new filmkritik für lange texte
 
Dienstag, 12. März 2002

Marseille 1. - 10. März


Ich war sehr wunschlos gestimmt (Haschisch in Marseille) Walter Benjamin, Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen

Freitag. Marseille, Provence. Am Flughafen kann man sich entscheiden, wo man hin will: Aix, Marseille, ans Meer oder in die Berge. Die Berge kann man sehen, hinter der Fläche des Flugfeldes, hell und schroff. Die Autobahn führt durch Häuserschluchten mitten in die Stadt. Die Häuser haben die gleiche Farbe wie die Berge. Cité Le Corbusier. In Marseille gibt es unzählige Häuser wie dieses, mit mehr oder weniger Leidenschaft berechnete Zellanhäufungen, und in jeder Zelle Leben. Das Hotel ist im dritten Stock, aber höher, als man denkt, weil darunter Maisonettewohnungen liegen und das Haus auf Betonpfeilern ruht, fünf, sechs Meter hohe, sich nach oben verbreiternde Lastenträger, auf die sich all das Leben bedenkenlos stützt. Dazwischen parken Motorräder. Von der Rezeption aus sieht man das Meer, von meinem Zimmer aus hinter zahllosen anderen Hochhäusern die Berge. Samstag. Ständiger, kaum spürbarer Regen, stundenlang gelaufen, Richtung Centre Ville, Cours Julien, Vieux Port, Panierviertel, Café des Arts gegessen, keine Karte und ein einziges Gericht, an der Küste entlang zurückgefahren, lange am Strand unter einem Dach gesessen, da war der Regen schon stärker, lange auf den Bus zurück ins Hotel gewartet. Zwei Stunden geschlafen. Am Abend im Fernsehen César- Verleihung, eine Jugend von Modiano zu Ende gelesen. Sonntag. Sonne. Zum Meer gelaufen, an einer Mauer entlang, die sich unvermutet zu einem Park öffnete, Borély. Familien mit Rollerblades an den Füßen, Kajakfahrer, Jogger, alle an der Sonne. Den Bus bis Madrague, auf den Felsen gelegen, während die Sonne höher stieg, weiter an der Küste entlang gelaufen, dann mit dem Bus nach Callelongue. Die anderen waren mit Autos unterwegs, kurz vor dem Ziel kein Parkplatz mehr. Familien mit kleinen Kindern, Paare, Licht, Wärme, Zeit. Erst um fünf wieder am Vieux Port, auf den Bus gewartet, fotografiert, während die Dämmerung hereinbrach nach St.Henri gefahren, am neuen Hafen entlang, Industrie, Autobahnen. Zu früh ausgestiegen, lange einen Berg hinauf gelaufen, an öden Flächen, Zäunen und verschlossenen Toren entlang, bis zu einem Dorf, St. Henri, alt und wie verlassen, weiter bis zum Place Raphael, dort hell erleuchtet das Kino, aber es war geschlossen, im Innern saßen zwei Mädchen, die eine telefonierte mit ihrem Handy und wedelte mit der Hand, als ich an der Tür rüttelte. Adieu Philippine lief nicht. Inzwischen war es dunkel. Den Bus mitten auf der Straße angehalten, zur Metro Bougainville gefahren, in der Metro nur Männer in Trainingsanzügen und Turnschuhen, die über die Schranke sprangen und auf die Gleise spuckten. Erst bei St. Charles wurde es voller. Kurz vor acht im Hotel. Ich hab die Balkontür aufgelassen, und jetzt ist es kalt. Wer wohnt eigentlich neben mir? Montag. Wache auf von der Sonne, die zuverlässlich jede Zelle trifft. Schritte nebenan, es muß ein Mann sein, und er trägt keine Turnschuhe. Als ich mein Frühstück hole, treffe ich ihn auf den anderthalb Quadratmetern, aus denen unser gemeinsamer Vorraum besteht, Asien, mein Alter, denke ich, zu mehr reicht der Blick nicht, es ist zu dunkel und zu eng. Zellen gibt es für Mönche, Gefangene, Fremde, Arme, Überzeugte. Abend. Wollte mit dem Bus bis zur Canebière fahren, bin aber wieder auf halber Strecke ausgestiegen, weil Markt war, komme nicht vorbei an diesem Markt, Turnschuhe, Jeans, Seife, Haarspangen, Spielzeug, Obst, Fisch, Brot, Kosmetik, alle verkaufen sie und kaufen, bauen die Tische morgens auf und mittags wieder ab, jeden Tag das gleiche. Nicht, dass ich etwas kaufen möchte, aber die Tatsache, dass ich etwas kaufen könnte, so wie alle anderen, macht mich weniger fremd. Am Place Castellane rechts abgebogen, Boulevard Baille, dann durch Lodi, sehr freundlich, Mariannenplatz auf französisch, bis zum Bahnhof St.Charles. Kleiner Bahnhof, merkwürdig sauber und bescheiden, außen wird gebaut. Hinter der Baustelle die armseligsten, kaputtesten Häuser, abgetrennt durch Maschendraht, dahinter führt eine enge Straße weiter in die Tiefe und wieder hinauf, die im hellen Gegenlicht wie erstarrt aussieht und lange sehe ich hin, bis ich die Bewegungen der Menschen und Autos wahrnehme. Weiter zur Porte d’Aix, daneben ein schräger Platz mit braunen Bänken, an denen Zettel kleben, frisch gestrichen. Auf den Bänken sitzen Araber, die dort sicher immer sitzen, und jetzt hat ihnen jemand die Bänke gestrichen. Will eine Bar fotografieren, nur Männer sitzen davor, neben schweren Balken, die die Hauswand abstützen, die Balken eins mit dem alten Haus, wie die Platane davor. Stehe rum, falle auf, gehe weiter. Rue d’Aix, Cours Belsunce, Canebière bis in den siebten Bezirk, keine Araber mehr, jetzt sind es die Obdachlosen, die auffallen zwischen den feinen Läden. In der schönsten Buchhandlung von Marseille (gemäß Stadtbauwelt) zahlreiche Bildbände über Marseille, Editions Lafitte, und während ich sie mir ansehe, wird mir zum ersten mal die Tasche schwer mit dem Photoapparat und der Videokamera, fühle mich müde, weil ich das, was ich auf den Bildern sehe, wiedererkenne und dennoch überhaupt nicht erkenne, elend fremd fühlt man sich angesichts dieser Bildbände, als hätten all die anderen etwas gefunden, was man selbst nie finden wird, dabei habe ich Augen, aber es sind eben meine Augen.
Mit dem Bus nach Hause gefahren, rauche die letzten American Spirit, im Fernsehen die letzte halbe Stunde von Missing, Charles wurde exekutiert, und Jack Lemmon fragt, in was für einer Welt wir leben, aber da hat man die Frage schon zu lange erwartet, und daß man keine Antwort weiß, ist längst egal geworden. Dienstag. Um zehn, als ich das Hotel verlassen habe, heftiger, aber warmer Wind, kurz darauf Regen, der nicht mehr aufhören wollte. Dörfer, St. Loup, Valentin, Gewerbegebiet, St. Rose, dazwischen Hochhäuser, Residenzen nennen sie sich und in den Wintergärten hängt die Wäsche zum Trocknen, mit der Metro von St.Rose zurück in die Stadt, dabei ist das alles Stadt, die Metro fährt oben, Blick über die Dächer verwahrloster Villen, noch mehr Hochhäuser, überall rechteckige Fassaden mit rechteckigen Öffnungen zum rausgucken, aber nicht zum reingucken. Ausgestiegen, über den Boulevard de la Liberation zurück gelaufen Richtung Vieux Port, Großstadtgewühl, Geschäfte, die es schon ewig zu geben scheint, auf der Canebière dann nur noch Verkommenheit, entnervtes, hoffnungsloses Chaos. Mit dem Bus im Verkehr steckengeblieben, dann wurde es dunkel. Mittwoch. Frage, ob ich ein Doppelzimmer haben kann, die Doppelzimmer liegen auf der anderen Seite des Ganges und öffnen sich zum Meer. Sie können es mir erst in einer halben Stunde sagen. Ich würde gern mehr Zeit auf dem Zimmer verbringen, und es wäre doch schön, das Meer zu sehen, es zumindest zu erahnen, denn heute sieht man es nicht, kein Horizont mehr. Bräuchte ein paar Stimmen, oder Begegnungen, Situationen, nicht nur Straßen, Häuser, Gesichter. Gestern Abend Imre Kertesz gelesen, der dann unerwartet in Avignon und Cannes war, liebliche Kitschwelt, was hätte er über Marseille geschrieben? Idiotisch, dass mir heute, was ich sehe, wirklicher erscheint, als die blauweiße Pracht unter der Sonne. Zimmer gewechselt. Jetzt ist es groß, mit Klo und Küche, die Einbauten sind alle original, die Möbel nicht, schließlich ist die Zeit nicht stehen geblieben. Das andere Zimmer kommt mir jetzt noch kleiner vor, aber diese 37Euro50 waren überhaupt erst Rechtfertigung für diese Reise, schließlich habe ich das, was ich kein Geld nenne, was nach vier Tagen doch relativ geworden ist. Im Supermarkt in la Valentine lässt mich ein älterer Mann vor, weil ich nur Mineralwasser und Schokolade in der Hand habe, er fragt, ob ich Photos mache, weil er die Videokamera sieht, ich sage ja, und sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass er mit einer ausführlicheren Antwort gerechnet hat. Er bedauert, dass die Sonne nicht scheint, und ich sage, C’est pas grave, das habe ich hier schon in den