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Samstag, 3. Mai 2003
Einige frühe Filme von Yasujiro Ozu Von Johannes Beringer Dekigokoro (Flüchtige Versuchung), ein Stummfilm von 1933, der im Arbeiter- oder Taglöhnermilieu spielt, könnte man auch einen Film über die 'Einfalt' nennen ... Denn dieser Vater (Kihachi) ist ein rechter 'Simpel', sein kleiner Sohn (Tomio) ist intelligenter als er, weil er lesen und schreiben kann. – Was bei den Texten im Kinemathek-Heft über Ozu (Nr. 94, Febr. 2003) nicht richtig rüberkommt, ist dieses Naturell Kihachis, wie Ozu ihn sieht und 'hinstellt'. (Ein Ungenügen wahrscheinlich auch der englisch untertitelten Zwischentitel.) Denn Ozu denunziert diese Figur, der er komödiantische Züge verleiht, in keiner Sekunde – im Gegenteil, er sieht Kihachi als wahren Menschen. (Mir fällt dazu dieser Paul Valéry-Satz – einer meiner liebsten – ein: "Le secret d'un homme d'esprit est moins secret que le secret d'un sot." / "Das Geheimnis eines Mannes von Geist ist weniger geheimnisvoll als das Geheimnis eines Dummkopfs.") Dazu zwei bezeichnende Szenen: Der Junge kommt von der Schule zurück, wo er wegen seines Vaters gehänselt worden ist, und beginnt vor Zorn die Blätter von dem Bonsai, der zuhause in einem Topf steht, abzureissen. Als der Vater nach Hause kommt, sieht er den völlig entblätterten Bonsai, wird wütend, stellt den Jungen zur Rede und, als der nicht antwortet, teilt er Schläge aus ... Die Situation droht zu eskalieren, denn der Junge beginnt sich zu wehren und schlägt zurück – bis der Vater innehält und, sitzend, die Schläge des Jungen über sich ergehen lässt: er hat plötzlich begriffen, dass er der Anlass dafür ist, dass Tomio von den Kindern gehänselt worden ist. Später gibt es dann ein Gespräch zwischen ihm und dem Jungen, wo er – nachdem er ihn erst bei seiner Schularbeit gestört hat – sich für seine 'Dummheit' entschuldigt und der Junge sich ihm aufheulend an die Brust wirft. Zweite Szene: Kihachi hat Tomio einen Batzen Geld gegeben, damit der sich mal was leisten könne ... (aus eben diesem Schuldbewusstsein heraus, als Vater zu versagen). Dann wird Kihachi an der Arbeitsstelle benachrichtigt, er solle sofort nach Haus kommen, es sei was mit seinem Jungen – und der liegt in der Tat krank darnieder, er hat, wie sich herausstellt, zuviel Süssigkeiten in sich hineingestopft. Aber der Junge erholt sich nicht, sein Zustand wird im Gegenteil schlimmer – es muss ein Doktor gerufen werden und der kostet Geld. Jiro, der Arbeitskollege von Kihachi, und die junge Harue, in die er sich verliebt hat, sind anwesend. Als Harue sieht, wie Kihachi zu seinem kranken Jungen spricht – er könne doch nicht vor ihm sterben, zuerst sei er dran – wirft sie sich zu Boden, wird von Weinkrämpfen geschüttelt. Sie wird von ihren Gefühlen 'übermannt', weil sie Kihachis wirkliches Naturell erkannt hat – hinter seiner äusserlichen Robustheit, seinen manchmal etwas rauhen Sitten, gibt es bei ihm noch immer dieses 'Schlichte' und 'Herzensgute'. Ein 'dummes So-sein' gegen alle Widerstände, in gewissem Masse unverwüstlich ... Und eben zusätzlich rührend dadurch, dass Kihachis Einfalt wie ein Fremdkörper wirkt in der industrialisierten Welt. (Etwa so anzuschauen oder in der Welt stehend, wie 'naive' oder 'zurückgebliebene' Völker in der Welt stehen.) Sein äusseres Merkmal ist im übrigen, dass er sich immer dieses nasse Tüchlein auf den Kopf legt – das ist sein dürftiger Schutz vor der Welt. Einmal nimmt er sogar das Tuch von der Stirn des kranken Jungen und legt es sich selbst auf den Kopf, und am Ende, als er vom Boot springt, das ihn nach Hokkaido bringen soll, taucht er aus dem Flusswasser auf, winkt zurück und wringt als erstes das Kopftüchlein aus, um es an die gewohnte Stelle zu legen. Über dieser Einstellung – Kihachis Kopf mitten im Fluss – dann das Wort 'Ende'. Diese Figur, Kihachi (immer gespielt von Takeshi Sakamoto), taucht auch in drei weiteren Stummfilmen auf (Ukikusa Monogatari, 1934, Hakoiri Musume, 1935, Tokyo No Yado, 1935) – aber man kann gerade nicht sagen, dass sie von Ozu typisiert worden wäre. Im Gegenteil: die erzählerische 'Versuchsanordnung' ändert sich (während es allerdings eine 'Resonanz' von ähnlichen Motiven gibt), dieselben Schauspieler haben es mit neuen Rollen in einer andern Umgebung zu tun. (Was sich jedoch bei Hakoiri Musume nicht verifizieren lässt, da Negativ und Kopien anscheinend verloren sind.) In Ukikusa Monogatari ist Kihachi der Leiter einer reisenden Theatergruppe (von Ozu erneut verfilmt 1959) und in Tokyo No Yado (Eine Herberge in Tokio) ist zwar die Handlung wieder in der untersten Gesellschaftsschicht angesiedelt – aber der Taglöhner Kihachi ist hier keineswegs derselbe wie in Dekigokoro. Man könnte also sagen: Ozu hat der Versuchung widerstanden, die Komik des zuerst geschaffenen Typs marktgängig zu machen – statt zu 'typisieren' und die Figur auszuschlachten, hält er an seinem Realismuskonzept fest. Tokyo No Yado erinnert vom Atmosphärischen her an Chaplins Hundeleben; Kihachi zieht hier, verelendet, mit seinen beiden kleinen Söhnen auf Arbeitssuche durch die Gegend – das heisst, durch die Randzonen von Tokio, Industriegebiete mit öden, staubigen Flächen, Silos und Fabriken. Dieser Kihachi ist kein 'Simpel' mehr, sondern ein einfacher Arbeiter, der sich und seine zwei Kinder durchbringen muss. Ein bisschen Geld lässt sich nur auftreiben durch das Einfangen von streunenden