leben. Mit dieser Liebes-Traum-Sequenz lässt Dreyer aber insbesondere Gertrud auf ihren eigenen Zerreißungs- und Vernichtungstraum reflektieren und replizieren. Dramaturgisch ist diese Sequenz genau eingelassen zwischen die erstmalige Äußerung dieses Traumes im Liebesduett mit Erland im Park und den späteren Konfrontationsszenen im Salon. D.h. Dreyer verleiht seiner Protagonistin all jene träumerischen Eigenschaften und Fähigkeiten, die es ihr erlauben, sich den kommenden Enttäuschungen und Lügen, den scheinheiligen Rechtfertigungen und Selbstdarstellungen der Männer gewachsen zu zeigen. Aus diesen träumerischen Qualitäten erwachsen Gertrud all jene Fähigkeiten des Verzeihens und der Nachsicht, die sie gegenüber ihrem jugendlichen Liebhaber, aber dann auch gegenüber Kanning und Libman ständig ins Spiel bringen muss. Gertruds Lied „Ich grolle nicht“, das sie unter der Klavierbegleitung von Erland Jansson im Salon singt, führt an das extreme andere Ende ihrer Fähigkeiten zu träumen: sie wird ohnmächtig. Sie, die bereits um die Untreue des Komponisten und um die Enttäuschung ihrer jüngsten Liebe weiß, singt in seiner Begleitung vor der Herrengesellschaft. Im Salon, der bereits einige Male Schauplatz extremer Konfrontationen des Gefühlslebens wurde, bricht Gertrud beim Singen zusammen. – Um allerdings in der anschließenden Szene im Park mit dem Komponisten wieder in großer Deutlichkeit und Entschiedenheit aufzublühen. Gertruds Gefühlsleben, das aus den Qualitäten von Bezauberung und Träumerei gebildet wird, und sich vermittelt durch die Fähigkeiten, Enttäuschungen und Widersprüche auszuhalten, geht in eine neue Verwandlungsformen über. Genau diese Verwandlungs-formen werden von Dreyers filmischer Dramaturgie in Perioden und Stadien entwickelt, in denen Gertruds Qualitäten und Fähigkeiten sich wechselseitig bedingen, um bestimmte Folgen und Konsequenzen des eigenen Handelns ersichtlich zu machen. Im Unterschied zu Nygren, der in seiner männlichen Selbstbestimmtheit über den freien Willen schreibt, ohne zu wissen, was er ist, entwickelt Gertrud diesen freien Willen durch sich, aus einer inneren Vorstellung heraus, die eines vor allen Dingen ist, mit seiner Unbestimmtheit einhergeht. Und daher eines erlaubt, sich von Fall zu Fall zu behaupten und zu reagieren. „Die Liebe ist kein bildliches Gebot“. Blaise Pascal schreibt: „Die Liebe ist kein bildliches Gebot. Behaupten, dass Jesus Christus, der gekommen ist an Stelle der Bilder die Wahrheit zu setzen, gekommen sei nur das Bild der Liebe zu bringen, ihr aber die Wirklichkeit, die sie früher hatte, zu nehmen: das ist schrecklich“. – Mit dieser Vorstellung von Pascal befinde ich mich im Zentrum der filmischen Arbeit von Carl Theodor Dreyer, der im Anschluss an „Gertrud“ einen Jesus-Film realisieren wollte. Ich befinde mich zugleich im Zentrum der Liebesvorstellung des Films. Für Gertruds Liebe gibt es schlechthin kein bildliches Gebot, weil es keinen äußerlich beweisbaren Grund für sie gibt. Der Absolutheitsanspruch ihrer Liebe entwickelt sich aus den Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und Zuneigung, der Hinwendung und Träumerei, aber auch den Fähigkeiten Enttäuschung und Abweisungen zu bewältigen. Gertrud steht für die inspirierte Introspektion beim Erwerb der Fähigkeiten, zu lieben, und der Bewältigung ihrer Enttäuschungen in der Liebe, nicht mehr und nicht weniger. Die bildlose Glaubenswette Pascals, die zutiefst selbst noch in dem postmodernen Kinofieber eines Gilles Deleuze mitschwingt, - sie wird durch Carl Theodor Dreyer (der in vielem ein direkter Schüler von Kierkegaard und Strindberg ist - darauf konnte ich hier nicht eingehen) in moderner Form übertragen auf die Liebe. Carl Theodor Dreyer ist fähig gewesen mit den Mitteln der Bilder und Töne in seinem Film von der Bildlosigkeit der Liebe zu sprechen und zu handeln. Mit „Gertrud“ hat er die Bildlosigkeit der Liebe im Zentrum unserer modernen Erfahrungen verankert. Er behauptet damit einen großen Widerstand und einen vehementen Widerspruch gegen alle jene Konzepte romantischer und mythischer Liebe, von denen selbst ein Walter Benjamin in seinem Essay über Goethes „Wahlverwandtschaften“ alles andere als frei war. Gertrud schließt die Tür – von Innen. Am Ende des