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Samstag, 5. Juli 2003

Der Autodidakt. Über Maurice Pialat


Von Johannes Beringer

Am 10. Januar 2003 ist Maurice Pialat im Alter von 77 Jahren gestorben. – Einer, der durch die Art und Kraft seiner Filme eine Ausnahmestellung besetzte im Kino – ein 'schwieriger Charakter', wie man so sagt. Zehn Spielfilme in etwa 26 Jahren – und davon sechs, die unterbrochen werden mussten –: das zeigt schon, welche Auseinandersetzungen Pialat provozierte, welche Kämpfe er auszufechten hatte, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Das wurde sichtbar selbst dann noch, als er geehrt wurde: bei der Verleihung der 'goldenen Palme' in Cannes (1987 für Sous le soleil de satan) reckte Pialat die Faust in die Höhe und rief dem Teil des Publikums, das ihn auspfiff, zu: "Ihr mögt mich nicht? Ich kann Euch versichern: Ich mag Euch auch nicht!"

Wenn man etwas mehr vom Naturell Pialats verstehen will, ist es gut, die Beilage zur Hand zu nehmen, die das pariser Stadtmagazin 'les Inrockuptibles' zu seinem Andenken herausgegeben hat (No 372, Woche vom 15 - 21 Januar 2003). Darin sind abgedruckt die beiden Interviews, die Pialat der Zeitschrift gewährt hat, eine kommentierte Filmographie, Stellungnahmen von Mitarbeitern und Schauspielern, ein Interview mit Gérard Depardieu und drei Texte der Redaktion selbst: von Serge Kaganski etwa die Besprechung einer Biographie über Pialat und eine Beschreibung der 'Affaire' der ja noch relativ jungen 'Inrockuptibles'-Redakteure mit Pialat. Ende 1992, schreibt Kaganski, nachdem Van Gogh herausgekommen war, hätten sie Maurice Pialat eine schriftliche Anfrage nach einem Interview zukommen lassen, ohne grosse Hoffnung, dass er antworten würde – und zwei Stunden später habe er bei der Zeitschrift angerufen. Das vierstündige Interview am 21. Dezember 1992 sei ausserordentlich intensiv gewesen, voller Anekdoten, Gedankenbewegungen und heftigen Repliken – aber für eine Veröffentlichung dennoch ungenügend. Als sie sich am 23. erneut getroffen hätten, habe Pialat sie abgekanzelt wie schlechte Schüler: sie verhielten sich ihm gegenüber zu respektvoll, seien viel zu brav und höflich. Er habe alles annullieren und sie zum Teufel schicken wollen, aber nach wiederum vier Stunden hätten sie ihn in einem Zustand seltener Exaltation verlassen, mit dem Gefühl, wertvolles Material gesammelt und einen einzigartigen Menschen kennengelernt zu haben. Anschliessend aber habe Pialat ihnen förmlich verboten, das Interview zu publizieren – erst nach Monaten der Anfragen und Bitten, und nachdem Pialat die Transkription gesehen und um ein Drittel gekürzt habe, sei das Interview dann im Dezember 1993 erschienen. Als 1995 Le Garçu herauskam, sagt Kaganski, hätten sie Pialat in seinem Haus in der Nähe von Toulouse besucht und dabei auch seine Lebensgefährtin Sylvie und seinen Sohn Antoine kennengelernt. Ein Interview mit Pialat habe jedoch nie dazu gedient, einen Film zu verkaufen, sondern sei immer ein wirkliches Gespräch und eine wirkliche Begegnung gewesen. Am Samstag vor seinem Tod habe die 'Pialat-Familie' sich nochmal zu einem Essen versammelt, um Abschied zu nehmen – in einer Stimmung, die weder steif noch larmoyant, sondern voller Emotion und Würde gewesen sei: Erinnerungen, Lachen, das Entkorken von Flaschen habe den Raum erfüllt ... "Ein wirklicher Moment von Leben, von laizistischer Kommunion, fast wie die Szene einer Mahlzeit aus einem Pialat-Film."