Hunden. (Nicht mal die Hunde haben hier also ein Leben.) Weil dieses Geld kaum für den Tag reicht, lässt der Vater abstimmen (jedem Kind eine Stimme!), ob sie sich lieber Unterkunft oder Essen leisten wollen. Am Ende landet Kihachi im Gefängnis, weil er für die junge Frau mit Kind, die sie unterwegs getroffen haben, einen Diebstahl begeht – nicht mitansehen kann, wie sie sich prostituiert, um die Krankenhauskosten für ihr krankes Kind zu bezahlen. Vorher, im Regen, haben sie Glück gehabt: Kihachi trifft zufällig Otsune (Choko Iida), die die drei beherbergt und sich um die Kinder kümmert, wenn der Vater zur Arbeit geht. (Die Schauspielerin Choko Iida ist eine der Konstanten in Ozu-Filmen: fast vom Beginn seiner Karriere bis zum Ende ist sie immer wieder in kleineren und grösseren Rollen zu sehen – sie ist die 'Normalhässliche', die zusehen muss, wie die Männer sich jungen Dingern zuwenden, während sie leer ausgeht; dafür ist sie dann – als 'guter Geist' oder 'gute Nachbarin' – immer da, wenn es nottut. In Ozus erstem Tonfilm, dem wunderbaren Hitori musuko / Der einzige Sohn von 1936, spielt sie die Hauptrolle der Mutter und in Nagaya shinshi-roku / Erzählungen eines Nachbarn von 1947 die der Witwe Otane, die einen heimatlosen Jungen bei sich aufnimmt und nach anfänglichen Widerständen ihre Gefühle für das Kind entdeckt.) In Hitori Musuko (Der einzige Sohn, 1936) scheint der Realismus durch den Ton nochmal eine neue Dimension oder Wirklichkeitsebene zu bekommen. Der Lärm der Spinnmaschinen im grossen Fabriksaal in Shinshi, das Tag und Nacht anhaltende, maschinelle Geräusch in den Aussenbezirken von Tokio (das auch in den Schlaf dringt) erzeugen durch das Repetitive und Unaufhaltsame darin jene Art von Trost- und Ausweglosigkeit, wie sie wohl für das Leben der Arbeiter bestimmend ist. Ein realistischer Film also über Illusion und Desillusion einer Arbeiterfrau. Das Opfer, das sie für ihren Sohn bringt, damit der studieren und ein 'grosser Mann' werden kann, hat sich nicht gelohnt: als sie ihn endlich in Tokio besucht, muss sie erkennen, in welch ärmlichen Verhältnissen er lebt. (Wie auch sein Lehrer, der schon früher nach Tokio gegangen ist.) Zurück in Shinshi, sieht man, dass sie in der Spinnerei nur noch Putzarbeiten macht: als sie sich eine Pause nimmt und sich draussen allein in die Sonne setzt, die Fabrikwand im Rücken, zeigt Ozu als letztes Bild das verriegelte Fabriktor. (Ausführlicher zu diesem Film: Rüdiger Tomczak in 'shomingeki' Nr. 3, Winter 1996.) Interessante Konstellation in Shukujo wa nani o wasuretaka (Was hat die Dame vergessen?, Japan 1937): die gestrenge Ehefrau des Uni-Professors, die auf Einhaltung der 'Formel' ihres gehobenen Lebensstandards hält, erhält bei Ozu auch ihre Chance. Sie muss nicht in der Maske dieser Figur quasi erstarren, sondern darf wieder runterkommen von ihrem hohen Ross und Frau sein. Schon in diesem Film gibt es eine von Ozus rebellierenden, modernen Setsukos: nämlich die Nichte von Komiya (dem Uni-Professor), die in Tokio zu Besuch ist und durch ihren Eigensinn und ihr burschikoses Wesen ständig Anstoss erregt bei Tokiko, der Gattin des Professors. Dieser ist ein 'schwacher Mensch', der statt zum Golf-Wochenende lieber zu den Geishas und ins Variété geht – was Setsuko herausfindet und unterstützt, wobei sie die 'Trinkfeste' mimt. Als der Schwindel auffliegt und Tokiko die beiden zur Rede stellt, kommt es, nachdem die beiden anfänglich beharrlich geschwiegen haben, zu der Situation, dass Komiya die Hand 'ausrutscht' und Tokiko eine Ohrfeige abbekommt. Danach die entscheidende Szene: erst setzt sich Setsuko zu Tokiko und entschuldigt sich bei ihr, dann kommt hinter dem Vorhang auch noch Komiya hervor, um zu sagen, dass ihm die Ohrfeige leid tue, sie solle ihm vergeben. Währenddessen sieht man förmlich, wie Tokiko wieder 'aufblüht' und sich als Frau und Mensch ernstgenommen fühlt. (Der Film endet dann mit dem Lichterlöschen im Haus, bis hinten nur noch ein helles Rechteck zu sehen ist, in dem sich Intimes tut – Vorbereitungen anscheinend zu einer Nacht ehelicher Freuden.) Wie ist es denn nun aber mit dem Herrschaftsprinzip in der Ehe? Setsuko findet, Komiya habe als Mann durchaus das Recht, sich durchzusetzen und sich 'männlich' zu verhalten – der aber sagt ihr, er halte die Zügel gerade dadurch in der Hand, dass er nachgebe und seine Frau opponieren lasse. Das leuchtet Setsuko ein (so habe sie das noch nie gesehen, sagt sie) – und wendet das Prinzip dann gleich scherzhaft bei Okada, ihrem neuen Freund (dem Assistenten des Professors), als 'Opposition gegen die Opposition' an. Dieser Professor Komiya, wie Ozu ihn hier in den Mittelpunkt stellt, verhält sich im übrigen ziemlich 'effeminiert': er streicht sich öfter mal gedankenverloren durchs Haar, sinnt vor sich hin und scheint ein bisschen entscheidungsschwach. Fast könnte man denken, er entziehe sich – und das in einer Zeit, in der militärisches Denken Staat und Gesellschaft bereits ganz erfasst hatte, Japan auf dem Festland Krieg führte. Todake no kyodai (Die Geschwister der Familie Toda, Japan 1941). Der 'feine' Bezug zur Zeit drückt sich hier darin aus, dass Mutter und Tochter nach dem Tod des Familienoberhaupts schlecht behandelt werden. Weil das Haus der Todas nicht mehr zu halten ist, müssen sie bei verheirateten Familienmitgliedern unterkommen – und das stellt sich jedesmal als schwierig bis unmöglich heraus. Als Shojiro (Shin