Films von Carl Theodor Dreyer schließt Gertrud in Nahaufnahme die Tür zu ihren Erfahrungen der Liebe von Innen. Der Zuschauer steht vor einer verschlossenen Tür. Ein Schemel steht davor, vielleicht hat er das Bedürfnis sich einen Augenblick lang darauf zu setzen und zu warten, könnte man Dreyer augenzwinkernd deuten. Aber die Tür bleibt geschlossen. Axel Nygren hingegen verlor sich eher hilflos als souverän mit Mantel und Hut in der Tiefe des Raums und winkte zum Abschied am Ausgang.. Nygrens Besuch bei der alten Gertrud steckt voller Anspielungen und Zitate, von Munch bis Racine sind die Verweise breit gestreut. Aber Gertrud hält den Analytiker auf einer mittleren, genau bemessenen Distanz, genau auf der Distanz, die es ihr erlaubt, ihren letzten Willen zu bekunden. Sie konfrontiert den Theoretiker des freien Willens mit den Konsequenzen der verwirklichten Freiheit. Sie erzählt ihm von ihrem Grabstein mit der Inschrift „Amor omnia“, von dem Maulbeerbaum, der an ihrem Grab steht und den Anemonen, die dort wachsen werden. Sie verlängert ihren Lebenstraum von der Liebe auf ein Leben nach dem Tod. Sie verweist mit ihren träumerischen Qualitäten auf ein Leben nach dem Tod. Gertrud hat es gelernt, in Übergängen zu leben, zu träumen und sie in Freiheit zu verwandeln. Die Männer um sie herum im Schlussteil bleiben in den ewig-gleichen Abhängigkeiten befangen, d.h. sie sind weiterhin auf der Suche nach Anerkennung und Anlehnung, aber auch nach Unterwerfung. Die Haltung des Hausdieners, den Gertrud etwas bärbeißig und barsch an seine Arbeit erinnert, macht in beinahe übertriebener Form deutlich, dass auch sie es jetzt gelernt hat, die Männer so zu nehmen, wie sie sich selbst wahrnehmen. Einzig Nygrens Wunsch, seine Briefe, die er ihr geschrieben hat, zu verbrennen, lässt für einen ganz kurzen Augenblick lang etwas von einer inneren Freiheit erkennen, die er Gertrud gegenüber gewonnen hat. Allerdings ist auch sie es, die ihm diese Briefe zurückgeben will und ihn bittet damit zu verfahren, wie ihm beliebt. Auch kurz zuvor beim Betreten des Zimmers, als Nygren Gertrud beinahe beleidigt fragte, warum sie seinen letzten Brief nicht beantwortet habe, wird ein Riss spürbar, der schlicht nicht zu überbrücken ist. Im Grunde diktiert Gertrud durch den ganzen Schlussteil hindurch Nygren, dem Theoretiker des freien Willens, ihren letzten Willen, ihr Testament. Nygren ist ihr ein Zeuge, aber was in ihr vor sich geht kann er nicht, kann er niemals nachvollziehen, noch begreifen. Er kann es nur akzeptieren lernen. Nygren bleibt auf sie fixiert, er kann ihr nie wirklich ein Gegenüber sein. Das wird sehr deutlich. In den Bildern und Tönen des Films von Carl Theodor Dreyer wird ein Seelenraum von Freiheit und Liebe erfahrbar, hör- und sichtbar, - der in seiner radikalen Konsequenz auf die Bildlosigkeit von Freiheit und Liebe, auf die Bildlosigkeit von Autonomie und Gnade verweist. Dieser Seelenraum beruht auf einem Vermögen, das niemals in Selbstdetermination und Überhebung aber auch umgekehrt nicht in Selbsterniedrigung und Unterwerfung aufgeht. Man könnte mit dem wunderbaren Wort von Keats sagen, dieser Seelenraum beschreibt ein „negatives Vermögen“, das sich aus Träumen und Schauen, aus Zuhören und Fühlen, aus Aufmerksamkeit und Nachsicht in freier, innerer Konsequenz und Intensität entwickeln lässt. Gertrud verabschiedet sich am Ende aus einer Welt, die sich weigert zu träumen, zu fühlen, zu schauen, zu zuhören, weil diese Welt sich zur Liebe und zum freien Willen der Menschen wie zu etwas Äußerem, Äußerlichem, Erwerbbaren, wie zu Ämtern und Berufen, zu Besitztümern stellt. Sie verabschiedet sich aus einer Welt, in der Männer ohne Eigenschaften das Sagen haben. Aber sie verabschiedet sich auch mit den Träumen eines Lebens nach dem Tod. So gesehen leben wir heute an den Kreuzungspunkten und Schnittstellen genau dieser Erfahrungen, die Carl Theodor Dreyer uns in seinem Film aufzeigt. Nachspann: Bald - bald schon In den nächsten Tagen - schon Werden sie singen Werden wir sie hören können: Die Amseln, Die kleinen Prophetinnen Der Übergänge Der Liebe. (Bardüttingdorf, im Winter 2004). filmkritik, 16. März 2004 um 23:55:24 MEZ ... Link Donnerstag, 11. März 2004