unterschiedlichsten Situationen gesagt, und er zeigt mir, was er alles gekauft hat, verschiedene Sorten Fleisch, unter anderem Hackfleisch. Eigentlich würde ich sagen: Sie kochen, aber mir fällt nur so was ein wie faire la cuisine, und ich weiß nicht, ob es richtig ist, also lächle ich, dann kann ich bezahlen, verabschiede mich und wünsche einen schönen Tag. Wenig später, an einer Bushaltestelle, wo ich vielleicht zwanzig Minuten warte, ohne mir ganz sicher zu sein, ob der betreffende Bus, der mich nach La Rose zur Metro bringen soll, überhaupt kommt, aber es ist immer auch ein wenig egal, weil es ja eine ganz willkürliche Entscheidung ist, jetzt zum Beispiel nach La Rose fahren zu wollen, sehe ich den Bus dann plötzlich, und springe auf, meiner winkenden Hand hinterher, der Bus hält also und der Busfahrer fragt, ob ich aufgewacht sei, vielleicht kann man es aufwachen nennen, ich hatte mich fast schon vergessen auf dieser Bank unter dem Dach der Bushaltestelle im Nieselregen, am Rande eines Centre Commercial, das auf ein anderes Centre Commercial gefolgt war, und auf das noch weitere folgten auf dem Weg nach La Rose. Dazwischen umzäuntes Brachland, verlassene Baustellen, Autobahnzubringer, kleine, schmucklose Villen mit schmalen Gärten drum herum und Wohnblöcke, die meisten aus den siebziger Jahren, und immer wieder eine Schule, Ecole Maternelle, oder ein Lycee, und neben dem Eingang immer das gleiche weiße Schild, auf dem in verwaschener roter und blauer Schreibschrift liberté, egalité, fraternité...., Frankreich. Hinter den Mauern die Stimmen der Kinder. Noch immer ist es grau, und immer wenn es grau ist, ist nichts unvorstellbarer als Sonnenschein, auf dem Weg, der zum Eingang der Unité führt ein Mann mit Schirm und Hund, hier haben sie alle Schirme und die meisten haben Hunde, auch vor den Hotelzimmertüren warten Hunde, meistens Mischlinge, und sieht man in die Höfe der Dörfer sind da Hunde, manchmal auch Katzen, aber immer Hunde. Jürgen sagt, das weiß man, aber mir fällt es auf, wie mir alles mögliche auffällt, weil ich allein bin und irgendwie mit dem Denken von vorn anfange auf diesen labyrinthartigen Wegen durch die Stadt. In der katholischen Kirche von St.Loup, die neben der Bar liegt, in der es keine Milch für meinen Grand Crème mehr gab, c’est pas grave, saß ein Junge, vielleicht sechzehn, er trug einen gestreiften Pullover und hatte den Kopf mit den kurzgeschorenen, dunklen Haaren in beide Hände gelegt. Später ist er lautlos gegangen, während ich fotografiert habe, den Altar, Maria mit dem Kinde, die Nischen in gelbem Licht, und das hellgraue Tageslicht, das sacht von oben fiel. Und der Film? Vorgestern rief Flori an, als ich gerade vor einem Imbiß am Hafen saß, er ist krank und fragte ein wenig matt, ob die Stadt schön sei. Ob wir hier drehen, fragte er nicht. Den Stecker vom Powerbook in die Steckdose gesteckt, Funken. Regardez s’il vous plait sage ich zu dem freundlichen Herrn, der in Jeans und Schürze Frühstück bereitet und an der Rezeption steht, er hat mir eine neue Dose gebracht, die keine Funken schlägt. Hab endlich die Heizung entdeckt: In der Stufe, die zum Balkon führt. Hier gibt es auch ein rätselhaften Regler in der Wand, ein kleiner brauner Propeller in einer kreisrunden Öffnung, der warme Luft verströmt. Jedenfalls friere ich nicht mehr. Glücklich, will diesen herrlichen Raum gar nicht mehr verlassen. Dann doch gegangen, weil ich ins Kino wollte, Place Castellane, es war ein sehr schönes, nicht großes Kino, außer Mischka laufen der Film von Mathieu Almaric und Mulholland Drive, weder Süßigkeiten noch Getränke und mit meinem Sandwich, was die Hauptmahlzeit des Tages sein sollte, werde ich wieder auf die Straße verwiesen. Die Bilder von Mischka sahen grausam aus, ich bin trotzdem reingegangen, weil so viele Leute da waren, junge, alte, und das am hellichten Nachmittag, war aber nach zehn Minuten wieder draußen, schreckliche Kamera, unerträgliches Licht, nervtötendes Geschrei. Also wieder die Straßen entlang, Rue de Rome und Rue Paradis, die ich schon kenne, wie anders bin ich am ersten Tag die Rue de Rome entlang gegangen, jetzt war es ein gleichmütiger, leichter Spaziergang, schließlich bergauf Richtung Notre Dame de la Garde, eigentlich wegen der Kirche, deren goldene Maria Mutter Gottes schon von weitem strahlt, und nicht wegen des Blickes auf Marseille, mit dem ich hätte rechnen müssen, der mich aber für einen Moment ganz fassungslos machte, so ausgebreitet lag die Stadt am Meer, ganz Schönheit. Im Innern der Kirche war hässlicher Prunk und Mief. Ein Viertelstunde steil bergab und man ist wieder am Hafen. Zeitung gekauft, Photos abgeholt, zurück ins Hotel, in mein Zimmer, das mehr eine Wohnung ist, in der man sein kann, keine Zelle mehr, auch keine Kälte, wie gesagt. Würde mich gerne ein wenig unterhalten und hab für einen Moment überlegt, ob ich neben der Rezeption einen Kaffee trinke, wo ein paar Leute saßen, dann aber doch lieber Imre Kertesz , ich – ein anderer, zu Ende gelesen, den ich kaum verstehe, er schreibt wohl nicht für mich, aber ich kann ihn trotzdem lesen. Donnerstag. Sonne. Um sieben aufgewacht wie jeden Tag, heute zum ersten mal Frühstücksgedecke auf den Tischen und ein runder Tisch voll mit lauten Leuten, drei Frauen und zwei Männer, Ausflügler aus der Provinz rate ich, der dickliche Herr im gelben Hemd am Nebentisch sieht zu mir und verdreht die Augen, sie stören ihn, mich stören sie nicht und die ganze Zeit sehe ich zu, wie sie sich echauffieren, sich gegenseitig ins Wort fallen im zwanghaften Bedürfnis, sich kund zu tun und wichtig zu nehmen, und ich frage mich, was sie zum Schweigen bringen könnte, welches Ausmaß die Katastrophe haben müsste, die sie zwingen würde, inne zu halten, natürlich nur vorübergehend, bis sie wieder loslegen, als wäre jemand mit der Peitsche hinter ihnen her. An der Rezeption eine alte Dame, sehr fein und aufrecht, der Bademantel und die Pantoffeln können ihrer Würde nichts anhaben. Gehe auf mein Zimmer, sehe sie am Ende des Ganges mit kleinen Schritten nach Hause gehen. Die erste Szene gelesen, Sophie, Hanna und Ivan mittags in Hannas Wohnung, wo Sophies Blick, aus einer Verlegenheit heraus und aus Langeweile, denn diese ihr allzu bekannte Verlegenheit gegenüber Ivan langweilt sie inzwischen nicht weniger, als sie sie quält, auf die Zeitungsannonce fällt, tausche Wohnung, Marseille gegen Berlin. Hab mir wahrscheinlich zu viel vorgenommen für die Szene, Sophies unerwiderte Liebe zu Ivan, das Verhältnis Ivan-Hanna, die sich verspotten, weil sie nicht loskommen voneinander, dabei will ich nichts erklären, nur berichten, ‚das Geschehen trockenlegen, in dem man alle psychologische Begründung ... abfließen lässt’ , wie Benjamin schreibt, also sollen sie Sätze sagen wie unwillkürliche Bewegungen, Sätze, von denen sie selbst nichts wissen und deren Klang sie, sollten sie ihn überhaupt wahrnehmen, erstaunen würde, wie aber soll ich das schreiben, ohne selbst davon zu wissen, ich müsste mich schreiben lassen. Statt dessen weiter gelesen, die Straßen aus Myslowitz-Braunschweig-Marseille auf dem Stadtplan gesucht, Die Fahrt der Mascotte, Das Taschentuch, und weil ich auf dem Bett lag, versuchsweise die Augen geschlossen, was sofort zum Schlaf führte. Geträumt: Ich war in einem geräumigen, schönen Geschäft voller Kleider, und ich wollte Agnes ein Kleid und ein Paar Schuhe kaufen. Die Kleider hingen ganz durcheinander und übereinander an den Ständern und Agnes saß auf einer Art Barhocker neben einem dieser Ständer, ein Kleid, weit und geblümt, hatte sie sich schon anziehen lassen, und jetzt versuchte ich sie dazu zu bewegen, Schuhe anzuprobieren, hellblaue Mädchenschuhe aus weichem Leder mit einem Lochmuster, ich zeigte sie Jürgen, der da war, etwas entfernt von mir stimmte er mir zu, ja, er fand die Schuhe auch schön, was mich bestätigte in meinem Ansinnen, also fuhr ich fort, Agnes zu bitten, unter den verständnislosen Augen einer vorbeieilenden Verkäuferin. Da hatte sich Agnes in den Kleidern versteckt, die neben ihr hingen, wie hinter einem Vorhang, und ich sollte sie suchen, aber sie war nicht zu finden. Statt dessen war da eine getigerte, schöne Katze mit dickem Fell, und ich rief die Katze: Agnes, Agnes, aber sie sprang davon, durch das Geschäft und wollte sich nicht fangen lassen. Immer wieder rief ich den Namen, und plötzlich waren da viele Katzen, alle getigert, mit den unterschiedlichsten Auffälligkeiten, und ich wusste nicht mehr, welche davon Agnes war, schon verzweifelt stellte ich fest, daß ich mir die Besonderheiten ihres Fells nicht gemerkt hatte, daß ich es nicht beschreiben konnte, obwohl ich es doch so gut zu kennen glaubte, aber ich fand sie nicht heraus. Ich rief weiter: Agnes, Agnes, und auf einmal merkte ich mit größter Verwunderung, daß ich einer Katze den Namen Agnes gegeben hatte, den Namen meiner Tochter. Da war der Traum zu Ende. Ich könnte noch länger schlafen an diesem schönen Ort, wenn ich mich nicht schämen würde dafür. Mit einem Blechlöffel aus der Originaleinbauküche von Corbusier Maronenmus aus dem Petit Casino gegessen.