Ganz anders der Schauspieler Jacques Dutronc: ihn erinnerte die eben beschriebene Szene an den Tod Van Goghs in der ersten Etage der Herberge, während unten 'geschlemmt' wurde. (Was er 'hart' oder gar 'abstossend' findet.) Zu recht bringt Dutronc die 'wütende Arbeitsweise' Pialats mit dessen Vergangenheit als Maler in Verbindung – wie für einen Maler sei für Pialat ein Film nie vollendet gewesen. Was auf eine künstlerische Unterströmung hinweist, von der – im Zeitalter der Vermarktung von allem und jedem – so gut wie nichts mehr gewusst wird: dass es weniger auf das 'Werk', das Produkt, ankommt als auf die 'Übung', die Creatio continua, den nicht abschliessbaren Lebens- und Schöpfungsprozess. (Eine solche 'Umwertung' nimmt auch der Musiker und Komponist Rolf Looser in seinen nachgelassenen Schriften vor; das menschliche Bedürfnis nach abschliessender 'Fertigstellung' von Werken aller Art hat für ihn mit dem dogmatisierten Schöpfungs-Mythos in der Religion zu tun und befördert damit auch den Kunstwerk-Fetischismus. § 15: 'Wie stehen Kunstwerk und Kunstübung (Opus und Exerzitium) zueinander?') Dutronc sagt, er habe sich während der Drehzeit von Van Gogh krank, wie unter Hypnose gefühlt: aber er erinnere sich an Pialats "schrecklichen Charme", sein "unglaubliches Lächeln", ja, an seine Schönheit, die ihm erlaubt habe, sich mit jedermann anzulegen und jeden oder jede zu beleidigen. "Er war besessen vom Augenblick der Wahrheit. Aber das Problem mit den Schauspielern ist, dass sie bezahlt werden, um zu lügen. Was also ist die Wahrheit bei einem Schauspieler? Er suchte anderswo."

Pialat hasste das, was er 'cinoche' nannte – das Kinoritual, die abgehobene Kinogeste, das Drehbuch aus 'Beton', die Konventionen der Schauspielerei und der Dramaturgie. Seine ganze Haltung war darauf aus, mit Film, im Film das 'Leben selbst' festzuhalten – mithin das, was dessen Unwahrscheinliches, Zufälliges, Flüchtiges, Nichtiges, Schönes ausmacht. Am Drehort bestand sein Bemühen, wie aus vielen Zeugnissen hervorgeht, darin, vor den Kopf zu stossen, zu destabilisieren, zu provozieren, um die Darsteller von ihrer Routine abzubringen, sie herauszufordern zu Leistungen, die sie anderswo und anderswie nicht erbracht hätten. Das geschah natürlich nicht nur auf dem Weg der Improvisation, sondern vor allem durch Erarbeitung – durch die Fiktion, die ans Leben rührt, durch Hindurch-Stossen und Wieder-Berühren. Das galt in gewissem Masse sicher schon für die Erarbeitung des Drehbuchs: Cathérine Breillat, die er für Police engagierte und die ganze Nächte auf Polizeikommissariaten verbrachte, forderte er auf, nicht zu erfinden, sondern 'Realitätsblöcke' zu kopieren. Aber der eigentliche Augenblick der Wahrheit war natürlich der auf dem Plateau, am Filmset: dort musste der spontane 'Lebenszugriff', mit welchen Mitteln auch immer, wieder erreicht werden. Vielleicht war Pialats instinktgeleitete, zugleich rüde und sanfte Arbeitsweise mit Schauspielern eine Art 'Reinigung' – nicht wenige der Darsteller und Mitarbeiter, die 'durchgeschüttelt' aus seinen Filmen kamen, blieben dadurch für immer geprägt, verdanken ihm einen Teil ihres Handwerks und ihrer Haltung. (Sandrine Bonnaire, die ihre erste Rolle in A nos amours, 1983, hatte; Gérard Depardieu, der 1980 den Loulou spielte, 1985 in Police, 1987 in Sous le soleil de Satan und 1995 in Le Garçu, Pialats letztem Film, Hauptrollen innehatte.)