Saburi), der unverheiratate zweite Sohn, aus China zum ersten Todestag des Vaters zurückkommt, stellt er die Versammelten zur Rede und hält ihnen ihr Verhalten Mutter und Schwester gegenüber vor. Ein Paar nach dem andern erhebt sich und verlässt brüskiert den Raum, nur ein Ehepaar bedauert sein Verhalten nachträglich. Der Glanz, den Shojiro durch dieses unübliche und couragierte Verhalten um sein Haupt versammelt, wird von Ozu jedoch am Ende auf humorvolle Weise relativiert: als seine Schwester ihm eine gute Partie vorschlägt (am Anfang des Films hat er ihr geraten, auf 'wohlgemeinte' Heiratsvorschläge nicht einzugehen) und die Gemeinte, eine Freundin, in der nächsten Einstellung auch schon im Garten der alten Villa am Meer steht, ergreift Shojiro erschreckt die Flucht. Das letzte Bild zeigt ihn dann laufend und zurückschauend, ob er nicht verfolgt werde, am Strand des bewegten Meeres – eines dieser schönen und leichten Ozu-Enden, die eher öffnen als schliessen. In Chichi ariki (Es war einmal ein Vater / Er war mein Vater, Japan 1942) spielt Chishu Ryu seine erste tragende Rolle bei Ozu: und kaum je habe ich im Kino einen Schauspieler gesehen, der auf eine so real erscheinende Weise altert (die Lebensspanne geht von einem noch relativ jungen Mann bis zum Tod: sein Sohn besucht am Anfang die 6. Klasse, in den Schlußszenen ist dieser in seinen Zwanzigern). Ozus 'objektive Methode' bewährt sich auch während des Krieges: die Haltung, die er den Personen in diesem Film zuschreibt, könnte wirklich sehr viel zu tun haben mit dem Verhalten einfacher Leute in Japan zu diesem Zeitpunkt. Indem Ozu sich beschränkt – eigentlich nur dieses 'Binnenverhältnis' zwischen Vater und Sohn inszeniert –, hat er doch schon etwas Übergreifendes miterfasst und charakterisiert. (Die 'Geschichtsnatur' des Mensch formuliert sich naturgemäss auch körperlich: Gesten, Bewegungen, Verhalten, Sprechen sind gesellschaftlich und historisch geprägt oder, wie André Bazin sagt, schon dem Körper des Einzelnen eingeschrieben und abzulesen – er trägt diesen Ausdruck in sich und mit sich, was nicht heisst, dass er nicht gleichzeitig seinen je besonderen Ausdruck hätte, diese je besondere Person wäre. Aber je weniger er dieses Besondere hat, das Eigene kultiviert, desto grösser ist wohl auch die Gefahr, dass er völlig konform geht und sich 'gleichschalten' lässt.) Was Ozu in Chichi ariki stark hervortreten lässt, ist der ständige Appell des Vaters an das Pflichtbewusstsein und Verantwortungsgefühl des Sohnes. Der Vater selbst hat sich, nach einem Bootsunfall während eines Schulausflugs, vom Lehrerberuf zurückgezogen – er fühlte die Verantwortung für den Tod des Schülers zu schwer auf sich lasten. Jetzt spart er sich jeden Pfennig vom Mund ab, um den Jungen studieren zu lassen, damit 'er es einmal besser habe'. Aber noch auf dem Totenbett ermahnt er ihn, sich selbst in die Pflicht zu nehmen und rechtschaffen zu bleiben. Die Schlüsselszene in Chichi ariki ist vielleicht die (noch ziemlich am Anfang des Films), als der kleine Junge sich im Internat darauf freut, die Sommerferien mit dem Vater verbringen zu können (fischend, am Fluss) und von diesem bei einem Besuch gesagt bekommt, das ginge nicht, er, der Vater, gehe nach Tokio, um dort mehr Geld zu verdienen. Das fast lautlose Weinen, das dann den Körper des Jungen schüttelt, sein heftiges Sich-Abwenden und Sich-and-die-Wand-stellen, als eine Bedienstete kommt (ihm ist natürlich gesagt worden, er solle nicht weinen, Jungen weinten nicht), weist auf jene Art von Untröstlichkeit hin, die aus seinem Leben nicht mehr verschwinden wird – diese Wunde oder Verwundung bleibt. Als Erwachsenen, der auch Lehrer geworden ist und die meiste Zeit von seinem Vater getrennt war, sieht man ihn dann mit diesem freundlichen, zugewandten Gesicht – jede Art von Heftigkeit oder Auflehnung scheint von ihm gewichen. Der Wunsch nach der Anwesenheit des Vaters, der auch nach dessen Ableben nicht nachlassen wird, hat sich in einem Mass verinnerlicht, dass in ihm nur noch 'Zuvorkommenheit' und 'Folgsamkeit' ist. Es gilt das 'Gesetz' des Vaters: solche Art von Vaterliebe und Pflichtbewusstsein (worin jene frühe Verletzung mündete) war tatsächlich tragende Säule des militärisch hochgerüsteten japanischen Staates und der Gesellschaft – von der Vater- zur Vaterlandsliebe ist nur ein Schritt. Den zu tun oder anzudeuten aber hält Ozu sich merklich zurück: nur einmal lässt er den Vater sagen "Denk an dein Land". Wenn es die Absicht (oder die Sehnsucht) vieler wirklicher Cineasten war, "das Leben und nichts als das Leben" zu zeigen, so ist sicher Ozu einer derjenigen gewesen, die diesem Traum am nächsten gekommen sind. ("Das Leben, ein Traum", heisst es bei Calderón de la Barca.) Die Nahtstelle, die aufzutrennen und wiederzusammenzusetzen ist, ist die 'menschliche Beziehung' (auch das französische Kino z.B. – Pialat! – handelt geradezu exzessiv von nichts anderem). Ozus 'Millimeterarbeit' (D. Richie), d.h. seine Perfektion, müsste man nicht nur auf das Einrichten der jeweiligen Einstellung beziehen, sondern auch auf den Tonfall der Stimmen, die Richtigkeit der Gesten, die möglichst ökonomische und sinnvolle Abfolge der Handlung – die Konstruktion des 'Gesamtleibs' des Films. Es geht darum, die vielen einzelnen Elemente so zusammenzufügen und zu verbinden, dass eine von Leben durchpulste Raumzeit entsteht – ein 'Zeitraumstoff', der wie ein organischer