Was Gewaltbilder berühren Voller Emotion und Technik: „Deutschlandfilme“, Klaus Theweleits neues Buch. Von Michael Girke Klaus Theweleit ist, was Kafkas K. war, ein Landvermesser. Er aber erstellt Landkarten des Inneren. In seinem berühmten Buch Männerphantasien ist Faschismus weniger ein ökonomisches oder ideologisches Phänomen, viel mehr tragen psychische und körperliche Dispositionen zu seinem Erfolg bei. Wie man Kinder disziplinierte, drillte, seelisch verkrüppelte im preußischdeutschen Militärstaat; das von Frauenverachtung, Angst vor Frauen und Unterdrückung dominierte Verhältnis der Geschlechter im 19. Jahrhundert - all das lässt den allgewaltigen Verführer Hitler herabsinken zu einem von vielen furchtbaren deutschen Menschen. Theweleits neues Buch, das sind drei Variationen über dasselbe Thema: Wie ausländische Regisseure Deutschland sehen. In Alfred Hitchcocks Torn Curtain reist Paul Newman in die DDR, mimt dort einen Überläufer, um eine geheime wissenschaftliche Formel auszuspionieren. Bekannt ist die Szene, in der Newman und Lotte Lenya einen Ostagenten mittels Spaten und Gasofen endlos lange töten - Hitchcocks Nachweis, dass Menschen nicht so sauber und schnell sterben, wie es das Kino immer hinstellt. Die Kritik schätzt Torn Curtain nicht, er ist verbucht als Alterswerk eines stark nachlassenden Meisters. Weil die Schönheit des Kinos sich heute nur noch abseits der eingetretenen Pfade der offiziellen Filmkritik entdecken lässt, forscht Theweleit selbstständig. Angeregt von Frieda Grafes Wunder von Buch Filmfarben, es enthält eine Würdigung der weithin übersehenen Farbdramaturgie von Hitchcocks DDR-Film, fördert auch er vernachlässigte Eigenschaften von Hitchcocks Blick zutage. Hitchcock sei „im tiefsten germanisch“ schrieb einst Jean Luc Godard, “der deutscheste aller Regisseure jenseits des Atlantik.“ Was heißt das? In den 20ern lernte Hitchcock in Berlin bei der UFA, war dort Art Director und Production Designer. In seiner langen Karriere bediente er sich sofort und virtuos jeder neuen Kinotechnik wie Ton oder Farbe. Er verstand es nicht aus der Mode zu kommen, blieb aber zugleich lebenslang ein Erbe F.W. Murnaus, ein Erbe des Stummfilms. Das Wesentliche in Hitchcockfilmen geschieht jenseits von Spielhandlung und gesprochenen Worten, ist visuell artikuliert. Dekors, Farben, Dinge wie Türen, Telefonhörer, Vorhänge sind bei ihm nie Symbole und dienen nie dem Spektakel; sie sind Handlungsträger, Indizien, geschichtliche Statements. Gasofen und Spaten aus der berühmten Mordszene, in Hitchcocks Perspektive sind das, zeigt Theweleit, spezifisch deutsche Tötungs- und Verdrängungsarten: Deutsche vergraben alles geschichtliche, auch im anderen Deutschland hat das nie aufgehört. „Die größte Anstrengung der frühen BRD muss das Vergessen gewesen sein. Eine Anstrengung, ohne die das Land kaum wieder politische Eigenständigkeit und ein Selbstverständnis hätte gewinnen können. Ohne das Vergessen keine Gegenwart.“ Vergessen als deutsche Heldentat. Als Gründungsmythos. Tapfer und lobenswert, wie die hiesigen Kriegs- und Nachkriegsgenerationen auf jedes Gedächtnis, jedes Mitgefühl, jede Verantwortung verzichteten. Das Zitat ist aus diesem Jahr, aus dem FAZ-Feuilleton (FAZ 15.01.04). Was Hitchcock vor 40 Jahren gesehen hat, das schamlose Prinzip Spaten, die Kälte, die er aus seinen Deutschlandbildern kriechen ließ, es ist bis heute hier spürbar. „Die beiden Dinge, die im 20. Jahrhundert am wenigsten geliebt wurden, waren die Geschichte und die Psychoanalyse. Die allgemeine und die eigene Geschichte.“ Ein Satz von Jean Luc Godard, dem man anhört, dass sich der Regisseur so erklärt, warum so wenige seine Filme schätzen. 