Pialat hat seinen ersten langen Spielfilm mit 43 Jahren gemacht: Die nackte Kindheit – L'enfance nue (1968). Davor gibt es, in den 50er Jahren, einige Amateurfilme und in den 60er Jahren nicht wenige professionelle Kurzfilme – Dokumentarisches und Fiktives –, 1970/1 eine siebenteilige Arbeit fürs TV. Pialat, der unter 'kleinen Leuten', im 'milieu populaire', grossgeworden ist (sein Vater betrieb verschiedene Geschäfte, machte Konkurs, war Auslieferer) fühlte sich immer in gewisser Weise ausgeschlossen – bedauerte, dass er kein Abitur gemacht hatte und studieren konnte. Ihm blieb der Weg des Autodidakten – aber in Frankreich, sagt er, gibt es den Terror der Uni: wer nicht durch sie hindurchgegangen sei, werde als ein 'Nichts' betrachtet. Hinzu kam ja, dass er als Jugendlicher die Jahre der Okkupation miterlebte und sie als Schande begriff. Pialat ist vorgeworfen worden, er könne nicht erzählen – Handke etwa hat das getan, in einem Interview mit den 'Cahiers du cinéma' (zu Van Gogh): "Für mich ist Pialat meisterhaft, was die Szenen des Alltagslebens angeht (...), aber sobald es ans Erzählen geht, wird er ziemlich ungeschickt." – Genau in einer solchen Bemerkung drückt sich eine Differenz der Herkunft und des Standorts aus: ob man seine Kondition erzählerisch in einer 'Geschichte' aufheben kann oder nicht. Wenn Pialat das nicht konnte, so vielleicht deswegen, weil er nicht Teil des kulturellen 'Milieus' war und den gesellschaftlichen Konsens strikt verweigerte – seine Herkunft, sein Milieu verteidigte. (Genau darin lag auch sein lebenslanges Ressentiment gegen die Nouvelle Vague begründet.) Weshalb sollte er sich um 'Erzählung' bemühen, wenn es ihm einzig darum ging, mit fast brutaler Aufrichtigkeit von Leuten zu berichten, deren Leben in Momente auseinanderfällt, die ständig auf sich selbst zurückgeworfen sind und an so etwas wie 'Geschichte' nicht oder nur negativ teilhaben? Nur so, indem er diese 'Momente' oder 'Blöcke' für sich bestehen liess und im Film aneinanderfügte, konnte er auch die Brüche – aus dem grossen Steinbruch des Lebens – sichtbar machen.

(Erscheint in: shomingeki Nr. 13/14, Frühjahr/Sommer 2003.)

Das immer noch sehr lesenswerte März 1981-Heft der 'Filmkritik' beschäftigt sich mit Maurice Pialat: Manfred Blank und Harun Farocki haben Pialat am 30. November 1980 in Würzburg interviewt und ausführliche Amerkungen zu seinen Filmen verfasst. Und im März-April 1984-Heft der 'Filmkritik' gibt es eine ausführliche Rezension von Pialats A NOS AMOURS von Jörg Becker ('Das Licht des Nordens'). Siehe auch das 'Dossier: Maurice Pialat' in 'Meteor' No 3, Wien 1996. (Daraus der Text 'Offenes Geheimnis - Zu den Filmen von Maurice Pialat' von Bert Rebhandl.)




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Sonntag, 1. Juni 2003

Röte des Rots


"Il Deserto Rosso", Regie: Michelangelo Antonioni, Italien 1964.