Denk- und Empfindungsraum ist. Ozu hat, behaupte ich, mit seiner Stilisierung den Alltagsgestus am genauesten erfasst. (Möge Frau Prof. Dr. Koch sagen, was sie will.) Es ist ja nicht getan damit, dass man die äussere Wirklichkeit aufnimmt – die Realität setzt sich zusammen aus inneren und äusseren Zuständen: Absenzen, leeren Stellen, Automatismen, Gewohnheiten, Träumereien, dem Einbruch eines äusseren Faktums ins Innere ... dem mal trägen, mal beschleunigten Gang des Lebens. Mit der Fiktion (dem Drehbuch) schafft Ozu das Gerüst, um diese minimen, sonst kaum wahrgenommenen Gesten und Formen zur Darstellung zu bringen – die Handlung muss so nah am Alltag sein, dass er zu 'schweben' beginnt. Das wäre der Beweis dafür, dass die Vermittlung gelungen ist – das Innen sich im Aussen, das Aussen sich im Innen aufhebt. Dieses 'Schweben' kann seiner Natur nach nichts Statisches sein – es wird vom Fluss des Lebens mitgenommen und getragen, muss sich im 'Fliessenden' behaupten. Das Bild des 'Schwimmens' (das Ludwig Hohl so teuer war) ist diesem Zustand wirklich ganz adäquat: sich den Elementen anvertrauen, die Bewegungen machen, die tragen, um dem Leben gerecht zu werden und am Leben zu bleiben. Das Nächste, Gewohnteste ist das Unwahrscheinlichste (eben deswegen, weil es nah und gewohnt ist, am wenigsten wahrnehmbar): gerade das versucht Ozu aus seinen Akteuren herauszuholen oder in sie hineinzulegen – mitzuinszenieren. Bei ihm gibt es verschiedene Ebenen des Sprechens (was z.B. in Die Schwestern Munakata sich nur grob ausdrücken lässt durch normale und kursivierte Untertitel) – Nuancierungen im Lautlichen der Sprache, Weisen des Redens und Pronunzierens. Chisu Ryu's zustimmendes, zugleich träge alltagsbestimmtes 'Ja' (in Später Frühling), wenn seine Tochter ihm etwas berichtet – er hört es nur nebenbei, es gehen noch andere Gedanken in ihm um, die noch nicht reif sind, nach aussen zu treten. Andere Abstufungen von Lauten: fragend, abwartend, gleichgültig, zurückhaltend. Das momentane Reden wird immer auch mitbestimmt von Nichtgesagtem, Vorlaufendem, Nachlaufendem. Selten die Momente, in denen 'es' zusammenkommt: eine Öffnung da ist, wo man sich offenbart, den innersten Gefühle freien Lauf lässt. (Das geht immer nur durch den Einbruch eines elementaren Erlebnisses - einen unwiederbringlichen Verlust ... Das seltene Gespräch, das letzte Gespräch.) Bei Ozu könnte man lernen, was Sprache – gesellschaftlich, menschheitsgeschichtlich – ist. Kaum einer hat wie er, zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor Kogo Noda, seine Drehbücher auf solche Sprach-Alltäglichkeit zugeschrieben und mit seinen Schauspielern eine so richtig erscheinende 'Umsetzung' gefunden. Ja, der Sprachfluss, die japanische Art und Weise zu artikulieren, Wörter zu intonieren, das Klangliche einzusetzen, könnte man fast sagen, trägt die Filme selbst – oder trägt hindurch durch die Filme. Sprache ist erstmal eine Konvention, damit man sich überhaupt verstehen kann – ihr Satzbau, ihre Worte, ihre Lautlichkeit sind kodiert. Sie ist zwar ein sehr nuanciertes Verständigungsmittel, aber sie hat auch ihre Grenzen (eben in ihren Konventionen), führt zu Missverständnissen und Unverständnis. Sie besteht ja nicht für sich, sondern drückt aus, was 'darunter' ist – die Irrungen und Wirrungen des Lebens, den ganzen Seelen- und Gefühlshaushalt mit seiner Verletzlichkeit, seinen Schutz- und Abwehrmechanismen. Deshalb ist auch das Schweigen eine Äusserung der Sprache: das Nichts-Sagen kann sehr vielsagend sein. (Am deutlichsten bei den Kindern, die die Sprache verweigern. Und das 'lastende Schweigen' in Tokyo Boshuku hat etwas Tödliches – verweist auf die 'Schwärze' der Existenz.) Sehr gefällt mir, dass Ozu vor allem die Frauen spielerischer und kommunikativer mit Sprache umgehen lässt. Das scheint in ihrem Wesen zu liegen: die zwei unverheiratenen Frauen (in Bakushu) necken die zwei verheirateten in dem Lokal, wo sie sich eingefunden haben, in einem 'Spiel' von ablehnenden, sich selbst bestätigenden Lauten. Sie tun sich damit ihre gegenseitige Verbundenheit kund – und fast ist es, als würden die zwei, die sich in den 'Ehezustand' entfernt haben, wieder in die Frauen- oder Freundinnen-Gemeinschaft zurückgeholt. Ozu bleibt am Ort oder kehrt zu ihm zurück, lässt die Statik der Einstellungen unverrückt – gerade so wird sich das 'Fliessende' besonders gut bemerkbar machen oder darstellen lassen. Die Zeit fliesst hindurch durch den Raum – was dann sowohl von den Protagonisten wie den Zuschauern als das Passagere, das Flüchtige des Lebens empfunden wird (in einem grösseren Zeitraum: Zerfall von alten Strukturen). Je intensiver dieses 'Vergehen' empfunden wird, desto wertvoller der Moment. filmkritik, 3. Mai 2003 um 16:56:04 MESZ ... Link Montag, 28. April 2003