1989 ist Godard in der DDR, um fürs französische TV einen Beitrag über die Einsamkeit zu drehen. Als die Mauer fällt, ändert er sein Thema. Er dreht Deutschland Neu(n) Null und nimmt mit seinem Film Fragen wieder auf, die Roberto Rosselinis Deutschland im Jahre Null 1946 stellte: Was passiert, wenn Deutschland von sich behauptet, es ändere und erneuere sich? Godard denkt die Kamera in zwei Richtungen, sie dient nicht nur zur Aufnahme, sie ist auch ein Projektor. Mit ihr projiziert er, was bei ihm im Kopf sich abspielt. Man muss sich das vorstellen: Wo Deutschland sich 1989/90 allen Anschein eines Ortes mit blühender Zukunft gibt, da sieht Godard lauter seltsame Gestalten herumgeistern: Deutschland, das ist das Zusammentreffen des arbeitslosen Spions Lemmy Caution mit Don Quijote. Da fahren Trabbis auf Windmühlen zu. Da braucht nur ein Frauenname zu fallen, schon stellt sich auf unheimliche Weise Geschichte ein: Dora, deren Träume Freud deutete, um auf die Spur der weiblichen Hysterie zu kommen; Dora, die einzige, mit der Kafka eine kurze Zeit glücklich zusammenlebte; Mittelbau Dora, der Tunnel im Harz, in dem zehntausend KZ Häftlinge durch Arbeit am Bau der Nazi-V2-Raketen vernichtet wurden. Hegel, Thomas Mann, Mozart, Benjamin spielen in Deutschland Neu(n) Null natürlich ihre Rollen. Wer das abtut als bildungsbeflissenes oder klassikergläubiges Raunen, der vergisst, dass Klassiker ein Etikett ist, dass ohne diese zu fragen, Menschen angehängt wird, die sich schreibend versuchten abzuarbeiten an Deutschland. Die an dessen Verwunschenheit litten, verrückt wurden, starben. Und dass es sich in sogenannten klassischen Stoffen um Erscheinungen wiederkehrender Probleme handelt: Woran klammern sich Menschen, wovon sind sie enttäuscht, was wünschen und woran zerbrechen sie? Warum misslingt das Leben so oft und so brutal im Laufe der Geschichte? Godards Deutschlandfilm zeigt Geschichte nicht chronologisch, sondern montiert deutsche Motive. Viele werfen ihm Unverständlichkeit vor. In manchen, und das führt Theweleit sehr schön vor, lassen gerade Godard-Montagen vergrabene Erinnerungen, Gedanken, Zusammenhänge wieder auftauchen. Fühlt man sich nach einem Hollywoodfilm leicht und erlöst und wähnt sich auf der sicheren Seite, altert man während eines Godard um mindestens 400 Jahre. Das liegt daran, dass man sich selbst sieht, von außen, als teilnehmend an und verwickelt in Geschichte: Wer waren sie, wer wollen sie sein, diese Deutschen, was ist der Geisteszustand in ihrer Sphäre aus Technik, Romantik, Geld, Erfolgsphantasien und verdrängter Gewaltgeschichte? Warum gelingt die Liebe in diesem Land fast nie? Theweleits Buch ist auch ein Nachdenken über Kinoliebe. Die von ihm verhandelten Regisseure – Hitchcock, Godard, Welles, Pasolini - sind Ausländer, gehören alten oder schon verblichenen Generationen an. Eine Auswahl als Vorwurf: In Deutschland macht man solche Geschichtsbilder nicht. Weil Filmbetrieb, Journalismus und Politik für nichts einen langen Atem haben, mauern sie das Kino in ihrer Tagesmoral ein. Theweleit schreibt nicht über Filme, er schreibt mit ihnen; Bilder und Sätze von Godard und Hitchcock sind strukturierend eingearbeitet in all seine Bücher. Er sieht diese Regisseure immer schon als Arbeiter an einer genaueren Wahrnehmung von Wirklichkeit, als Historiker. Mit anderen Worten: Es gibt keine alten Filme, es gibt Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit bei denen, die sie sehen. Pier Paolo Pasolini verfilmt De Sade. Ein Regisseur, von dem man zu seiner Zeit nur Schlechtes erwartete und ein Autor, dessen Bücher, laut Maurice Blanchot, die Hölle der Bibliotheken sind. Dieser Konstellation, mit Pasolinis Film Salo Oder Die 120 Tage von Sodom realisiert, widmet sich das umfassendste Kapitel in Deutschlandfilme. „Die Zeit existiert nicht; und da die Zeit nicht existiert, gibt es auch nicht einmal die Geschichte; es gibt nur eine ewige absolute Gegenwart, um es wissenschaftlich zu sagen“ (Pasolini, 1972, in einem Interview). Dies einzusehen fällt schwer, schon weil Pasolini heute sehr vergangen wirkt. In ihm aber findet Theweleit, der in Männerphantasien die Motivationen faschistischer Gewalt erforschte, jemanden, der dasselbe mit der Kamera gemacht hat. De Sades Roman ist angelegt als Kompendium sexualisierter Gewalt der gesamten Menschheitsgeschichte, Pasolini erweitert dies in unsere moderne Zeit hinein. Dass die grausamsten und mörderischten unter den Menschen bei De Sade Spitzen der Gesellschaft, Herrscher und Männer sind, behält Pasolini bei. Eine ewige absolute Gegenwart hat das Foltern, Quälen und Morden von Menschen durch andere Menschen. Was sichtbar wird in Salo, beschreibt Theweleit so: „Sie inszenieren Folterungen oder lassen sie vor Augen inszenieren, sie schauen, sie lachen: in einer schematisierten Bewegung fährt ihre Hand zur Hose – oder unter das, was sonst