Von Volker Pantenburg

Screen / Canvas. Vom ersten Bild an versuche ich, die Leinwand mitzudenken, auf die der Film eigentlich projiziert werden müsste. Das bedeutet einen zusätzlichen Übersetzungsvorgang, einen Prozess, der den Film "angemessen" sehen will und sich dabei von ihm entfernt. "Die Rote Wüste", Antonioni 1964, eine abgenutzte VHS-Kopie, italienisch mit englischen Untertiteln. Selbst in dem unbeholfenen Bildschirmformat entwickeln die Bilder eine auffällige Dynamik. Farbflächen, abgezirkelte Suchbilder, in denen man Monica Vitti als Giuliana und Richard Harris als Corrado, oft verloren zwischen Rohren, Stahlmasten oder Silos, erst mit einem Augenblick Verzögerung erkennt. Sie gehen von A nach B, aber das B, das sie dort finden, entpuppt sich immer wieder nur als ein weiteres A. Ein Sog entsteht, man will sich in einem Bild umsehen, aber untereinander stoßen die Bilder sich zugleich ab, immer wieder prallt eine neue Komposition hart auf das vorherige Tableau. Selbstbehauptung, Abgetrenntsein. Der Film ist - darin schließt er an Antonionis frühere Filme an - eine Studie über das Thema Bindungslosigkeit; zwischen Menschen und Menschen, zwischen Menschen und Dingen, zwischen 'neuer' und 'alter' Zeit. Auch zwischen den Bildern, die ihrerseits von diesen Bindungslosigkeiten sprechen. Zumindest die Dinge gehen einigermaßen unbeschadet aus diesem Durcheinander hervor.

Innen / Außen. Schon in der unscharf gehaltenen Vorspannsequenz ringen zwei Tonebenen um die Vorherrschaft. Der einsame Gesang, der später in der Geschichte für Valerio wieder aufgegriffen wird, und die von Vittorio Gilmetti komponierten elektronischen Geräusche. Elektronische Musik im Film, das läßt an Louis und Bebe Barrons Score für "Forbidden Planet" denken, den ersten vollelektronischen Soundtrack, 1958. Dort signalisiert das Befremdliche, "Kalte" der Soundeffekte Außerirdisches, hier dagegen geht es um Innerirdisches, um Dissonanzen im eigenen Körper, ein Sich-selbst-fremd-sein, eine Art akustische Rückkopplung, die an die Stelle fehlender sozialer Rückkopplungen tritt. Auch die Fabriken machen solche Geräusche, übertönen oft die Dialoge, so wie ihr Dampf die Bilder zudeckt.

Zukunft in der Gegenwart, 1964.

Insoluble Maths Equation. Die Anordnung innerhalb einzelner Einstellungen hat etwas Mathematisches, es gibt immer wieder neue, im buchstäblichsten Sinne 'malerische' Bilder zu sehen, und trotzdem kann man diese Häufung auch als Subtraktion empfinden. Zumindest in jedem einzelnen Bild werden die unwirtlichen Industriekomplexe, durch die sich die Figuren bewegen, immer wieder heruntergerechnet auf Geometrie, Form, Farbe. Ein Verfahren, das der "Realität" nichts wegnimmt, sondern sie anreichert, umformuliert, immer wieder neu zu fassen versucht.

Aus Forschung und Technik. Antonioni hat nachdrücklich darauf hingewiesen, man solle seinen Film nicht als Zivilisationskritik mißverstehen. Der Fehler, wenn es einen gibt, auch für das psychische Desaster Giulianas, liege bei den Menschen, die sich noch nicht an die neuen Verhältnisse gewöhnt haben. An eine grundsätzliche Technisierung des Lebens, heißt das, an die Zukunft in der Gegenwart - über die Vergangenheit erfahren wir nichts. Zukunft, das hiess vor knapp vierzig Jahren noch: Industrieanlagen und gigantische Teleskope, heute gäbe es da nichts Sichtbares mehr zu filmen, da sich die Zukunft ins Mikroskopische von Genen und Chips verflüchtigt hat; aber schon in Antonionis Film sieht die Welt der Industrie und Technik eher nach Demontage als nach Aufbruch aus; nicht wie Vorstellungen, eher wie Rückstände muten die Gebäude an.