Innen, Politik. The Core, USA 2003, Regie: Jon Amiel "It's a motherfucker, don't you know?" (Sun Ra, zit. nach Yo la Tengo: Nuclear War EP, Matador 2002) To begin with: Das Unheil nimmt seinen Lauf. Am Trafalgar Square fallen plötzlich die Vögel vom Himmel oder fliegen orientierungslos gegen die Gebäude und Autos. Auf dem Boston Common findet eine ökologische Veranstaltung statt, als in den angrenzenden Bürotürmen unvermittelt reihenweise die Herzschrittmacher aussetzen. // Für mich im Kino - mittags in der Stadt gelandet, zeitzonengeschädigt und übermüdet - steckt in diesem apokalyptischen Anfang eine Dosis Realität, mit der ich nicht gerechnet habe. Denn das spärlich besuchte Multiplexkino steht Ecke Park Street, keine 200 Meter von der Stelle entfernt, an der auf der Leinwand gerade die Herzschrittmacher durchdrehen. Ein Gedanke, der mich hätte beruhigen können: Wenn es tatsächlich in diesem Moment ein derartiges Elektro-Strahlungsgewitter gäbe, dann würde jetzt wahrscheinlich auch der Projektor nicht mehr funktionieren, der mir zeigt, was alles bei einem solchen Elektro-Strahlungsgewitter jetzt wahrscheinlich nicht mehr funktionieren würde. // Reality, Part II: Beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre oder kurz danach spielt die Steuerungselektronik der "Endeavor" verrückt; der Space Shuttle entgeht knapp der Katastrophe und muß in LA notlanden. Im Film ist dies zugleich Hilary Swanks unkonventionelle Führerscheinprüfung. Sie darf wenig später einen anderen Shuttle in die Erde lenken. Ich frage mich, ob es nach dem Absturz der "Columbia" im Februar Überlegungen oder Druck auf Jon Amiel oder die Universal gegeben hat, die Shuttle-Szenen rauszunehmen. Bei der Stossrichtung des ganzen Films wahrscheinlich nicht. Talkin' about a revolution: Das Kernproblem wird im Film nur in seinen Konsequenzen, nicht (oder nur im Nachhinein und halbherzig) in seinen Ursachen eingeführt: Aufgrund merkwürdiger physikalischer Veränderungen hört der Erdkern auf sich zu drehen. Das elektromagnetische Kraftfeld droht auszufallen, die gesamte Erdatmosphäre ist in Gefahr: Erdbeben, Klimaerwärmung, Hitzetod, etc. Trotz der einleitenden Sequenz am Trafalgar Square und einer anderen Szene, in der das Colloseum einstürzt, wird dies als ein im Kern amerikanisches Problem behandelt. Weltinteresse und amerikanisches Interesse werden als deckungsgleich behauptet. Ein zweiter Promosatz neben "Earth has a deadline" lautet: "The revolution has come to an end" Ich musste da zweimal drüber nachdenken: Mit Revolution ist hier ganz wörtlich die kreisende Bewegung des Kerns gemeint. Der Film will also die Problemlösung mit Nuklearwaffen als revolutionären Akt verstanden wissen. Den Globus wieder elektromagnetisch imprägnieren, Restauration als Revolution. Revolution makes the world go round - hier eine Tautologie. Lösungsvorschlag: "Wir lassen im Zentrum der Erde Atombomben von 1000 Megatonnen explodieren und lösen damit die größte Schockwelle der Geschichte aus", sagt jemand im Trailer. "Shock and awe" avant la lettre, denn der Film war wahrscheinlich irgendwann letztes Jahr fertig. An diesen Teil des Films, die fulminanten Bombenexplosionen am Ende, erinnere ich mich deutlich. Aber im Kurztrailer auf der Netzseite erkenne ich die Handlung jetzt, nach dem Film, nicht wieder. Da sagt eine unheilvolle Stimme: "Es war ein geheimes [!] Regierungsprogramm, bekannt [?!] als Projekt Destiny. - 'Wir bauen eine Waffe, die gezielt seismische Aktivitäten erzeugen kann.' - Das Ziel war, unsere Feinde mit Hilfe von Erdbeben anzugreifen. - 'Ich messe seismische Reaktionen' - Es war eine perfekte, unauffindbare Waffe. - 'Destiny hat grünes Licht' - Bis etwas schiefging..." Es wäre interessant zu sehen, ob und wie sich der amerikanische vom deutschen Trailer unterscheidet. Denn in dieser Version klingt es plötzlich so, als seien das amerikanische Waffenprogramm und die damit verbundene Hybris Ursprung und Auslöser des Problems. Im Film selbst dagegen ist sind die Waffen vor allem seine Lösung. Das folgt unter anderem einer simpel gestrickten, sprachlichen Analogie: Womit soll man dem Kern beikommen, wenn nicht mit Kernwaffen? Auf den Nukleus gilt es Nuklear zu reagieren. Gegen Husten nimmt man Hustensaft. Kommentar zur politischen Lage: Eine genretypisch zusammengestellte Crew bohrt sich in einem Earthshuttle in das Erdinnere, um die Sache wieder einzurenken. Die Atombomben dienen dabei als eine Art martialisches Starthilfekabel, um dem Kern neuen Schwung zu verleihen. Damit sind Themen markiert: Innere Sicherheit, Weltpolizei, kriegerische Handlung als Penetrationsphantasie, der Mariannengraben als Eingang zum Schoß der Mutter Erde. Der Film stellt diese Themen in einer Überdeutlichkeit aus, die sich oft nicht zwischen Ironie und Peinlichkeit entscheiden kann. Meist wählt er letzteres. Experten. Wissen. Einige der Crewmitglieder holt sich die Regierung von ausserhalb. Da ist der zurückgezogene Wissenschaftler, offenbar jahrelang als Spinner abgekanzelt und ausgelacht: Plötzlich darf er sein Traumschiff bauen, in kürzester Zeit und mit Riesenbudget ("Nehmen Sie Checks?") schraubt er den metallenen Riesenphallus zusammen. Darüber hinaus gibt es den verstrahlten Hacker, der jetzt zwar quasi im Pentagon sitzt, sich aber selbstredend weiterhin von Coke aus Riesenbechern und Chips ernährt. Und als wissenschaftlicher Leiter ist ein smarter junger Physikprofessor an Bord, der seinen Studenten elektroakustische Phänomene verdeutlicht, indem er im Hörsaal Trompete spielt. Solchen Leuten kann man als Zuschauer nicht von vornherein Regierungsinteressen unterstellen, es sind der Tendenz nach Marginalisierte (der Wissenschaftler), Subversive (der Hacker) oder künstlerisch veranlagte Intellektuelle (der Prof). Die Botschaft: Zum Zeitpunkt der Krise gilt es zusammenzustehen, Subversion, "Anders-sein" hin- oder her. In der Logik der Deckungsgleichheit zwischen Welt und USA gibt es kein Außen zur Regierungsmeinung. Differenzen werden als Fassade aufrechterhalten, spielen aber (nach Innen) für die