Erneut vergeblicher Versuch, ins Kino zu gehen, der Film von Almaric fing so spät an, daß ich meine Fotos nicht mehr hätte abholen können, also langsam die Rue Paradis entlang geschlendert, die, und Schritt für Schritt wurde es mir klarer, ihrem Namen in Bezug auf meine in Marseille bisher erfolgreiche verdrängte Schwachstelle alle Ehre erweist: Prada, Gucci, Miu Miu, Jil Sander, Dries von Noten, Ann Demeulemester, im ersten Laden war die Verkäuferin unerträglich, im nächsten, und da waren sie dann ohne Ausnahme versammelt, samt einem schwarzen Ständer für fünfzig Prozent, aber wie immer alles zu groß oder mit goldenen Schnallen, rechnete mir die Verkäuferin bei einer Hose von Miu Miu, die perfekt war, den Europreis in Franc um, keine Ahnung, mit welcher Nationalität sie mich bedachte, oder ob ihr das Prinzip der Währungseinheit völlig fremd war. Als ich immer noch zögerte, machte sie mir das Angebot, in Raten zu zahlen. Ich fragte, um wieviel Uhr sie schließen, das ist immer mein Abschiedssatz, um den netten Verkäuferinnen und mir nicht die letzte Hoffnung zu nehmen, und dann bin ich ohne Hose gegangen, beziehungsweise in meinen alten APC Kordhosen, es kommen auch wieder andere Zeiten, denke ich mir dann zum Trost, aber eigentlich glaube ich nicht daran. Photos geholt, Zeitungen gekauft, mit der Metro zurück. Unten im Foyer hängen Zettel mit Kleinanzeigen, hauptsächlich werden Wohnungen gesucht, mit genauer Nennung des Wohnungstyps, und auf jeden Zettel ist die Figur von Corbusier, der Mann, der Mensch, gedruckt. Im Fahrstuhl fahre ich mit sympathischen Leuten, hauptsächlich Müttern und Kindern, die ich ansprechen könnte, aber ich kann nicht einfach Leute ansprechen, dazu fehlen mir die Worte, und das hat mit meinem französisch überhaupt nichts zu tun. Dabei wüsste ich gerne, wie sie leben, was sie tun, aber vielleicht will ich es doch nicht wirklich wissen, vielleicht will ich ihnen nur sagen, daß sie mir gefallen, und daß ich mir ihr Leben vorstelle, aber wozu soll ich ihnen das sagen. Also wie immer nur Bonjour und dann Bonsoir, und dann durch die schönste Wohnungstür, rot gestrichen mit vertikalem, langgezogenem Holzgriff und von oben leuchtet die kleine Ausführung der berühmten Kommalampe, ebenfalls rot gestrichen. Freitag. Place de Lenche erster Café, es ist noch früh, durch eine enge Straße auf eine Baustelle zu, inmitten der Baustelle die Kathedrale, Öffnung erst um zehn. Will eigentlich warten, überquere zögernd die Straße zum Hafen, entferne mich immer weiter, Avenue R. Schuman, Place de la Joliette, da hab ich schon nicht mehr vor, zurückzugehen, Boulevard de Dunkerque, wo am Straßenrand ein Polizeiwagen und zwei andere Autos stehen und heftig diskutiert wird. Fünf Polizisten, drei Männer und zwei junge Frauen, und mehrere Männer, deren Personalien aufgenommen werden. Es wird wild gestikuliert und sich angeschrieen, einer der Männer soll seinen Wagen wegfahren, er steigt ein, aber anstatt loszufahren lehnt er den ganzen Oberkörper aus dem Fenster und haut mehrfach die eine Faust in die andere Hand, dabei hört er nicht auf zu schreien. Ich gehe weiter, weil die Tür des Autos, an dem ich lehne, plötzlich aufgeht, drin telefoniert einer, der aussieht wie Harun Farocki. Blick auf die Speicher, dahinter verborgen die Schiffe auf dem Meer. Avenue Roger Salengro, einfache, verwahrloste Häuser, gleichmäßig aufgereiht wie die Perlen einer Kette, orientalische Bars, Läden mit Schuhen und Wolldecken in Plastiksäcken, helles Sonnenlicht, in dem die Straße merkwürdig rein und gläsern wirkt, Place Bougainville, ein Araber mit seinem Kind unter Bäumen vor einer Bar, darüber hinweg führt die Autobahn, beschirmt den Platz, anstatt ihn zu zerstören, das Kind zeigt auf mich wegen der Kamera, der Mann lacht. Rue de Lyon, die lange Rue de Lyon ist der Pulvergang, den Marseille in die Landschaft grub....lese ich bei Walter Benjamin, 1930 veröffentlicht, sehe nichts, was ich mir vorgestellt habe, nicht in den kleinen Läden, nicht auf dem Platz vor der Kirche, nicht in den Frauen, auch nicht in all dem kaputten Gemäuer und der Armut, nur in den Augen der jungen Männer steht der Haß auf das alles. Mit dem Bus zurück, Metro zum alten Hafen, mir gegenüber einer, der nicht wagt, mich anzusehen, während mein Blick auf seine Hände fällt, deren Haut ganz weiß ist, wie vertrocknet, und die ganze Zeit rühren sie sich nicht. Ein zweites Mal Café des Arts, Ça va, fragt man mich und ob ich essen will, ja, und ob nicht Rotwein besser wäre als Wasser, das sie mir in einer bemalten Limonadenflasche auf den Tisch stellen. Durch das siebte Arrondissement, plötzlich Stille, träger Mittag, über den Place Saint Eugène zu einem winzigen Hafen am Ende der Rue du Vallon, Blick auf Chateau d’If, und dann vom Bus aus die ersten, die im Badeanzug am Strand liegen. Samstag. Nach bruchstückhaften Träumen erwacht, unter anderem stand ich mit vielen anderen, all die bekannten Gesichter aus Berlin, auf einer Treppe, die steil und endlos nach oben führte, es war so hell, als ob es draußen wäre, gleichzeitig war es drinnen, denn wir wollten alle in ein Kino, am Fuß der Treppe lag eine lange Liste mit Filmen, die wir sehen wollten, da kam Christian und verbot mir, seinen Film, der anscheinend auch auf der Liste stand, zu sehen, ich hab ihn gefragt warum, aber er wiederholte nur sein Verbot, was hat das nun zu bedeuten? Werde ihn fragen. Gearbeitet, um drei in einem völlig überfüllten Bus Richtung Canebière, bei der Prefecture mussten wir alle aussteigen, Messieurs, une demonstration, sagt der Busfahrer, der mich eine Stunde später auf der Rue Paradis, wo ich auf der Straße laufe, weil auf dem Bürgersteig kein Platz ist, fast umfährt. La Culture Tibetaine meurt stand auf den Transparenten, mit viel Schwung skandierte Parolen von vielleicht Hundert Begeisterten. Noch mal in den Buchladen der Schwestern Lafitte, um mir den Stadtplan von Marseille in Buchform zu kaufen, war ausverkauft, und ein kleines Livre animé von Anton Krings für die Kinder, gab es nicht, und damit nicht genug behauptete die Buchhändlerin, so was hätte es nie gegeben, ich würde es mit den Mimmi Büchern verwechseln, was mich sehr verärgert hat, weil ich Louis vor fünf Jahren eins davon in Paris gekauft habe, aber diese Buchhandlung hätte ich ja schon beim letzten Mal links liegen lassen sollen. Dann wirklich noch ins Kino, Le Stade de Wimbledon, Jeanne Balibar in einem herrlich karierten Mantel über anders karierten Rockzipfeln im Zug auf dem Weg nach Triest, da geht die Lok kaputt und quer durch die Landschaft läuft sie einem Engländer in Camouflagehosen und Militärkäppi hinterher, hinter Sträuchern in der Tiefe unerwartet das Meer, dann ein Bahnhof, dem sie sich über die Gleise nähern. Ganz befreit und unangestrengt die Photografie, genauso die Erzählung, sie sucht einen Schriftsteller, der nie geschrieben hat, und ganz am Ende, da muß ein Jahr vergangen sein, steht sie im leeren Stade de Wimbledon und sieht hinunter auf das grüne Rechteck, und mit ihrem Blick wird der Ort zum denkbar schönsten, denn die Suche hat ihn zum Ziel gemacht. Und nie mehr will man ihn anders sehen. Sonntag. Ein klarer Tag, es wird warm werden. Ich muß gehen.