Technik, Color. Für die gelingende Anpassung an die neuen Verhältnisse steht im Film Giulianas vierjähriger Sohn Valerio, der sich selbstverständlicher als alle anderen zwischen Chemiebaukasten und selbständig herumfahrendem Roboter im Kinderzimmer (seiner Welt) zurechtfindet. Für die neuen Verhältnisse kann aber auch der Farbfilm stehen, den Antonioni in "Deserto Rosso" zum ersten Mal benutzte. Denn auch er ist ein Resultat der Industriewelt, die der Film als moderne Wüste mit Faszination und Distanz schildert, und die Manipulationen, die Antonioni und sein Kameramann Carlo di Palma mit Filtern und über gezielte Unschärfen vornehmen, sind technische Verfahren, die den industriellen Komplexen entstammen, die sie abbilden. Der Konflikt zwischen neuer und alter Zeit, zwischen "Natur" und "Technik" wird hier im Gegensatz von Eastmancolor und Technicolor ausgetragen. Natürlich ist das eine Verfahren so technisch wie das andere, aber nach dem lauten Technicolor der Frachtschiffe und Industrieanlagen wirken - in der utopischen Geschichte, die Giuliana ihrem Sohn als Einschlafgeschichte erzählt - das Meer, der Strand, das Segelschiff so archaisch und beruhigend wie die Motive und die singende Stimme, die sie begleitet. Mir kommt es vor, als gebe es eine so deutliche Abstufung von Zuständen über unterschiedliche Farbverfahren selten in Filmen. Immer muß gleich körniges Schwarz-Weiss gegen das Bunte gestellt werden, um überdeutlich auf Zeit- oder Realtitätssprünge innerhalb einer Erzählung hinzuweisen.

Augen, Blicke. Als der Sohn eine Lähmung seiner Beine vortäuscht - oder sie tatsächlich empfindet - und Giuliana ihm vergeblich zu helfen versucht, sieht man auf der Fensterbank seines Zimmers ein merkwürdiges Spielzeug: ein großes, nacktes Plastikauge, auf einen weissen, geschwungenen Sockel montiert. Auch der Roboter, der nachts von selbst immer wieder aufs Neue gegen die Wand fährt, scheint hauptsächlich aus zwei leuchtenden Augen zu bestehen. (Künstliches) Sehen und (künstliches) Leben, das wird hier ganz im Sinne einer langen Tradition miteinander kurzgeschlossen, die in den Augen ein Fenster zur lebendigen Seele erblicken will. Für Giuliana ist beides im gleichen Masse fragwürdig geworden. "I feel as if my eyes are wet", sagt sie an einer Stelle zu Corrado, "but what do people expect me to do with my eyes? What should I look at?" Und er antwortet: "You say: what should I look at. I say: How should I live. It's the same thing." Zumindest in der Fragwürdigkeit versucht er, eine Gemeinsamkeit herzustellen und sieht nicht, daß es gerade die Gemeinsamkeit sein könnte, die ihr fragwürdig geworden ist.

La Caméra pinceau. Antonioni hat, um die gegenseitige Bedingtheit von Guilianas Psyche und der wahrgenommenen Welt ins Bild zu setzen, damals eine ganze Straße grau-grün anmalen lassen, und die Fabriken hat er in ihrer Funktionslosigkeit fotografieren lassen, als wären es Kunstwerke. Unklar, was hier hergestellt wird außer Rauch und gelb-giftigen Dämpfen; es wirkt tatsächlich, als seien es in erster Linie Produktionsstätten für Farben und Bilder. Man liest auch immer wieder, daß in diesem Film der Farbe ebenso viel Gewicht verliehen werde wie den Charakteren und ihren Dialogen oder dem Schnitt. Das läßt sich leicht behaupten; bei wenigen anderen Filmen habe ich allerdings tatsächlich das Gefühl gehabt, daß sich die Bereiche gegenseitig so entschieden in Schach halten und jedes für sich im gleichen Maße Aufmerksamkeit beansprucht. "In 'Die rote Wüste' hatte ich den Eindruck, daß die Farben nicht vor der Kamera, sondern in der Kamera seien [...]. Man hat wirklich das Gefühl, daß es die Kamera ist, die 'Die rote Wüste' hergestellt hat", hat Godard 1967 in einem langen Gespräch mit den Cahiers du Cinéma gesagt und den Film dadurch in seiner Farbdramaturgie von Le mépris abgegrenzt. Eine Selbstverständlichkeit, die man - gerade deshalb - leicht vergisst: die Kamera stellt die Farben her, sie malt, wo sie vorgibt, aufzunehmen. Der physikalischen Wirklichkeit wird damit nicht eine zweite Wirklichkeit entgegengesetzt; vielmehr werden die Kamera und Giuliana in ein Verhältnis zueinander gebracht. Als Farb-, Licht- und Klangsensoren, deren Wahrnehmung nicht stabil, sondern veränderlich ist. "Innenfarben", "Affektfarben" hat Frieda Grafe das genannt. Affektfarben, so liesse sich anschliessen, in doppeltem Sinn: Farben, die als Affekt (Giulianas) verstanden werden wollen, die aber zugleich ihrerseits (den Zuschauer) affizieren.