grad ihre Schwänze bedeckt; Denn: Nur Gewalt- oder Todesbilder führen zum angestrebten Abspritzen. Auf rabiate Verdeutlichung dieses Punktes steuert Pasolinis Inszenierung wieder und wieder zu. (...) Ein Herr Mengele aber im Kreis von Kollegen, ein Herr Himmler im Kreis seiner Obersten, die angesichts der Torturen zackig mit der Hand zum Schlitz ihrer Uniformhose fahren (oder unter den weißen Kittel), ihre Schwänze herausholen und sich einen Abwichsen, während vor ihren Augen jemand seinen letzten Tropfen Blut verspritzt, mit einem Foltereisen verbrannt oder in den Arsch gevögelt wird, bis alle Geister aus ihm weichen oder er oder sie Scheiße fressen muss, während ihr, einem 12 jährigen Mädchen, mitgeteilt wird, dass ihre Mutter nicht mehr lebt – diese Sorte fröhlicher Helden-Bagage ist nicht vorgesehen im westlichen Kulturverständnis, ist nicht vorgesehen im Theorierepertoire ‚seriöser’ Wissenschaftlichkeit, ob universitär oder außeruniversitär. Wenn überhaupt vorgesehen, ist die Behandlung dieses Zivilisationskomplexes delegiert an ‚die Kunst’. Insofern bei jemandem wie Pasolini an der richtigen Adresse. Aber vom Künstler eines gewissen Rangs erwartet man auch eine gewisse Schonung in diesem Punkt. Ein Verhältnis zum Gegenstand, das mit Wörtern wie Zurückhaltung und Grenzen des guten Geschmacks umschrieben wird. Genau diese Verbergungsakte wollte Pasolini unter keinen Umständen akzeptieren.“ Offensichtlich provozieren Pasolinis Bilder und Theweleits Worte das Publikum, greifen es an. Fordern auf, nicht automatisiert auf andere, andere Weltgegenden und Zeiten zu verweisen, wenn untersucht wird, was Menschen vom Betrachten der Leiden anderer haben. „Zum erstenmal hat sich die Philosophie ganz offen als Projekt einer Krankheit verstanden“, schrieb Maurice Blanchot über De Sades Werk, „auch hierin liegt eine Stärke Sades. Man kann sagen, dass er seine eigene Analyse durchgeführt hat – schrieb er doch einen Text, in dem er alles verzeichnet, was seine Zwangsvorstellungen angeht.“ Pasolini kauft sich allabendlich Strichjungen. Liebe, befriedigend und dauerhaft, gelingt ihm nicht. Sein Leben ist ein ewiges Wiederholen unbefriedigender Akte. Mit Salo bearbeitet er auch den Gewaltanteil an seiner eigenen Sexualität; er sieht diese aber auch an als typisch italienisch, typisch europäisch, typisch männlich. Film ist für Pasolini eine, wenn nicht die einzige Möglichkeit, nicht verdrängend Wirklichkeit zu sehen. Wer nur etwas von der neuen Zeit versteht, versteht auch davon nichts. Dass Europas Psyche viele schon in Altem Testament und griechischer Mythologie artikulierte Probleme nie bewältigte, will Pasolini erfahrbar machen. Als genau und gültig hebt Theweleit dessen filmische Erkundungen entschieden hervor. Heisst: Der Charakter der (faschistischen) Gewalt ist sexuell; sie bereitet Lust, verschafft Glücksgefühle und Befriedigung. Pasolinis Film, wie Theweleits Buch, haben kein Happy End. Mit ihnen vor Augen hat man einen Zugang zu Triebkräften des Wirklichen, die vorgeführt, nicht geleugnet werden. Das ist sehr viel. Theweleit nennt Salo den einzigen Dokumentarfilm von KZ-Praktiken, den es bis heute gibt. Dies lesend hört man Film- und Medienwissenschaftler aufstöhnen. Weiß doch jedes postmoderne Kind: das so genannte Leben findet niemals direkten Eingang in Filme. Wir haben es immer mit Medien, Interfaces, Fiktionen zu tun. Ja, sagt Theweleit, aber sind fiktiv und realistisch nicht sprachliche Kategorien, mit denen man Filmen etwas andichtet, sie normiert? Regisseure haben zu allen Zeiten darauf hingewiesen: Film ist nicht Sprache! Gilles Deleuze, französischer Theoretiker, verbündet sich mit Pasolini und Godard. Er sagt, ihre Filme kopieren nicht Realität, machen aber durch individuell bestimmte Reorganisation bestimmte Züge der Vergangenheit nichtsprachlich einsichtig. Bilder sind mit Augen, Ohren, Sinnen gedacht. Sprache weckt bloß Phantasien. Rezensieren verführt dazu, sich zum Spezialisten für Dinge zu halten, von denen man nicht viel versteht. Mir scheint aber: (Medien-)Wissenschaftliche Begriffe sind Zauberschilde, die gewisse Menschen schufen, um sich enttäuschende, lastende Realität vom Leib zu halten. Das hat das Leiden an den zerstörerischen Zügen dieser Realität übrigens