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Dienstag, 26. Februar 2002

Offenes Geheimnis


Zu den Filmen von Maurice Pialat von Bert Rebhandl

Blue transcends the solemn geography of human limits (Derek Jarman)

  1. Warten Als Pialats Film Le garcu in Frankreich der Öffentlichkeit präsentiert wurde, brachten die Cahiers du Cinéma zu einem Interview ein Photo, das den Regisseur und seinen Hauptdarsteller Gérard Depardieu auf einer Stiege sitzend zeigt, den Schauspieler gedankenverloren ins Leere starrend, während eine Hand am Revers der Jacke herumnestelt. Zu seinen Füßen sitzt Pialat, er blickt mit verschlossener Miene ebenso eher nach innen als auf einen Gegenstand. Es ist eine Haltung, die von Erschöpfung zeugt, mehr noch von zweifelndem Innehalten, und Regisseur und Schauspieler sind einander fremd, vereint nur in ihrem Blick auf ein imaginäres Sujet, von dem wir nichts wissen, das wir allenfalls ahnen können: Es ist vielleicht der Film, wie sie ihn sich vorstellen. "The readyness is all", heißt es in Hamlet, und wie sehr gilt dieser Satz erst für Pialat, der beim Filmemachen nicht von Improvisation sprechen will, sondern von "Spontaneität", die oft das Wichtigste in einem Moment zu fassen scheint, da es gerade im Begriff ist, sich wieder zu verbergen. Die Liebesszenen mit Sandrine Bonnaire in A nos amours beginnen meist gerade in dem Moment, da die Lust ausklingt, die Erschöpfung aber noch anhält. Kein anderer Regisseur in Frankreich macht die Mühsal dessen so sichtbar, was Foucault einmal "parrhésia" genannt hat, "Freimut". Bei Pialat ist sie eine Errungenschaft des erzählenden Kinos überhaupt, abgetrotzt dem Widerstand der Schauspieler gegen ihre Rollen. (Nicht Regieanweisungen seien wichtig, sagt Pialat, sondern Sympathie oder Antipathie.) Freimut verbirgt sich fast in einer Montage der Ellipsen. Psychologische Zeit, die immer Kontinuitäten konstruiert, löst sich auf in privilegierte Augenblicke der Wahrheit – und häufiger in solche des Ennui. Die Erzählung der Stiefeltern von ihrer späten Liebe in L’enfance nue, die dem Adoptivsohn Francois erstmals Vertrauen einflößt (was Pialat damals noch mit einer Großaufnahme des Jungen bedachte, einem Mittel, das er heute kaum mehr so deutlich positiv konnotiert einsetzen würde); oder der Augenblick, da den Eltern in Passe ton bac d’abord ihre Schulabschlußprüfung einfällt (die sie mit einer Arbeit über Colette überraschend gut bestanden haben) und darüber ihre Liebe zueinander. Das Warten auf Augenblicke wie diesen ist die Arbeit des Kinos von Pialat.