Blicke nach draußen... aneinander vorbei... Verlegenheiten, Überspielungen. Nicht im Bild: Giuliana.

Temperaturen. In einer Szene albern Giuliana, ihr Mann Ugo, Corrado, ein befreundetes Pärchen und eine weitere Frau in einer heruntergekommenen Anglerhütte herum; es geht um die sexuell stimulierende Wirkung von Wachteleiern, um Lust und Arbeit. Dahergesagte Worte nehmen den Platz ein, den Gesten füllen könnten. Die Schlafkoje, ein enger Holzverschlag im Raum, in dem sich die fünf tummeln, ist innen knallrot gestrichen; als es kalt wird und das Brennholz ausgegangen ist, beginnen sie, die Koje abzureissen und im Ofen zu verfeuern: Wärme ist nur um den Preis der Zerstörung möglich, um den Raum zu beheizen, demontiert man ihn vollständig. Wenn ich die gellend roten Wände sehe, kommt es mir vor, als müsse dieser Film Pate gestanden haben für Bitomskys Buchtitel "Die Röte des Rots von Technicolor". Ein Signalrot, daß dem Zuschauer seine Ambivalenz ins Auge schleudert: Es alarmiert, aber es könnte ebensogut als Orientierung im Nebel und Rauch dienen, durch den Giuliana in anderen Szenen wankt. Zwischen Grau und Grell taumelt auch der Film ästhetisch hin und her, die Farben vermischen sich wie Stimmen im Kopf.

Babel. Ein Film, der so gemacht ist, als würden permanent verschiedene Sprachen durcheinandergesprochen, wie es in der Episode mit dem türkischen Seemann am Ende dann tatsächlich auch ist. Sie fragt, ob das Schiff auch Personen mitnehme, er versteht kein Wort, redet seinerseits auf Türkisch. Und genau in dieser Situation öffnet sich Giuliana stärker als im ganzen Film zuvor. Weil sie weiss, daß sie nicht verstanden wird. "Ich muß daran denken, daß alles, was mir begegnet, mein Leben ist." Resignation, Trost. Das eine im anderen. Sich selbst als Ort von Übersetzungen begreifen.


Ein weiterer Text - von Wolfgang Schmidt - zu "Die rote Wüste" findet sich hier.




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Freitag, 16. Mai 2003

Anderes Sehen


6 filmische Momente bei den 49. Kurzfilmtagen von Oberhausen.

Von Michael Girke

1 Die ersten je entstandenen Filmbilder, um 1895 gedreht von den Brüdern Lumiere, zeigen die Einfahrt eines Zuges in einen Bahnhof. Arnaud Debrèes am ersten Oberhausener Festivaltag laufender Film "L‘ enfant de la Ciotat" führt zum Anfang des Kinos zurück. Der kleine Sohn eines Bahnhofsvorstehers filmt mit seiner primitiven Kamera vorbeifahrende Züge und Gespräche, die er mit seiner verblichenen Mutter führt. Er dokumentiert die Welt, die er mit ihr nach ihrem Tod bewohnt. Der Vater vertritt das Realitätsprinzip, die Ökonomie, das Gesetz; er möchte dem Sohn das Filmen ausreden, weil der sich darin zu verlieren droht. "Der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit" schrieb Sigmund Freud. "L‘enfant de la Ciotat" ist Kurzfilm als Filmkritik. Debrèe wirft den Lumieres und den gängigen Dokumentarfilmen vor, dass ihr Realismus keiner ist, weil er nicht Unsichtbares, Vorstellungen, Träume als Bestandteile der Wirklichkeit zeigt. Und so ist Debrèes Realismus anders als der übliche: Die Realität erscheint schwarzweiß, das Fiktive farbig.