kein bisschen verringert, vielleicht sogar vergrößert. Klaus Theweleit ist der einzige innerhalb Deutschlands lebende Mensch, der noch weiß, dass Kino politisch ist. Sie kam hier nie gut an, die analytische Kraft der Kinobilder, die bei der Erfassung des Wirklichen weiterreicht, als die Beiträge aus Akademien, Feuilletons und Sendeanstalten. PS: „Weil die Gedanken und Formeln, die sich anbieten, um diese Filme eingängiger zu machen, den Autor 1981 mit in den Tod getrieben haben. Er ist auch das Opfer unserer leichtsinnigen Schreibereien“ (Frieda Grafe über den Regisseur Jean Eustache). Dass niemand glaubt, Filmkritik sei bloß schreiben, bloßes Schweben jenseits wirklicher Gewaltzusammenhängen. [Dieser Text erscheint in einer gekürzten Version auch in der neuen Ausgabe des "Film-Dienst".] filmkritik, 11. März 2004 um 12:55:53 MEZ ... Link Freitag, 27. Februar 2004
Philippe Grandrieux, La vie nouvelle, 2002 Rhetorik ist Umgang mit Form. Wissen um Wirkung. Ein Wissen, das in der Technik steckt, keine Sache des Bewusstseins sein muss. Von der Sprache, von Bildern als rhetorischen zu sprechen, heißt zugleich: nicht die Wahrheit in ihnen zu suchen. Rhetorik ist nicht Grammatik - sondern ihre Überschreitung, Post-Grammatik, die wieder in Grammatik zurückschlagen kann -, aber noch viel weniger lässt sich, rhetorisch, daran glauben, dass die Wahrheit im Vorgrammatischen wohnt. Man kann, rhetorisch, nach neuen Formen suchen, aber nicht glauben, dass das Gefundene ein urtümlich Wahres ist. Es ist neue Form und wird als neue Form neue Wirkungen zeitigen. Die Technik lebt von den Momenten, in denen sie ihre eigene Überschreitung ermöglicht. Der Rahmen aber bleibt Möglichkeit von Form. Die Psychoanalyse hat immer schon sich doppelt lesen lassen. Als Übertragung rhetorischer (und damit: spezifisch sprachlicher) Erkenntnisse in die Lektüre des anderen Orts der Psyche. Verschiebung wie Verdichtung, die Topologien: Techniken an Orten, Formbildungen, wie flüchtig auch immer, jedoch strukturell beschreibbar oder poststrukturell. Die andere Lesart sieht - als "Unbewusstes" - einen ganz anderen Ort eröffnet, Vor-Form, figurlos, vor aller auf Strukturen gebrachten, wiederholbaren Symbolisierung, ja, noch vor dem, was dann bei Lacan das Imaginäre heißen wird als Quasi-Form der Verkennung zur Ganzheit, die eine falsche ist. Das Wahre, das dem Falschen als Negativ korrespondiert, heißt das Reale und entzieht sich als solches jeder - immer schon symbolischen - Beschreibung als Form. Als nicht zu Fassendes ist es lesbar in den Formen als Moment des Entzugs der Repräsentation. Die sich entziehende Repräsentation wäre so nicht neue Form, sondern im Entzug Aufschein eines Wahren, das niemals fassbarer Bestand der Repräsentation werden kann. "La vie nouvelle" versteht sich emphatisch als Arbeit an den realen Grundfesten der Repräsentation. Es geht nicht um die Arbeit an - lesbaren - neuen Formen, sondern um mit den Ökonomien der Sprache nicht verrechenbare Wirkungen, die umso wahrer sind, als sie sich an der Quelle der Formbildung situiert glauben. Diese Wirkungen verstehen die Affekte, die sie erregen, nicht als Effekte einer Technik, sondern als Traumatisierungen der Sinne. Das Phantasma des Realen ist ein Phantasma des Unmittelbaren (der Zerstörung des Mittelbaren, des Mediums). Es ist ein Phantasma des Terrors. Des Aussetzens. Der Betrachter soll, im Aussatz des Realen, Erfahrungen machen, die nicht über, sondern unter seinen Begriff gehen. Der Terror des Realen ist die Erfahrung der Erfahrung nicht als kommensurables Erlebnis, sondern als Einschlag von Bild und Ton mit Gewalt. Ein Kino der Grausamkeit. Aushalten des Unerträglichen, das im Entzug der Repräsentabilien liegt. "La Vie Nouvelle" gewährt, glaubt man ihm, was er von sich glaubt, Zeugenschaft bei dieser gewalttätigen Entstehung der Repräsentation in Bild und Ton. Ich halte das für Metaphysik und erlaube mir rhetorische Fragen. Ich weigere mich, meine Fragen der Anmaßung von "La vie nouvelle" anzumessen. Ich verweigere mich seinem Terror und nehme ihn im Rahmen der Möglichkeit von Formen und ihrer Überschreitung. Ich stelle also Fragen wie: Wie wird der Körper hier Bild? Was heißt hier Körper, was Bild? Wie kommunizieren die Körper, wie findet