gemeinsame Identität als Weltretter keine Rolle. Männer / Frauen: Für ihre Rolle als Teena Brandon, die ein Junge sein will und sich daher Brandon Teena nennt, hat Hilary Swank 2000 ("Boys don't Cry", USA 1999, Regie: Kimberly Pierce) einen Academy Award bekommen. Jon Amiel besetzt sie in "The Core" als Major Rebecca 'Beck' Childs, die Terranauten-Pilotin. Auf andere Weise darf sie auch hier also wieder eine Frau spielen, die einen Mann spielt. Der Tough guy, zugleich ein Wink in Richtung Sigourney Weaver als Alien-Kommandantin. Schon drin? Was, wenn man im Erdinnern angekommen ist - ganz abgesehen von den offenkundigen Schwierigkeiten, eine einförmig gallertartige, heisse Masse über einen längeren Zeitraum packend zu visualisieren? Das Drehbuch kennt ebensowenig wie die Besatzung eine wirkliche Strategie, wie die aus dem Gleichgewicht geratene Erdstrahlung wieder in den Griff zu kriegen wäre. Man taucht, so kommt es mir vor, ziemlich unkoordiniert ab ins Innere, das Vertrauen richtet sich einzig auf das Know-How der Experten an Bord und auf die Tauglichkeit der mitgeführten Waffen. Es ist Bestandteil des Plans, keinen wirklichen Plan zu haben. /// Ich sehe den Film einen Tag vor der Einnahme Bagdads. Mein Jetlag führt dazu, daß ich zwischendurch immer wieder mal kurz einnicke; auch deshalb bleiben die Erinnerungen diffus, überlappen im Halbschlaf mehrfach mit Aktuellem, auch mit Nichtigkeiten. Ich frage mich zum Beispiel, ob die Besatzung auf ihrem Weg zum Kern die Uhren umstellen muss. Welche Zeitzone gilt am Erdmittelpunkt? Wie simuliert man dort "Tag" und "Nacht"? Mich würden solche Spuren des Banalen im Ausnahmezustand interessieren; dem Film sind sie egal. Immerhin: Auf der Netzseite von United International kann man einen erdbebensicheren "The Core"-Weltzeit-Wecker gewinnen. /// Kerngeschäft: The Core. Das, worauf sich ein Problem reduzieren läßt, "stripped down to the core". Hier heisst das: Es gibt ein Problem, wir schicken unsere Waffen hin - die B 52-Logik. Daß das Problem "im Innern" liegt, läßt sich auch so übersetzen: Die Bedrohung kommt von innen. Nine Eleven: wir sind auf dem Heimatkontinent attackiert worden. Gegen Ende des Films, einige Mitglieder der Crew sind ums Leben gekommen, verglüht, verpufft, für die Sache geopfert, flüchtet sich der Film in die Ideologie sinnloser Stärke, einer Kraftanstrengung, die sich erst im Vollzug legitimiert. Man bombt, um zu bomben oder weil man die Sprengkörper nun einmal dabei hat. Zwar steht immer wieder die Frage im Raum, ob man nicht besser unverrichteter Dinge umkehren solle, aber ein Aufmarschbefehl ohne Schlacht und Sieg ist weder auf der Leinwand noch draussen vorgesehen. Der Film gibt sich keine Mühe, diese Gewaltanwendung argumentativ abzufedern - vielleicht hat man insgeheim darauf gehofft, dass in diesem Fall die Realität dem Film zur Seite springt und plausibel macht, was auf keinerlei Plausibilität hoffen kann. Bagdad, Reise zum Mittelpunkt der Erde, wer legitimiert hier wen? Weltinnenpolitik: Die Antwort auf ein - im weitesten Sinne - Umweltproblem heisst in "The Core" Atombombe, nicht Kyoto. Das, was im Kalten Krieg glücklicherweise Theorie bleiben musste, kann in der Hitze des Erdmittelpunkts in die Praxis umgesetzt werden. Ein paar Tage später höre ich in den Nachrichten (oder war auch das im Halbschlaf, noch im Film?), daß die Bush-Administration ihren Abrüstungskurs aufgeben will. "It's a motherfucker, don't you know." Volker Pantenburg filmkritik, 28. April 2003 um 19:17:30 MESZ ... Link Mittwoch, 16. April 2003
Playgirl Regie: Will Tremper. BRD 1966. Nach 8 Stunden Fahrt kommen sie an in Berlin. Auf der AVUS begrüßt Eva Renzi den Funkturm, hält den Kopf aus dem Dachfenster, "Ach ist das schön!", ihr Haar weht im Fahrtwind. Als sie sich zuvor im Spiegel betrachten will, in einer eng cadrierten Einstellung aus Richtung der Rückbank aufgenommen, klappt er den Spiegel nach links weg. Augenblicklich folgt ihr Gesicht der Bewegung des Spiegels und man sieht sie jetzt im Profil. Eine Nouvelle Vague Phrase, vorbereitet durch ein paar Jump Cuts: Eva Renzi von oben, liegend auf dem Beifahrersitz; Eva Renzi von der Seite, und in den Fenstern sieht man die Fahrtbewegung an den vorbeiziehenden Bäumen. In Berlin angekommen fahren sie vor ein Hotel (am Stuttgarter Platz?). Eine Bruchbude. Ein junger Mann mit zusammengeballtem Gesicht und kurzgeschnittenen blonden Haaren -"Typ 'Peter von Eyck'"- steht davor, mit weißem Unterhemd, braungebrannt, es ist Sommer. Der Mann, mit dem sie gekommen ist, ist sein Chef. Sie soll den Blonden "007" nennen. 007, der auch Jochen heißt, holt ihre Koffer aus dem Auto und trägt sie ins Hotel. Sie telefoniert währenddessen in einem Kiosk auf der anderen Straßenseite. Schreibt sich eine Adresse auf. "Jerusalemer Straße 47-49." Dort will sie jetzt hin. 007 soll ihre Koffer zurück bringen. 