2 Luis Bunuels Name ist für alle Zeiten verbunden mit dem schockierenden Schnitt in ein Auge in "Der andalusische Hund". Die Filmgeschichte verbucht ihn als den Regisseur der Surrealisten, als Klassiker des Kinos. Bunuels Selbstbeschreibung fällt weniger pathetisch aus. Was die Surrealisten antrieb in seinen Worten: "Wir gingen in die Bistros, in denen die Flaschen alle nebeneinander in einer Reihe stehen, und fingen bei der ersten an und hörten weit hinter 20 auf." Ins Kino geht er, "weil man dort ungesehen seine Begleiterin befummeln kann." Hochgestochenes verachtet er, er mag nur Lachfilme, Buster Keaton und die Marx Brothers. Was passiert, wenn so einer einen Dokumentarfilm macht? In Oberhausen lief "Las Hurdes", Bunuels 1932 gedrehter Film über die gleichnamige spanische Provinz. Was im Andalusischen Hund der Schnitt ins Auge ist, ist in "Las Hurdes" Hunger, Elend, Grausamkeit, Hoffnungslosigkeit der Hurdes-Bewohner, sowie die Allgegenwart von Krankheit und Tod: etwas, dass es gibt und das selbstverständlich gezeigt wird. Nach Fertigstellung wird "Las Hurdes" von spanischen Linken, Republikanern und Faschisten als amoralisch verboten. Das Schicksal dieses Films bringt es an den Tag: Es scheint einen allgemeinen Konsens zu geben, im Kino einen Blick nicht zuzulassen, der genau ist und ohne jede Symbolik auskommt. Moral, Pädagogik, Religion, Faschismus, Kommunismus, Liberalismus; aus Sicht des Kinos sind das nur andere Namen für Zensur.

3 Man sollte im Kino seinen Einfällen misstrauen, belässt man es bei ihnen, verurteilt man Filme zur Bebilderung der eigenen Oberflächlichkeit. "Ressonancia" von Lara Arellano beginnt mit Kamerafahrten durch Großstadtschluchten. Sequenzen, wie man sie aus diversen 90er-Techno-Videos kennt. Sie suggerieren ein modernes, schnelles Lebensgefühl. Ein genauer Blick aber ergibt: in "Ressonancia" dienen die Bilder nicht, wie so oft, illustrativen Zwecken und die Musik dient nicht der Untermalung, sie hat autonome Funktion. Arellano porträtiert die Stadt Buenos Aires, aber sie will nicht lokale Bedingungen objektiv zeigen. Denn Objektivität ist ein Phantombegriff, ein Erzählschema. Hält man sich daran, entsteht noch ein touristischer Werbefilm oder noch eine ethnologisch politische Reportage. Das Zeug also, mit dem TV-Sender Realität konfektionieren bis zur Unkenntlichkeit. Arellanos Film hat man hat nicht gesehen, wenn man den Bildern nicht lauscht und die Tonspur nicht sieht. Geräusche und Klänge von Motoren, Bäumen, Instrumenten, Stimmen, Flüssen, Bahnen sind die Hauptdarsteller. Man muß Buenos Aires mit den Ohren sehen. Bilder von Berlin, London, Tokio müßten sich ganz anders anhören.

