new filmkritik für lange texte
 
Samstag, 16. September 2006

Straub / Huillet / Pavese (II)


Allegro moderato

Text im Presseheft des französischen Verleihs Pierre Grise Distribution

Warum ? Weil : Der Mythos ist nicht etwas Willkürliches, sondern eine Pflanzstätte der Symbole, ihm ist ein eigener Kern an Bedeutungen vorbehalten, der durch nichts anderes wiedergegeben werden könnte. Wenn wir einen Eigennamen, eine Geste, ein mythisches Wunder wiederholen, drücken wir in einer halben Zeile, in wenigen Silben, einen zusammengesetzten und komprimierten Sachverhalt aus, das Mark der Realität, das einen ganzen Organismus der Leidenschaft, der menschlichen Befindlichkeit belebt und nährt – einen ganzen begrifflichen Zusammenhang. Und wenn dieser Name, diese Geste uns seit der Kindheit, seit der Schule, vertraut sind – umso besser. Die Unruhe ist wahrhaftiger und schärfer, wenn sie eine vertraute Sache zersetzt. Wir wissen, daß die sicherste – und die schnellste – Art sich in Erstaunen zu versetzen ist, einen selben Gegenstand starr anzuschauen. Eines schönen Tages – o Wunder – wird uns dieser Gegenstand erscheinen, als hätten wir ihn noch nie zuvor gesehen.

„Du sahest den Olivenbaum an, den Olivenbaum auf dem Weg, den du seit Jahren jeden Tag gegangen bist, und dann kommt der Tag, Wo der Verdruß dich verläßt, Und du siehst den alten Stamm zärtlich an, So als ob er ein wiedergefundener Freund wäre und dir ganz genau das einzige Wort sagte, Das dein Herz erwartete.“

Wie ? Mit : – Darstellern (4 Frauen und 6 Männer), die ein Jahr lang mit ihrem Text gelebt haben, ihn gezähmt haben, ihn fühlbar und sinnlich gemacht haben. – Renato Berta an der Kamera – eine alte Freundschaft, seit OTHON in Rom, 1969. – Jean-Pierre Duret, ein guter Komplize, der für uns beim Ton die Nachfolge von Louis Hochet übernommen hat, seit SICILIA!

Wo ? An einem Ort, dem Monte Pisano, einsam gelegen zwischen dem Meer, Pisa und den Apuanischen Alpen, noch derart, daß:

„Ein Nichts genügt, und das Gelände wird wieder das gleiche wie damals, als diese Dinge geschahen.“

„Es genügt ein Hügel, ein Gipfel, ein Abhang. Daß es ein einsamer Ort ist und daß deine Augen hinaufsteigend im Himmel anhalten werden. Das unglaubliche Hervorstechen der Dinge in der Luft rührt heute noch ans Herz. Ich für mich glaube, daß ein Baum, ein Fels, die sich gegen den Himmel abzeichnen, Götter waren von Anbeginn an.“

Danièle Huillet & Jean-Marie Straub

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Furioso con fuoco

Text der Erklärung, die Jean-Marie Straub am 6. September 2006 bei der Pressekonferenz in Venedig von der Schauspielerin Giovanna Daddi verlesen ließ. (Wegen gesundheitlicher Probleme, so hatte Festivalleiter Marco Müller vorher erklärt, waren Jean-Marie Straub & Danièle Huillet nicht nach Venedig gekommen.). Während der Lesung wurde die Abfolge des Textes der in Kopien auch in die Pressefächer gelegten zwei Briefe (drei Seiten / Faksimiles ) geändert. Die Übersetzung folgt der Reihenfolge der Lesung –

Das ist zu früh gekommen für unseren Tod, aber zu spät für unser Leben. Auf jeden Fall danke ich Marco Müller für seinen Mut. Aber was erwarte ich mir davon? Nichts. Wirklich nichts? Doch, eine kleine Rache. Eine Rache „gegen die Intrigen des Hofes“, wie es in La Carrozza d’oro heißt. Gegen all dieses Gesindel. Warum Pavese? Weil Pavese geschrieben hat: „Kommunist ist nicht, wer will. Wir sind zu unwissend in diesem Land. Man bräuchte Kommunisten, die nicht unwissend wären, die den Namen nicht verdürben.“ Und auch: „Wenn einstmals ein Feuer genügte, um Regen zu machen, darauf einen Landstreicher zu verbrennen, um eine Ernte zu retten – wieviele Häuser von Herren muß man in Brand stecken, wieviele umbringen auf Straßen und Plätzen, bevor die Welt sich zum Gerechten wendet und wir das Unsere sagen können?“ Pavese läßt den Bastard sagen: „Vorgestern bin ich unterhalb der Mora vorbeigekommen. Die Pinie am Zaun ist nicht mehr da ...“ Nuto antwortet: „Der Verwalter hat sie fällen lassen, Nicoletto. Der Unwissende ... Er hat sie fällen lassen, weil die Zerlumpten im Schatten stehen blieben und bettelten. Verstehst du?“ Nochmals Nuto, an einer anderen Stelle: „Bei dem Leben, das er führt ... ich kann ihn nicht Trottel heißen ... Wenn es nützte ... Erst muß die Regierung das Geld verbrennen und den, der es verteidigt ...“ Alles Gute ! Jean-Marie Straub