007 zögert. "Sie wollen mir den kleinen Gefallen nicht tun?" Zuvor waren die Einstellungen auf sie und den Blonden halbnah, man sah das Hotel im Hintergrund und den kleinen Platz mit dem Kiosk, parkende Autos, Bäume, Passanten. Bei ihrer Frage dreht sie sich um und ihr Umdrehen wird zu einem Schnitt genutzt, ihr Gesicht bildfüllend zu zeigen. Der Blonde betrachtet sie, wie ich als Zuschauer, die Gewaltigkeit und Promptheit des Ransprungs verarbeitend. Zu schnell, um adäquat zu reagieren. Er lächelt nach einer Weile. Nicht nur wegen ihrer Schönheit. Sie dreht sich wieder weg und ruft ein Taxi. Der Blonde im Unterhemd, 007, kratzt sich verlegen bewundernd am Kopf, "Mann ist die 'ne Klasse." Er berlinert stark. Das Taxi mit ihr fährt ab und der Chef tritt aus dem Hotel. Beide betrachten das abfahrende Taxi. "Sie ist wohl weg, was?" - "Ja." - "Gottseidank. So was habe ich noch nicht erlebt. Das ist 'ne Wahnsinnige." Sie heißt Alexandra Borowski und ist Fotomodell. Sie ist mit Bert ("Siegbert" = Harald Leipnitz) zum Schwimmen zum Olympiabad gefahren. Bert soll sich um sie kümmern, sein Chef Steigenwald (Paul Hubschmid) hat ihn darum gebeten, mit leicht amerikanischem Akzent im Büro in der Jerusalemer Straße. Geschäfte werden da besprochen mit einem Amerikaner, lässig fläzt man sich in tiefe Sofas. Im Olympiabad trifft Bert auf seine Verlobte. Ein Kampf mit Worten zwischen den Frauen um den Mann. Namen von Städten und Ländern werden jetzt ausgetauscht wie Trümpfe um Welthaltigkeit und Geschichte. Paris, San Francisco, Bahamas, Rom. Bert zeigt ihr das Olympiastadion, 1936 hat hier Jesse Owens den 100-Meter-Lauf gewonnen. "Vor wem ist der denn weggelaufen?" Wir wären so gerne Welt. Die Hinterhofpension, in die sie sich von 007 hat bringen lassen, quillt über von Geschichten. Eine junge Russin telefoniert im Vorzimmer. Ein alternder Mann kommt aus dem Bad mit einer Bierflasche in der Hand. Nebenan ein Paar, er schwarzhäutig, sie blond. Als Eva Renzi lesend in der Badewannne liegt, tritt der Schwarze ohne Anzuklopfen hinein und verspricht ihr zwei Karten für das "Living Theatre" am Abend. Ausgehen mit Bert. Nach dem Theaterbesuch (englisch!) gehen sie ins "Kopenhagen" am Kurfürstendamm und essen Hering. Dann Tanz. Sie küssen sich zum deutschsprachigen Gesang einer französischen Sängerin. Woanders, tief in der Nacht, sitzt Paul Kuhn am Klavier, der oberste Hemdknopf geöffnet, der Krawattenknoten gelockert, improvisiert einen Blues, "... mein Klavier ist todmüde...", und nippt in einer Pause schwermütig an einem Halbliterglas Bier. "Den wollte ich dir noch zeigen. Paulchen Kuhn." Im Auto, beim heranbrechenden Morgen mit Vögelgezwitscher, knutschen sie und hören AFN. Kochstraße, Ecke Friedrichstraße, "Checkpoint Charlie". Aus Megaphonen tönen Parolen gegen den Schießbefehl. Sie gerät nun doch mit Steigenwald zusammen, der Hochhäuser bauen läßt direkt an der Grenze wie Springer, dessen "Welt" er morgens beim Frühstück in Dahlem im Garten liest. Zuvor ein Abendessen mit ihr, das Gespräch kommt auf die Politik. Die Mauer, der Krieg, der Hitler: wie kann man das alles sehen?, was ist die richtige Perspektive? Sie ist neugierig, Berlin sei die Stadt, in der das alles vorhanden sei. Steigenwald sagt, er komme sich alt vor, wenn er sie reden höre. Sie: "Gebt doch nicht so an mit eurer Mauer." Später - Steigenwald hat sich aus dem Staub gemacht und Siegbert ist enttäuscht von ihrer Flatterhaftigkeit und eifersüchtig geworden und ablehnend - ist sie von einem Moment zum anderen am Boden zerstört durch ihre falschen Liebesentscheidungen ("Es gibt keine unglückliche Liebe, es gibt nur falsche"), presst Tränen unter ihrer Sonnenbrille hervor im Auto von 007, der sie durch die Stadt chauffiert und trifft dann aber genau zum richtigen Zeitpunkt auf der Straße einen bekannten italienischen Modefotografen. Aufnahmen im Schloß Charlottenburg, auf Hochhausdächern, am Mauerstreifen. "Berlin ist eine Sünde wert", der Slogan zum Film auf meiner Videokaufcassettenhülle, wird hier vom italienischen Fotografen erstmals erwähnt, abgewandelt zu "Berlin ist eine Liebe wert". Manche Heimat- und Musikfilme aus den 50ern hatten ähnliche Fabeln zur Ankurbelung: das jemand von weither kommt, aus einer modernen Stadt oder gar aus Amerika, und ein Alpengipfeldeutschland entdeckt als disneyfizierte Landschaft mit abgeschwächtem Tiefgang. Mit aufgeklärten Leuten und folkloristischen Ritualen, die als Tourist zu betrachten Lust verspricht. Die meisten dieser Filme nutzten dieses werbende Nach-Außen-Gerichtetsein als McGuffin, um Geschichten zu erzählen, die nach Innen gehen, die prototypische Protagonisten in einem Prozeß der Selbstvergewisserung zeigen. Als Film auf einer möglichen Liste des Berliner Fremdenverkehrsamt ist "Playgirl" stärker nach Außen gerichtet, die Protagonisten sind von Innen heraus welt- und oberflächenfordernder. Ich stelle mir Trempers Gedankengang dazu vor: Wenn wir Berlin und uns 1965 als modern definieren wollen, müssen wir es moderner zeigen, als es ist; d.h.: alles auf einmal zeigen - Liebe, Arbeit, (Kino-)Stadt. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Man sieht dem Film diesen Wunsch sehr an. Nach "Playgirl" hat Tremper noch zwei Filme gemacht. Uwe Nettelbeck zu Tremper und "Playgirl", in der Filmkritik Nr.10, 1966: "Wichtig ist: Ein Mann, der von allerlei fasziniert und nicht wählerisch ist, ohne Zwang Illustriertengeschichten geschrieben hat und über manches manches weiß, bringt es fertig, einen Film nur über sich selber zu machen und in diesen Film alles hineinzustecken, was ihm so auffällt, wovon er fasziniert ist, was er sich vorstellt, was er sich denkt. Wichtig ist schließlich: Wir können ins Kino gehen und uns einen Film anschauen, dem wir entnehmen können, was einer, der in Berlin lebt und dem was auffällt, so denkt und sich vorstellt. Statt uns einen Film anschauen zu müssen, in dem wieder einmal irgendeiner irgendeine Geschichte inszeniert hat, die weder ihn noch uns