sich die Kommunikation dargestellt? Was sich dargestellt findet, das eine erste Antwort, ist Erschütterung der Darstellung. Erschüttert ist die Kamera, oder, um es so wenig metaphorisch wie möglich auszudrücken: Sie wackelt. Handkamerabilder. Das Bild ist nicht stabil. Zu beobachten sind Techniken der Auflösung von verlässlicher Repräsentation entlang breiter Skalen: vom Überscharfen zum flackernd Verschwommenen. Von präzisen Großaufnahmen, frontal, zu sich ins Unerkennbare verlierenden Gestalten. Vom definierten Körper zum amorphen Körper - genauer: zum Amorphen, das seine Körperlichkeit verliert. Reduktion, im Verlust von Schärfe, auf Hell-Dunkel-Kontraste. Die Kamera sucht die Nähe, in der sich die Umrisse, die Koordinaten, die Bestimmtheit des Orts verlieren. Unterbestimmt ohnehin: Der Ort, die Zeit. Auch die Figuren: ein Amerikaner, Seymour, mehr nicht. Osteuropa. Ein Haus, ein Nachtclub. Ordnung entlang von Oppositionen: Innen/außen. Mensch/Hund. Dunkelheit/Licht. Sprache fällt aus, fast völlig. Das Verhältnis von Tierischem und Menschlichem wird so zu einem der Angelpunkte, denn hier laufen sowohl thematisch wie formal die entscheidenden Fragen zusammen. Welcher Art etwa sind die unmittelbaren Schnitte in einer Szene vom Hundezwinger, von den Hunden, auf den Mann davor, auf sein gefletschtes Gebiss? Produziert der Schnitt hier eine Gleichung: der Mensch das Tier? Eine Metapher: der Mensch wie ein Tier? Oder rückt er hier die Bilder als ähnliche zum Kontrast zusammen? Die Zeichen, scheint mir, deuten in Richtung einer Bestialisierungsthese: die entblößte Gurgel zum Schluss, hündische Unterwerfungsgeste, der tierische Schrei. Sex, auf Unterwerfung aus, Demütigung (der Frau): die vielleicht entscheidende Form der Vergesellschaftung, als ökonomisch strukturierte, die "La vie nouvelle" zeigt, als Pervertierung ins Entmenschlichte. Nur deutet "Entmenschlichung" auf eine Entwicklung, zu deren Rekonstruktion der Film kaum Anhalt gibt. Unter Menschenhändlern. Der Wunsch Seymours, die Frau zu besitzen, geht gegen diese Ökonomie, aber als Gegenbild - "Liebe" - ist das kaum zu verstehen. Und dann, so vage wie in beinahe jedem Bild zu greifen: der Krieg. Nachkriegsszenerie, Einschusslöcher, verlassene Gegend. Die ersten Bilder: Die Gesichter der Frauen, überscharf. Ein Bild der Trauer wie umgestülpter Angelopoulos: Wo dieser das Pathos in der choreografierten Statik der Massenszene sucht, fokussiert Grandrieux den einzelnen in größter Vereinzeltheit. Bei Angelopoulos: Entleerung ins Große, Stillstellung ins Tableau. Bei Grandrieux: Der gewaltsame Eintrag des Traumas, das Zittern, das Schütteln der Kamera. Gesten nicht der Entleerung, sondern der Aufladung. Wie aber soll die Übertragung der aufgeladenen Bilder auf den Betrachter wirken? Setzt "La vie nouvelle" nicht auf den Übersprung, auf die Untmittelbarkeit mimetischer Wirkung? Mimesis natürlich nicht als Darstellung, als identifikatorische Referenzproduktion, sondern Mimesis als mediale Infektion. Die Gewalt von Bild und Ton schütteln dich. Der Terror im Bild, der Terror im Ton sehnt sich nach dem Terror im Betrachter. Mich aber lässt das kalt. Ich sehe die Technik. Ich sehe das Vibrieren, ich vibriere nicht. Ich empfinde nicht die Intensität der Aufladung, sondern ich sehe die technischen Gesten, die Frenetik des Bildes als hergestellte. Ich will das nicht einmal abwehren. Der Terror geht einfach ins Leere. Eine einzige Einstellung ist es, die mich fasziniert und nicht loslässt. Ein Flur, am Ende ein Fenster, eine langsame, stetige Kamerafahrt, auf das Fenster zu, das Licht, das Bild im Rahmen. Der Rahmen weitet sich, dann verschwindet er. Es bleibt das Bild einer Stadt, Vorstadt, hässliche Plattenbauten, wie unbewohnt. Ein Bild ohne Menschen, ein entleertes Bild. Dieser kurze Moment der Entladung, auf der Tonspur ein finsteres Dröhnen, das aller Hoffnung, die man auf dieses Bild setzen könnte, Hohn spricht. Ein Stillleben im Licht, nature morte. Stadt und Natur, Dunkel und Licht, Menschenleere. Ein Nachbild, ein Still inmitten der Aufladungen, der Intensitätsbehauptungen, die vielleicht in einer langen Szene thermischer Bilder ihren Höhepunkt finden: eine Finsternis ohne Licht. Die Helligkeit ist nur Körperwärme, aber gerade