  2. Genealogie Zwei Seiten weiter in Cahiers du Cinéma findet sich ein zweites dieser rätselhaft verdichteten Photos, die zu Le garcu wie ein Metatext wirken. Im Vordergrund auf einem Sofa spielt Pialat herzlich mit dem kleinen Antoine, seinem Sohn, der vielleicht vier Jahre alt ist. Antoine ist einer der Hauptdarsteller in Le garcu. Im Hintergrund sitzt Depardieu, im Film der Vater des Kleinen, auf einem Sessel, die Augen geschlossen, mit der rechten Hand streicht er versonnen über das Kinn. Es ist ein kontemplativer Moment, in dem drei Generationen zusammenkommen, und die Genealogie ist eine unreine, ausgespannt zwischen der Wirklichkeit des Films und der Wirklichkeit, die das Photo dokumentiert: Der Vater und der Sohn erschaffen sich in Le garcu Gérard Depardieu als einen Ersatzvater, wie um die unmittelbare Abfolge der Generationen aufzubrechen und ihrer Konflikthaftigkeit auszuweichen. In A nos amours spielt Pialat selbst einen Vater, und Sandrine Bonnaire die Tochter. Während eines in auffälligen Großaufnahmen gefilmten Gesprächs zwischen den beiden könnte man einen Moment lang auch meinen, er muß die Familie verlassen, weil er seiner Tochter zu nahe ist. In Le garcu bricht der Vater einmal mit Macht in das Leben des kleinen Sohns ein, als Depardieu mit einem lächerlich großen Spielzeug mitten in der Nacht in die Wohnung poltert, aus der er ausgezogen ist. Umgekehrt begreift er am Sterbebett seines Vaters seine eigene, vergessene Herkunft. Pialat beobachtet häufig jugendliche Helden vor der Generationenablöse, bei ziellosem und nichtsnutzigem Zeitvertreib. Dieses Verhalten wirkt, als gelte es für die Protagonisten, Zeit zu überbrücken, bis sich die Gesellschaft ihnen nicht mehr versagt, sie nicht mehr als Versager zurückweist. Zugleich scheinen sie zu ahnen, was ihnen die Väter und die Institutionen bringen werden: Unterwerfung und Disziplin. Pialat hat als Filmemacher übrigens keine Väter und keine Söhne. Allenfalls eine Tochter, die Schauspielerin Sandrine Bonnaire, die er für A nos amours entdeckt hat, und die mittlerweile den Weg der Disziplin sehr weit gegangen ist. Aber fügen sich die Filme Pialats seiner väterlichen Disziplin?

Macht Viele seiner Filme handeln von den Institutionen, durch die die Gesellschaft ihre Macht über die Individuen ausübt: das Sozialamt (L’enfance nue), die Schule (Passe ton bac d’abord), die Arbeit (Loulou), die Polizei (Police), die Kirche (Sous le soleil de Satan), der Kunstmarkt und die Medizin (Van Gogh), und in all diesen Filmen immer wieder die Ehe/Familie. Das Dilemma ist für die Protagonisten kaum lösbar: Wenn man erwachsen werden will, kann man sich der Bewegung in diese Institutionen hinein nicht entziehen, es sei denn um den Preis der Delinquenz. Umgekehrt deformiert die Institution ihre Träger, und es geht das verloren, wonach die Filme von Pialat suchen – Spontaneität, oder eben: Freimut. Es scheint, als wollte Pialat verschiedene Optionen in diesem Konflikt an dem Schauspieler Gérard Depardieu ausprobieren. Der inhaltsleere Vitalismus des Kleinkriminellen Loulou und der Professionalismus in Police verhalten sich zu einander wie zwei Aspekte einer Persönlichkeit, die auch in der Überwindung dieser Spaltung nicht "zu sich" finden würde. Der priesterliche Gehorsam als radikale Unterwerfung unter ein Prinzip stellt einen paradoxen Ausweg aus dieser hoffnungslosen Freiheit dar. Die möglichen Gegenentwürfe verbindet Pialat häufig mit klassenspezifischen Zeichen: kleinbürgerliche, eher noch proletarische Milieus lassen bei ihren Festen (Hochzeiten!) erahnen, was vielleicht möglich wäre, trotz Fron und Staublunge, trotz Arbeitslosigkeit und unwirtlicher Behausungen.

Psychologie Wenn die Genealogie unrein wird, wächst der Raum der Freiheit. Zweimal reagieren die Stiefeltern in L’enfance nue ausdrücklich nicht "wie Gendarmen" (so die Formulierung der Stiefmutter), zweimal unterbleiben Sanktionen, die man hätte erwarten können. Es ist dies nicht die geringfügigste Unterbrechung eines Systems von Ursache und Wirkung, von Überwachen und Strafen. Kein Naturalismus setzt sich durch, kein Reflex wird ausgelöst, sondern eine unvermutete Geste ermöglicht einen Ausweg hin zu so etwas wie einem Humanismus, wie Pialat ihn meinen könnte, nämlich einer Natürlichkeit, einer Unverbildetheit, Unbehauenheit der Person, einer Kultur ohne jene spezifisch bürgerliche Kultiviertheit, die bereits wieder ein Korsett bedeutet und für die der kunstsinnige Dr. Gachet in Van Gogh die markanteste Verkörperung ist. Pialat ist kein Verfechter der Psychologie. Aber er läßt, anders als Godard oder Bresson, die Arbeit der erzählerischen Dekonstruktion des Identitätskinos gleichsam sich selbst erledigen. Geläufige Verkettungen funktionieren bei ihm nicht einmal mehr als deren Umkehrungen oder Entstellungen. Eher könnte man meinen, er vertraue die Filme seinen Darstellern an, deren Physis, nicht Psychologie, sie prägt.

Ankommen Am Ende von Van Gogh spricht die junge Marguerite dem toten Maler einen Satz nach. "Er war mein Freund." Jetzt, da er abwesend ist, muß er dieses emphatische Bekenntnis zulassen, das zugleich eine Aneignung ist. Zuvor hatte er es durch sein Auftreten abgewehrt, widersprüchlich, nicht ausrechenbar, zurückgezogen hinter seine immerwährend in einer Art Anspannung halb zugekniffenen Augenlider. Es ist nicht ganz ohne Interesse, daß früh in diesem Film eine Untersuchung an Van Gogh vorgenommen wird. Dr. Gachet, Bürger, Arzt, Kunstsammler, in den Augen seiner Tochter ein "Konformist", horcht in den Patienten hinein; er kann nicht viel mit ihm anfangen, weil er keine Instrumente dabei hat. Dann überprüft er noch den Reflex, er funktioniert – eine leere Funktion. Der Körper gibt sein Geheimnis, die Seele, nicht preis. Aber im Kopf des Malers sitzt der Schmerz. Es ist die Tragik des Vincent van Gogh, wie Jacques Dutronc in spielt, daß ihm der Körper ein Gefängnis ist, aus dem er nicht freikommt, außer im Tod und in seiner Kunst. Zugleich aber erzählt der Film eine Geschichte von einem anderen toten Körper gleich zweimal, es ist die Leiche eine gefallenen Revolutionärs im Paris des Jahres 1870. Dem klinischen Blick des Dr. Gachet bricht in diesem Moment nur ein medizinisches Weltbild zusammen, für die Mutter des Toten hingegen eine Welt. Pialats Kino arbeitet dagegen an, daß der Körper erst im Tod erkannt wird. Er mutet dem Körper eine Wahrheitsarbeit zu und verschweigt nicht, daß er viel häufiger zum Ort der Züchtigung und des entfremdeten Begehrens wird. Er versucht, die Schauspieler, ob Laien oder Stars, aus der Erstarrung zu holen. Was im Leben möglich ist und was nicht, das ist bei Pialat ein offenes Geheimnis, offen wie eine Wunde und das Meer. (1996)




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Samstag, 23. Februar 2002

Liebling, ich habe das Kino geschrumpft


Krieg und Kino und Kritik.