interessiert, in dem im gehobenen Tone über eines dieser Probleme nachgesonnen wird, von denen es dann heißt, es sei gut gewesen, daß einer es angepackt habe." "Ich erwarte mir von Dir, dass Du Dir im Büro nichts anmerken läßt. Es ist Aus. Ich erwarte mir von Dir, dass Du modern genug bist, Dir auf einmal miteinander schlafen nichts einzubilden. Das ist doch klar, oder?" Siegbert möchte mit seiner Freundin Schluß machen. Er hat sich in Eva Renzi verliebt. Deren Aufstieg in der Modeszene der Stadt wird gezeigt: schwindelerregender, nicht aufhörender 360°-Schwenk von der Mittelinsel des Ernst-Reuter-Platz; Gespräch mit einem Berliner Modemacher, der gar nicht aufhören mag die italienische Mode auf Italienisch zu preisen. Ein wenig verliert der Film nun an Tempo, obwohl Zeitsprünge erzählt werden: Siegbert arrangiert sich wieder mit seiner Freundin; Eva Renzi widersteht Annäherungsversuchen des italienischen Fotografen, das Leben der Figuren normalisiert sich. Noch 20 Minuten, der Film ist kurz vor seinem Ende. Aus der Reigenhaftigkeit wird nun doch eine Dreiecksgeschichte nachdem Siegbert Eva Renzi auf einer Party wiedersieht, die beiden zum Paar werden mit Alltag und Ausflügen und Steigenwald eifersüchtig, der verpassten Chance nachtrauernd. Berlin ist nun Kulisse der Beziehungshändel, nicht mehr projezierter Taktgeber: eine Szene am See, eine bei einem Autorennen, im Hintergrund sieht man den Funkturm, auf den noch in einem Satz hingewiesen wird, als sei die Welt anders nicht mehr bemerkbar. Die letzte Szene auf einer Wiese zwischen Bäumen könnte überall spielen. Jeans von Nicolette Krebitz fällt mir ein, als ein Film, der 35 Jahre später an "Playgirl" anknüpfte. Michael Baute ("Playgirl" ist am Freitag, 18.4.03, um 23:00 Uhr auf SFB1 zu sehen.) mbaute, 16. April 2003 um 17:08:23 MESZ ... Link ... Nächste Seite
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Danièle Huillet – Erinnerungen, Begegnungen
NICHT VERSÖHNT (1965) *** Jean-Marie Straub – Danièle und ich sind uns im November 1954 in Paris begegnet – wir erinnern uns gut daran, weil das der Beginn der algerischen Revolution war. Ich war mehrmals per Autostop nach Paris gekommen, um Filme zu sehen, die es bei uns nicht gab, LOS... by pburg (05.10.07, 11:58)
UMZUG
Nach knapp 2000 Tagen bei antville und blogger machen wir ab jetzt woanders weiter. Unter der neuen Adresse http://www.newfilmkritik.de sind alle Einträge seit November 2001 zu finden. Großer Dank an antville! Großer Dank an Erik Stein für die technische Unterstützung! by filmkritik (08.05.07, 15:10)
Warum ich keine „politischen“ Filme mache.
von Ulrich Köhler Ken Loachs „Family Life“ handelt nicht nur von einer schizophrenen jungen Frau, der Film selbst ist schizophren. Grandios inszeniert zerreißt es den Film zwischen dem naturalistischen Genie seines Regisseurs und dem Diktat eines politisch motivierten Drehbuchs. Viele Szenen sind an psychologischer Tiefe und Vielschichtigkeit kaum zu überbieten – in... by pburg (25.04.07, 11:44)
Nach einem Film von Mikio Naruse
Man kann darauf wetten, dass in einem Text über Mikio Naruse früher oder später der Name Ozu zu lesen ist. Also vollziehe ich dieses Ritual gleich zu Beginn und schreibe, nicht ohne Unbehagen: Ozu. Sicher, beide arbeiteten für dasselbe Studio. Sicher, in den Filmen Naruses kann man Schauspieler wiedersehen, mit denen... by pburg (03.04.07, 22:53)
Februar 07
Anfang Februar, ich war zu einem Spaziergang am späten Nachmittag aufgebrochen, es war kurz nach 5 und es wurde langsam dunkel, und beim Spazierengehen kam mir wieder das Verhalten gegenüber den Filmen in den Sinn. Das Verhalten von den vielen verschiedenen Leuten, das ganz von meinem verschiedene Verhalten und mein... by mbaute (13.03.07, 19:49)
Berlinale 2007 – Nachträgliche Notizen
9.-19. Februar 2007 Auf der Hinfahrt, am Freitag, schneite es, auf der Rückfahrt, am Montag, waren die Straßen frei und nicht übermäßig befahren. Letzteres erscheint mir angemessen, ersteres weit weg. Dazwischen lagen 27 Filme, zwei davon, der deutsche Film Jagdhunde, der armenische Film Stone Time Touch, waren unerträglich, aber sie lagen... by filmkritik (23.02.07, 17:14)
Dezember 06, Januar 07
Im Januar hatte ich einen Burberryschal gefunden an einem Dienstag in der Nacht nach dem Reden mit L, S, V, S nach den drei Filmen im Arthousekino. Zwei Tage danach oder einen Tag danach wusch ich den Schal mit Shampoo in meiner Spüle. Den schwarzen Schal hatte ich gleich mitgewaschen,... by mbaute (07.02.07, 13:09)
All In The Present Must Be Transformed – Wieso eigentlich?
In der Kunst / Kino-Entwicklung, von der hier kürzlich im Zusammenhang mit dem neuen Weerasethakul-Film die Rede war, ist die New Yorker Gladstone Gallery ein Global Player. Sie vertritt neben einer Reihe von Bildenden Künstlern, darunter Rosemarie Trockel, Thomas Hirschhorn, Gregor Schneider, Kai Althoff, auch die Kino-Künstler Bruce Conner, Sharon... by pburg (17.12.06, 10:44)
Straub / Huillet / Pavese (II)
Allegro moderato Text im Presseheft des französischen Verleihs Pierre Grise Distribution – Warum ? Weil : Der Mythos ist nicht etwas Willkürliches, sondern eine Pflanzstätte der Symbole, ihm ist ein eigener Kern an Bedeutungen vorbehalten, der durch nichts anderes wiedergegeben werden könnte. Wenn wir einen Eigennamen, eine Geste, ein mythisches Wunder wiederholen,... by pburg (10.11.06, 14:16)
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