hier, an der Stelle, an der Grandrieux den tiefsten Abbildungsabgrund sucht, drängt sich die Technizität dieser Bilder in den Vordergrund. Es ist das Gemachte daran, das die Intensität zerstreut, in dem Moment, in dem es sie zu erzwingen sucht. Die Kamerafahrt aber, die eine Bewegung des Gleitens hinaus aus dem Rahmen zeigt, zerfällt nicht zur Metapher oder zur Behauptung des Realen: sie bleibt bestehen als komplexe Bewegung zum Still. So opak wie scharf. Figur der Auflösung eines Rahmens. Und als diese Figur: ein Rätsel. Nicht verzweifelte Mimesis, sondern prägnante Form. Der Rest ist Dröhnen. knoerer, 27. Februar 2004 um 11:28:29 MEZ ... Link ... Nächste Seite
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Danièle Huillet – Erinnerungen, Begegnungen
NICHT VERSÖHNT (1965) *** Jean-Marie Straub – Danièle und ich sind uns im November 1954 in Paris begegnet – wir erinnern uns gut daran, weil das der Beginn der algerischen Revolution war. Ich war mehrmals per Autostop nach Paris gekommen, um Filme zu sehen, die es bei uns nicht gab, LOS... by pburg (05.10.07, 11:58)
UMZUG
Nach knapp 2000 Tagen bei antville und blogger machen wir ab jetzt woanders weiter. Unter der neuen Adresse http://www.newfilmkritik.de sind alle Einträge seit November 2001 zu finden. Großer Dank an antville! Großer Dank an Erik Stein für die technische Unterstützung! by filmkritik (08.05.07, 15:10)
Warum ich keine „politischen“ Filme mache.
von Ulrich Köhler Ken Loachs „Family Life“ handelt nicht nur von einer schizophrenen jungen Frau, der Film selbst ist schizophren. Grandios inszeniert zerreißt es den Film zwischen dem naturalistischen Genie seines Regisseurs und dem Diktat eines politisch motivierten Drehbuchs. Viele Szenen sind an psychologischer Tiefe und Vielschichtigkeit kaum zu überbieten – in... by pburg (25.04.07, 11:44)
Nach einem Film von Mikio Naruse
Man kann darauf wetten, dass in einem Text über Mikio Naruse früher oder später der Name Ozu zu lesen ist. Also vollziehe ich dieses Ritual gleich zu Beginn und schreibe, nicht ohne Unbehagen: Ozu. Sicher, beide arbeiteten für dasselbe Studio. Sicher, in den Filmen Naruses kann man Schauspieler wiedersehen, mit denen... by pburg (03.04.07, 22:53)
Februar 07
Anfang Februar, ich war zu einem Spaziergang am späten Nachmittag aufgebrochen, es war kurz nach 5 und es wurde langsam dunkel, und beim Spazierengehen kam mir wieder das Verhalten gegenüber den Filmen in den Sinn. Das Verhalten von den vielen verschiedenen Leuten, das ganz von meinem verschiedene Verhalten und mein... by mbaute (13.03.07, 19:49)
Berlinale 2007 – Nachträgliche Notizen
9.-19. Februar 2007 Auf der Hinfahrt, am Freitag, schneite es, auf der Rückfahrt, am Montag, waren die Straßen frei und nicht übermäßig befahren. Letzteres erscheint mir angemessen, ersteres weit weg. Dazwischen lagen 27 Filme, zwei davon, der deutsche Film Jagdhunde, der armenische Film Stone Time Touch, waren unerträglich, aber sie lagen... by filmkritik (23.02.07, 17:14)
Dezember 06, Januar 07
Im Januar hatte ich einen Burberryschal gefunden an einem Dienstag in der Nacht nach dem Reden mit L, S, V, S nach den drei Filmen im Arthousekino. Zwei Tage danach oder einen Tag danach wusch ich den Schal mit Shampoo in meiner Spüle. Den schwarzen Schal hatte ich gleich mitgewaschen,... by mbaute (07.02.07, 13:09)
All In The Present Must Be Transformed – Wieso eigentlich?
In der Kunst / Kino-Entwicklung, von der hier kürzlich im Zusammenhang mit dem neuen Weerasethakul-Film die Rede war, ist die New Yorker Gladstone Gallery ein Global Player. Sie vertritt neben einer Reihe von Bildenden Künstlern, darunter Rosemarie Trockel, Thomas Hirschhorn, Gregor Schneider, Kai Althoff, auch die Kino-Künstler Bruce Conner, Sharon... by pburg (17.12.06, 10:44)
Straub / Huillet / Pavese (II)
Allegro moderato Text im Presseheft des französischen Verleihs Pierre Grise Distribution – Warum ? Weil : Der Mythos ist nicht etwas Willkürliches, sondern eine Pflanzstätte der Symbole, ihm ist ein eigener Kern an Bedeutungen vorbehalten, der durch nichts anderes wiedergegeben werden könnte. Wenn wir einen Eigennamen, eine Geste, ein mythisches Wunder wiederholen,... by pburg (10.11.06, 14:16)
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