Von Michael Girke

Im Jahr 2000 lieferte Hollywood "U-571", einen Weltkrieg 2-Film, der die Erbeutung der Maschine, mit der die Nazis ihren Funkverkehr chiffrierten Amerikanern zuschrieb. Jetzt gibt es "Enigma", einen europäischen Film der historische Korrektur betreibt - er spielt tatsächlich in Bletchley Park, jenem britischen Labor, in dem Alan Turing den Apparat entwickelte, der die Enigma-Codes entschlüsselte. Gute Gründe Geschichtsfilme in amerikanischen, europäischen und anderen Kinematographien zu vergleichen, ihre Möglichkeiten und Probleme zu diskutieren. Eine Debatte findet nicht statt. "Unabhängig davon ist hier jedoch großes weit überdurchschnittliches Kino entstanden: spannend, intelligent, reich an emotionellen und an historisch grundierten Tönen und mit einem eigenen europäischen Sound: Es wird spannend zu sehen sein, wie die USA auf diese Erzählweise einer gemeinsam erlebten Weltgeschichte an der Kinokasse reagieren" freuen sich hiesige Filmkritiker über "Enigma". Großes Kino mit Stars und Glamour kann Europa jetzt auch. Filme müssen nur groß genug sein, dann geht viel Geschichte rein. "Dem Geschichtsbild der römischen Historiker, wie der Logik des Spielfilms entspricht es dabei, daß sich dieser Widerstand in einzelnen Personen kristallisiert, die zu Gegenspielern des Imperators und seiner Exekutoren werden. Der Film kann und muß auch hier stärker abkürzen, doch die Dialektik der Herrschaftslogik ist beinahe die gleiche wie in Rom." Das schreibt Uwe Walter im FAZ Feuilleton zur Frage, ob "Star Wars: Episode 1" als Geschichtsfilm taugt. Weil römische Historiker geschichtliche Ereignisse an Individuen fest gemacht, Geschichte personalisiert haben, kannte die Antike schon Spielfilmlogik. Wenn das so ist, kann man Spielfilme als Autoritäten für Geschichte und Erinnerungsarbeit ansehen. In "Star Wars" sieht man Rom, auf Geschichte im Kino reagiert nicht der Verstand, sondern die Kinokasse. Wie kommen solche Gedanken in die Köpfe?

Zeitgleich mit dem Start von "Enigma" räumen Feuilletons und Filmzeitschriften ihre besten Plätze frei für Einschätzungen und Gespräche zur Frage wie es dem deutschen Film geht: "Heute gibt es keinen gesellschaftlichen Aufbruch, keine dezidierte Suche nach Bildern vom eigenen Land und seiner Geschichte und die Berufung aufs Autorenkino wird eher gemieden" schreibt beispielsweise Rainer Gansera in Film epd. Was dieser Satz überspielt: Der schlechte Ruf des Autorenfilms ist nicht gegeben, er ist gemacht. Mit Hilfe der Filmkritik. Die zentralen Texte der deutschen Filmkritik sind Wegbeschreibungen. Nicht Analyse einzelner Filme oder Bilder, sondern Blick aufs große Ganze. Wo wollen wir hin, was haben wir hinter uns. Wege zum Ruhm, Wege ins Abseits. Mit Filmkritikern als Reiseleitern. "Daher sind diejenigen, die das Kino zur Kunst machen wollen auf dem Holzweg: ein Kunstkino, wie es programmatisch von Regisseuren wie Godard oder Greenaway vertreten wird, das auch bei deutschen Autorenfilmern sein Unwesen treibt, von den revolutionären Blockflötenfilmen eines Jean Marie Straub gar nicht zu reden" (Kurt Scheel, Herausgeber des Merkur). "Dabei ist es gerade jetzt höchste Zeit sich endlich von den Illusionen der siebziger Jahre zu verabschieden" (Andreas Kilb). Was ist eine filmkritische Jugendsünde? "Wir haben das Interview trotzdem gemacht, und noch heute schießt mir die Schamesröte ins Gesicht, wenn ich an den kompletten akademischen Blödsinn denke, den ich Jim Hoberman damals gefragt habe" (Mariam Niroumand, Der Alltag). Autorenfilm und Akademie (was daraus zum Kino kommt), das sind in Deutschland Namen für das Falsche am Film.

Was ist Ziel des Kinos? "FAZ: Wann haben sie das letzte mal im Kino feuchte Augen bekommen? Staatsminister für Kultur: Bei "Weil es Dich gibt" muß ich gestehen, hat mich eine ziemlich kitschige Szene doch ziemlich berührt. FAZ: Was hat sie zuletzt gerührt? Neuer Berlinale-Leiter: Ich weiß das präzise, weil es erst eineinhalb Wochen her ist. Im Berliner Delphi-Kino wurde einer meiner Lieblingsfilme gespielt, nämlich "Zugvögel – Einmal nach Inari". Und siehe da, es passierte, und zwar nicht einmal, sondern mehrmals, daß mir die Tränen in die Augen stiegen, bei diesem Gespräch zwischen Joachim Krol und der Finnin, ob der schnellste oder der schönste Weg der Beste ist" (FAZ).Und was hätte Brecht dazu gesagt? "In einer Drehpause im Hotelzimmer blätterte ich im Telefonbuch nach den Namen aus vergangenen Zeiten, die ich aus der Fachliteratur kannte. Und wirklich sie lebten noch fast alle in Augsburg, die Freunde und Schulkameraden des jungen Brecht. Man konnte sie besuchen und ihnen die uns bewegenden Fragen stellen, die so in den Sekundärliteratur Bibliotheken nicht gestellt und beantwortet worden waren. Hatte er Angst? War er zärtlich? Haben sie ihn mal weinen sehen?" (Heinrich Breloer, Unterwegs zu den Manns).Emotionen sind hierzulande nicht Ausdruck persönlicher Befindlichkeiten, sondern Qualitätskriterien. Kriterien für Geschichtlichkeit, die der Fachliteratur (akademisch) abgehen. "Nicht daß das Melodrama vom Leben und Sterben der Familie Weiß in Deutschland so viele Zuschauer hatte wie zuvor in Amerika, war das eigentliche Ereignis von "Holocaust" – sondern, daß es so viele Münder zum Sprechen, so viele Fragen zum Vorschein, so viele Augen zum Weinen brachte" (Andreas Kilb). Wetten, sie haben noch nie eine deutsche Filmkritik gelesen, die Gedanken lobt. Die davon ausgeht, Menschen, die Filme machen oder sehen hätten einen. Sind Bilder Emotionen? Ermöglichen Filme keine Gedankengänge mehr? "Wie komme ich in das Bild hinein, in den Roman, in den Film, wie mache ich aus einer Geschichte meine Geschichte? Der ursprüngliche Weg ist der über Identifikation mit dem Helden, und ein Grund, warum der Film in seinem Jahrhundert die ganze Welt erobert liegt eben darin, daß er bis heute diesen Königsweg geht(...) Aber um in einen Film hineinzukommen, muß man sich in ihm wiederfinden: das bin ja ich!" (Kurt Scheel). Ein klassischer Königsweg: Was ich gut finde, müssen alle so sehen. Die totale Sentimentalisierung des hiesigen Kinodiskurses verwandelt das Kino gleichsam zur Natur, legitimiert und erfordert es blind zu werden für das Technische, Gearbeitete, Gemachte des Kinos. Zugleich ist hinter all dem Beschwören von unmittelbaren, großen Gefühlen ein spießiger Akt von Bürokratie sichtbar: Im Kino wird Ordnung gemacht. Die Möglichkeiten des Films werden geregelt, in dem man sie auseinander dividiert. Zum Dokumentarischen oder Fiktiven oder Experimentellen erklärt. Eine von Kritikern und anderen Ordnungsfanatikern zu verwaltende Hierarchie schafft. Mit Spielfilmen (und ihren Fans) in der Königsposition. Seitdem die ganze Filmgeschichte einen Typen verfilmt, seitdem dessen Gefühl Filmkritiken schreibt, begeben sich hiesige Texte beim Versuch die emotionellen und die historisch grundierten Töne des Spielfilms zu sortieren in den fröhlichen Unterscheidungsirrsinn: "Und trotz aller Veränderungen, trotz manchem dazu Erfundenem, hat man immer das Gefühl: Ja, so muß es gewesen sein" (Detlef Kühn über "Schloß Gripsholm"). "23 ist ein Thriller, aber er verzichtet auf die Tricks und Formeln des Genres. (...)23 ist schon deshalb ein großartiger Film, weil er der erste authentische unter die Haut gehende Film über die 80er Jahre in Deutschland ist." (Rainer Gansera). "Da ist ein Film, da ist ein Autor, der sich ein Thema des Zeitgeschehens genommen und daraus einen Kinofilm gemacht hat. Man kann hier nicht anfangen zu diskutieren – das stimmt, das stimmt nicht – das wäre absurd, lächerlich und unfruchtbar. (...) Es gibt keine rationale Erklärung für die RAF, es gibt nur eine irrationale. Die fängt der Film ein. Er ist auch sehr mutig, denn der Baader ist so unheimlich unsympathisch. Seine Frauenfeindlichkeit ist unerträglich. Und das stimmt, das ist authentisch" (Daniel Cohn-Bendit über "Baader").