4 Scheiß Oberhausen-Ideologie. So beschimpften Klaus Lemke, Rudolf Thome und Max Ziehlmann in den 60ern das Festival. Als der neue deutsche Film das verlogene Weltfluchtkino der Eltern aus den Lichtspielhäusern fegen wollte, entlarvten Lemke und Co. das junge Kino als seinerseits verkniffen und ideologisch. Gefragt, was sie damals verband, antworten die Drei: Wir waren naiv, wir wollten leben, wie wir es in den Filmen von Godard, Hawks, Hitchcock gesehen hatten. Den drei Regisseuren, "Münchener Gruppe" genannt, war in Oberhausen eine Hommage gewidmet. Ihre Filme sind gebaut, wie die Liebe, die sie zeigen. In Ziehlmanns "Frühstück in Rom" wird eine Heirat sorgfältig geplant. Wie bei guten Bürgern. Als es soweit ist, legt man sich lieber nicht fest und macht mit dem weiter, was alle Filme der Drei in losen Szenen aneinander reihen: Musik hören, Pot rauchen, flirten, saufen, endlos übers Kino reden. Diese Filme belegen: Wenn man amateurhaft Vorbilder kopiert, entsteht etwas ganz Eigenes. Das politische Autorenkino von Kluge und Straub-Huillet wurzelt ebenfalls im München der 60er. Dass beide Richtungen sich feindlich gegenüber stehen, ist dem Narzissmus der Macher geschuldet und Coolnessmodellen, denen hiesige Filmfreunde kritiklos anhängen. Im Grunde zeigen Lemkes Hallodri-Filme und das radikal ernste Straub-Kino dasselbe: Wie schön Menschen in dem Augenblick werden, in dem sie sich ökonomischem Zwang widersetzen.

5 Laut Tobias Wendl, der in Oberhausen ein Referat hielt, feiern Filme aus Ghana und Nigeria große Erfolge in Afrika. Er zeigte einige Beispiele. Hier eine Inhaltsangabe: Ein Tier verwandelt sich in einen Mann, der umgehend eine Frau erwürgt, um dann selbst geschlachtet zu werden. Seine Hand lebt abgetrennt weiter und überzieht die Welt mit blutigen Exzessen. Einige im Publikum kicherten angesichts des Gezeigten. Ihr hämisches Grinsen entspringt der Kultur des Westens, die das Geld und die Technologie hat, das Hirnrissige ihrer Kino- und TV-Filme glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die ghanaisch-nigerianischen Filme sind Horrorvideos, billig und schnell produziert. Über ihre Inhalte gibt es mehr Vermutungen als Gewissheiten, aber sie sind keineswegs gedankenlos oder trivial. Sie machen Relationen und Spannungen zwischen Kulturen sichtbar. Sie sind vollgestopft mit afrikanischen, christlichen, islamischen Motiven, mit Aberglauben und Ängsten, mit Emotionen, die ihre Macher beim Sehen von Hollywood-Horror und indischen Melodramen hatten. Filme aus Fertigteilen, aus kulturellen Stereotypen. Filme wie Hiebe in die Gesichter derjenigen, die Afrika nur als "authentische", lebenslustige Folklore oder als Gegenstand ihres Mitleids respektieren können. Von Afrikanern für ein afrikanisches Massenpublikum produziert, belegen diese Filme ein offenes Kinogeheimnis: Billige, grausame B-Filme, in denen all das gesammelt ist, was die offizielle Kultur verdrängt, sind mitunter wirkliches Emanzipationskino.

6 Jeder Gast ein Ereignis. Zum Festivalbeginn diskutierte Prominenz die Verantwortung von Kultur in Kriegszeiten. "Miteinander Reden", "Neugier", "Skepsis", das waren die Antworten der Runde, als Moderator Gerd Scobel zum guten Schluß fragte, durch was sie kommende Kriege zu verhindern gedenke. Wenn Kulturarbeiter ihre reale Ohnmacht nicht eingestehen mögen, wenn der Hang zu harmonischen, verbindenden Momenten mit ihnen durchgeht, wird ihre Sprache regelmäßig blöd. "Miteinander Reden", "Neugier", "Skepsis", wären das Filmtitel, wer wollte so etwas sehen? Dieser Abend, sein Pathos, wurde zurecht viel gescholten; er war aber auch gerechtfertigt. Weil Medien festgefügte Vorstellungen von A- und B-Ereignissen haben, rufen Kurzfilme allein nie solche Echos hervor. So gab die Berichterstattung dem Festivalleiter in der Ablehnung noch recht. Die "kleinen" Oberhausen-Filme aber widersetzen sich. Unseren Worten und Thesen zum Film, sowie der Ereignisproduktion von Kulturbetrieb und Presse. Sie, das habe ich zu zeigen versucht, sehen die Welt genauer, als diese es gewohnt ist.




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