Es geht nicht darum Emotionen oder Geschichtsfilme unmöglich zu machen, es geht darum Filme zu diskutieren. Kennt man ein bißchen Filmgeschichte, kann man sehen, daß Europas "Enigma" und Hollywoods "U– 571" Thriller des Modells Hitchcock sind. Fast alle Hitchcock Filme drehen sich um einen Mac Guffin. So nennt Hitchcock eine Sache, die ungeheuer bedeutend erscheint (in "Notorius" ist es der Rohstoff für eine Atombombe), die ihn als solche aber überhaupt nicht interessiert. Sie dient als Motiv, das Bewegung und Spannung in den Film bringt, die Handlung, die den Thriller ausmacht. Nichts anderes als Mac Guffins sind die Enigma und Alan Turings Entschlüsselungsmaschine in beiden Filmen. Wir sehen, wie sich verschiedene Parteien um die Maschinen reißen, wir fiebern mit und vergessen die Maschinen darüber. Von deren Wirkung wir auch nichts erfahren. Damit wird in solchen Spielfilmen die Geschichte selber zum Mac Guffin. Das heißt: Die Wirklichkeit des Krieges und das Wissen um die Kriege und Geschichte verändernde Wirkung von Technologie. Maschinen sind für Kriegs- und Geschichtsfilme und ihre Beobachter nicht von Bedeutung, für Krieg und Frieden aber gerade: In Wirklichkeit waren es nicht große Strategen und Soldaten, die den Weltkrieg 2 entschieden, sondern unter strenger Geheimhaltung entwickelte Technologien und Maschinen. Die im 2. Weltkrieg eingeleitete Eskalation von Technologien und Antitechnologien, hochtechnologischen Waffen und Antiwaffen hat auch in angeblichen Friedenszeiten nie aufgehört. Sie bestimmt Bedingungen, Verläufe und Ausgänge gegenwärtiger und zukünftiger Kriege. Die Position des Menschen in dieser automatisierten, selbststeuernden Geschichte ist denkbar klein, denkbar austauschbar. Für Hochtechnologien sind Menschen allenfalls Fehlerquellen und Biomasse. Diese Einsicht zuzulassen bedeutet offenbar Erschütterung und Kränkung der Selbstwahrnehmung (royal) von Kinozuschauern. 40 Jahre lang hat militärisch industrielle Geheimhaltung jede Wahrnehmung, jedes Wissen von der neuen unfaßbaren Vernichtungskraft per Geschwindigkeit der von Alan Turing entwickelten Technologie verhindert. Es ist, als ob populäre Kriegs- und Geschichtsfilme sich dadurch gezwungen sehen auf technischem Vor- Weltkrieg-2-Stand stehenzubleiben. In "U-571" und "Enigma" nimmt die Kamera U-Boot-Schaltknöpfe, Dechiffriermaschinen, Periskope und Meßinstrumente in den Blick. Diese Bilder dienen nicht als funktionales Mittel der Narration, daß über Spannungserzeugung mit der Geschichte in Beziehung steht, sondern sie stellen von der Geschichte unabhängige Bestandteile der Filme dar. Das Spiel der Kamera erhebt die materielle Realität der Technik zum ästhetischen Objekt, zum Gegenstand eines vertrauten, intimen Ineinandergehens von Mensch und Technik. "Ein Auto voller Zauber. Unendlich stark, unendlich schön. La Machina. Italien betet sie an"; "Knackiges Fahrwerk, 150 PS starker 2,0 Liter Vierzylinder (0 – 100 in 10,6 Sekunden, 185 km Spitze), nur das Radio fehlt, ansonsten ist zum Glücklichsein alles dran. Sogar Alufelgen" (BILD). Das Verhältnis von Kriegsfilm und Technologie ist das von 1001 Werbespots - tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten. Etwas fehlt bei diesen Bebilderungen von Fahrgefühl: "Fahren heißt auch gefahren werden. Einen Wagen fahren heißt mittels seiner technischen Eigenschaften gefahren werden" (Paul Virilio). Etwas, das Millionen bewegt, das Emotionen, den einen oder anderen Rausch nach technischen, in Serie gegangenen Prinzipien erzeugt – kann man Kino nicht als Auto beschreiben? Wie kann man das serienmäßige, das Gefahren Werden durch Kino in den Blick kriegen?

"Vielleicht ist dieser Schnittplatz ein Geheimschreiber oder eine Dechiffriermaschine. Geht es darum ein Geheimnis zu enträtseln oder zu bewahren?" Alan Turing spielt auch in Harun Farockis Film "Schnittstelle" eine Rolle. Angeregt von Turings Denken formuliert Farocki die Problematik des Geschichtsfilmgewerbes. "Schnittstelle" zeigt den Regisseur bei der Arbeit am Schneidetisch. Zu dem gehören 2 Monitore, die es ermöglichen Ausschnitte aus älteren und jüngeren Filmen der Filmgeschichte nebeneinander zu betrachten. Dadurch kommt er auf Fragen. Wenn ein Motiv aus dem ersten je gedrehten Film ("Arbeiter verlassen die Fabrik" von 1895) auch zu sehen ist in einem Hollywoodfilm mit Marylin Monroe, welcher Zusammenhang ergibt sich daraus? Bilder haben offensichtlich eine Geschichte, in der sie wiederholt, abgewandelt, fortentwickelt werden. Es muß etwas hinzukommen zum Zuschauergefühl (dem, daß in erster Linie sich selbst genießen will), um diese Geschichte in den Blick zu kriegen. Ein Gedanke: Ich stelle mir vor und schon erinnere ich mich nicht mehr, ich stelle mir vor. Wenn nun in einem Kriegsfilm der 30er Jahre, in einem Western, in einem Vietnamkriegsfilm das gleiche Motiv auftaucht, was repräsentieren diese Bilder dann, was treffen sie von der historischen Wirklichkeit, die sie jeweils illustrieren wollen/sollen? Wie kann Film ein historisches Arbeitsinstrument sein?
Weil Farocki, den Bildern gegenüber, unsicher wird, zögert, bremst, neue Verbindungen versucht, kommt der Zuschauer von dem Weg ab, der per Identifikation "in den Film" (Witz!) führt. Er ist unterwegs zum Film. Die Zusammenhänge zwischen Bildern und Geschichte(n), Story und History, also das, was die hiesige Kritik als Genre, Gewißheit und Selbstverständlichkeit ansieht wird hier Thema. Vor allem: Farocki verbindet all die von der Filmbürokratie naseweis getrennten "fiktiven", "dokumentarischen", "essayistischen" Möglichkeiten des Films. Wie heißt so ein Film? Der Abspann läßt auf Autorenfilm, die zitierten, gefundenen Bilder lassen auf Found Footage-Film schließen. Auf Kunstausstellungen firmiert er als Videoinstallation, auf Festivals und in 3-SAT läuft er als Dokumentarfilm. Da Farocki den Regisseur auch spielt, den Arbeitsplatz inszeniert, kann man "Schnittstelle" durchaus als Spielfilm sehen. Und: Film ist hier eine Form der Filmkritik. Wie wollen wir umgehen mit einem Film, dessen Umgang mit Tradition partout nicht in eine Richtung führen will? Wer Ordnungskriterien herausfordert wird abgestempelt - seit über 10 Jahren erscheint in deutschen Filmzeitschriften keine Kritik mehr zu Filmen von Harun Farocki.

Wie kann man Filme wie "Schnittstelle" technisch beschreiben? "Die Kreuzung, die Verbindung von zwei Wegstrecken ist ein zentrales Motiv, das in dem Film in verschiedenen Variationen immer weder auftaucht" (Tilman Baumgärtel). Was wäre dagegen der beste und schnellste Weg in die Geschichte? Das Genre, auf das Filmkritik abfährt? "10 km zwischen Charlottenburg und Wannsee oder die Straße der Zukunft: nur für Autos ohne Kreuzungen und Querwege mit stark überhöhten Kurven, Zuschauertribünen für die geplanten Sportereignisse und (nicht zu vergessen) zwei mittelstreifengetrennte Fahrbahnen. Vom Saumpfad zur Römerstraße, vom Sand über Pflaster zum Asphalt – Jahrtausende des Gehens, Reitens, Fahrens auf Wegen aller Art, aber ohne Mittelstreifen. Im Durcheinander von Zufallsbegegnungen blieb Hermes der Straßengott an der Macht über Boulevards, Lidos und Laan. Erst Autobahnen erlösen den Verkehr (in Wort und Sache) von seiner obszönen Zweideutigkeit, die schon lange vor Freud lauter Wortspiele feierte" (Friedrich Kittler). Medientheoretisch sind solche unerbetenen Verbindungen (schon gar in Aufrüstungs- und Kriegszeiten) subversiv: "Zufallsbegegnungen zwischen Lkws und Ochsenkarren wären schon kontraproduktiv genug, zwischen Kanonenfutter und Leichentransporten würden sie zur Katastrophe und Meuterei" (Kittler). Womit wir beim Autorenfilm wären. Wie er von Königswegen aus betrachtet aussieht, von Anhängern nationaler Repräsentationskunst und anderen Ordnungsfanatikern gesehen wird. "Zuerst rede ich von den Autobahnen in den Gehirnen, von den Begradigungen und Sanierungen, und dann spreche ich von den unsinnigen Betätigungen der Begradigten und Sanierten...sie empfinden beim Anblick meiner Filme Karambolagen, Autounfälle, Unglück, Intensivstation und Amputation, was sehr häßlich ist und mit meinen Filmen nichts zu tun hat" (Herbert Achternbusch).

Apropos großes Kino. Wie beschreibt man Film mit Blick auf Größe? "Der Statist ist unten. Oben ist anders. Oben ist Licht, Scheinwerfer, Glanz, Frauen, Ruhm, und noch besser fast, Nachruhm. Star kann es nur einen geben, aber es könnte auch ein anderer sein" (Willi Winkler). "Das deutsche Kino stand hier also eigentlich mehr als Weltkino zur Prüfung an" (Michael Althen über die Berlinale 2002). "Man kann in Frankreich Budgets von bis zu 20 Millionen oder 30 Millionen zusammenbekommen. Mit solchen Budgets können wir auch in Deutschland herausragende Filmwerke machen, wie beispielsweise "Das Boot" gezeigt hat. Man kann mit dem Budget, das man hier maximal zusammenbekommt, etwa 10 Millionen Mark, keinen Film über die 70er Jahre ausstatten" (Bernd Eichinger). "20 Millionen Dollar Herstellungkosten, 30 Darsteller, 12000 Statisten, 100 Stuntleute, 3 Tonnen Sprengstoff, 100.000 Schuß Munition, 9000 Originalaufnahmen, 23 Originalpanzer, eine Original JU-52, 89 Personen wurden verletzt" (Presseheft zu Josef Vilsmaiers "Stalingrad"). Größe flößt Respekt ein und macht zugleich klein. Weil andere Großes haben, wir aber nicht. Also wird Kino zur Materialschlacht. Größe ist in dem Maße beliebt, wie sie als Thema wie als unmittelbare Erfahrung einen Ausweg aus unnützer Komplexität, schwieriger Lesbarkeit der Geschichte und Vergeblichkeit filmkritischer Intervention verspricht. Anders gesagt: In exakt dem Maße, in dem Kommentaren zum Film ästhetisch nichts einfällt, wird ihre Sprache gigantomanisch, begibt sie sich auf Höhenflüge, in unendliche Weiten (nach oben, zu den Millionen, zur Weltgeltung, zu den Sternen) in Phantasien (ins Licht, in den Glanz, zum Nachruhm) oder gucken Filmkritiker Geschichte wie Sport, gucken nach, wie die eigenen Leute, Werte und Weltbilder abschneiden: "Noch lieber mochte ich nur Joachim Hansen, "Der Stern von Afrika", den großen Jagdflieger, endlich einmal ein Deutscher, der mindestens so gut wie die Amis und Tommys war – wenn die blöden Nazis nicht gewesen wären, hätten wir den Krieg gewinnen können (Kurt Scheel). "Es gibt nur eine Szene, in der die Deutschen dämonisiert werden: sie erschießen alliierte Schiffbrüchige, die um Rettung gebeten haben" (Die FAZ über "U-571"). "Breloers Werk ist ein Ereignis. Es sind im 20. Jahrhundert zu viele idiosynkratische Hannos geboren worden und gestorben. (...) Im jungen neuen Jahrhundert reden diejenigen, die aus Stärke überlebt haben. Wie: Elisabeth Mann, und sie reden ohne Qual und ohne Zögern. Die Zeit der Hannos ist vorbei" (Frank Schirrmacher, FAZ-Herausgeber). Deutschland braucht Siegergeschichten. "...dieser von fern so bewunderte Fassbinder war klein, hatte einen großen cowboyartigen Hut auf und das Gesicht mit einem popenartigen Bart zugewachsen" (Winkler). Haben nicht Autorenfilmer ein weniger großkotziges, weniger bleihaltiges Verhältnis zu Hollywood- und anderen Vorbildern ausgestellt? Größe auch als Witz sichtbar gemacht? Alte Hüte anders aufgesetzt? Genres fortgesetzt wie kritisiert? Warum nicht in Texten zum Film der aktuellen Einweg(film)geschichte andere Spuren hinzufügen, Überlegungen der 60er und 70er Jahre mitlaufen lassen? Kann man, zum Beispiel, Größenphantasien nicht nur mit Freude, sondern mit Freud zur Kenntnis nehmen (bzw. mit Adorno, der Deutsche und ihre Vorstellungen mit Freud liest)? Sie identifizieren sich mit realer Macht schlechthin, vor jedem besonderen Inhalt. Im Grunde verfügen sie nur über ein schwaches Ich und bedürfen darum als Ersatz der Identifikation mit großen Kollektiven und der Deckung durch diese." Kann man andere Verbindungen als Königswege, andere Verhältnisse zwischen den Teilnehmern der Geschichte als die zwischen wenigen Stars und sonst nur Statisten in unsere Filmbildung aufnehmen? "Dieser Mangel an Eigenständigkeit wird durch Weltteilnahme ersetzt. (...) Wir bleiben hier und leben vom Mund in die Hand. Drehen einmal in diesem Dorf und dann im Nachbardorf und stellen in diesem Riesenloch wieder kleine Stücke Bayern her. Und ich wünsche nicht die Welt, daß sie mich versteht, sondern ich wünsche mir einen in Pasing, der sich selber denkt wie ich und Filme macht für Pasinger, und wenn das den Pasingern nicht gefällt, dann fühlt sich vielleicht einer von Starnberg ermuntert und macht für die Starnberger einen Film und scheißt auf die Welt, weil er schon einen in Weilheim kennt, der fragt: Meinst, daß das in Weilheim auch geht? So könnte man doch Wirklichkeit erzeugen, Pasinger, Weilheimer, Herrschinger Wirklichkeit, der jeweils herrschenden Allerweltswirklichkeit zum Trotz" (Achternbusch). Kann nicht gehen. Wirkliche Eigenständigkeit = Holzweg des Films. In Tüdel kommen, Diskutieren, Zögern = Macken, die zu Verlierern machen. Unwidersprochen und unkommentiert tobt sich in den hiesigen Spielfilmdiskursen eine gruselige, in mythischen Untiefen herumgeisternde deutsche Reaktion aus. Die politische und ästhetische Ignoranz der Filmkritik, ihre Abwehrbewegung gegenüber dokumentarischen, essayistischen und experimentellen Dialekten, das sind Beiträge zu dieser Rückkehr zu alten Formeln, Denkweisen, Geschichten und Identitätskämpfen, die als junges neues Jahrhundert daherkommen. Geht es darum Geheimnisse zu enträtseln oder zu bewahren? Wer im großen Kino anderes sehen will als Deutsche versus Tommys, wer in den Blick kriegen will, wie die Geschichte Wert und Spielraum "des Menschen" taxiert, also welche (militärischen) Technologien wie Gegenwart und Zukunft strukturieren, darf die Mac Guffins der in 40 Jahren laufenden Thriller entziffern oder muß Ausgräber werden.




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