VIERTER DRITTER AKT Ich war

  1. 1954 als Journalist bei der Mostra di Venezia und habe mich entschieden, über drei Filme zu schreiben: SANSHO DAYU, EL RIO Y LA MUERTE und REAR WINDOW. Keine Preise!
  2. 1963 bei der Mostra (im Kurzfilm-Wettbewerb) mit meinem ersten Film MACHORKA-MUFF (1962). Kein Preis.
  3. 1966 bei der Mostra mit NICHT VERSÖHNT (1965). Die Vorführung wurde von Godard bezahlt.
  4. [1967] bei der Mostra mit der CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH.
  5. in Venedig für eine Retrospektive (1975 ??) (gewollt von Gambetti) aller unserer Filme bis einschließlich MOSES UND ARON (1974).
  6. bei der MOSTRA D’ARTE CINEMATOGRAFICA mit Quei loro incontri – für einen BRÜLLENDEN Löwen.

Außerdem könnte ich nicht auf einem Festival feiern, wo es so viele staatliche und private Polizei auf der Suche nach Terroristen gibt – der Terrorist bin ich, und mit einem Satz von Franco Fortini will ich Euch sagen: Solange es den amerikanischen, imperialistischen Kapitalismus gibt, wird es nie genug Terroristen auf der Welt geben. Jean-Marie Straub

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Cadenza

„Reuters“-Meldung, hunderttausend- oder millionenmal im Netz verbreitet und auf Papier gedruckt –

Cryptic film baffles Venice festival

VENICE (Reuters) – The Venice film festival has a reputation for screening obscure auteur movies. But Daniele Huillet and Jean-Marie Straub's QUEI LORO INCONTRI, or THE MEETING, must rank among the most baffling films ever shown in the prestigious festival's main competition. The picture is divided in five parts, each featuring two people delivering philosophical dialogues between classic Greek characters. The conversations about humanity are those of the „Dialogues with Leuco“ by Italian writer Cesare Pavese, and in the film they are interspersed with long silences. Nothing happens. The characters stand still in a wood or on a hill and in the opening chapter are mostly seen from the back. Apart from their voices, the only other noise is that of birds singing and water streams trickling. At a media screening this week, film critics started walking out barely 10 minutes into the one-hour movie, although it did win applause by a group of fans. The French-born filmmakers directed another movie on the same work by Pavese 27 years ago. Now both in their 70s, they could not come to Venice because of health problems. Straub however sent a message, almost as cryptic as his work. He thanked festival director Marco Muller for his „courage“ in picking THE MEETING for the competition, noting that his previous films had never won in Venice. Then he added, apparently referring to the tight security on the Lido: „I would not be able to celebrate in a festival where there are so much public and private police looking for a terrorist. I am that terrorist. As long as American imperialistic capitalism exists, there won't be enough terrorists in the world. All the best, Jean-Marie.“ Asked about the meaning of the film, a member of the mostly non-professional cast told Reuters: „You should ask the directors, I am not a cinema expert. But these are dialogues about how the world goes.“ The film was panned at a popular public notice board on the Lido where ordinary movie-goers scribble their views. „Please tell us: is this a mega joke?“ one asked. Another advised the directors: „If you were traumatised as a child, you should go and see a psychiatrist.“

Silvia Aloisi

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Wettbewerb?

8.9.06

Lieber Klaus,

was soll ich Dir schreiben über Straub-Huillet auf der Biennale in Venedig? In QUEI LORO INCONTRI begegnen sich Götter und Menschen. Sind solche Begegnungen in Venedig möglich oder nachvollziehbar? Was soll dieser Film im Wettbewerb? Doch wohl bezeugen, daß man die Trennung der Welt in Kommerz und Kunst, in Filmindustrie und Filmhandwerk radikal in Frage stellen will. Ein Akt des Widerstands gegen die Ausbürgerung ins Filmkunstghetto.

Ich war nicht in Venedig, aber die Anwesenheit der Darsteller aus Buti muß ein Politikum gewesen sein inmitten einer Schau, die mit den Filmen die Körper vermarktet. Es muß für sie schön gewesen sein, ihren Film am Lido zusammen mit vielen Menschen zu sehen, die sich für solche Filme interessieren. Trotz eines Publikums, das wenig mit so einer Aufführung anfangen kann. Aber die Straubs arbeiten nicht für „das Publikum“.

Ein erster Blick auf die Presse zeigt, daß nur Zeitungen wie „Il Manifesto“ und „L’Unità“ vom Film gesprochen, also mit den Augen ihrer Kritiker (Roberto Silvestri und Enrico Ghezzi) den Film gesehen haben. In der Berichterstattung der großen Zeitungen wie „Repubblica“, „La Stampa“, „Corriere della Sera“ usw. gab es am 8.9. keine Filmkritik, sondern nur höflich korrekte, d.h. leicht empörte Kommentare zum Brief, den Straub-Huillet in Venedig verlesen ließen. [...]

Am Abend des 7. September konnte man im Fernsehen [auf RAI Tre] in der populären Sendung „Blob“, die den Fernsehmüll des Vortags kritisch und witzig zusammenfegt, einen leidenschaftlichen Appell von Enrico Ghezzi für Straub-Huillet, für den Film und den heute wieder unverstandenen Text von Cesare Pavese sehen.

Herzlich, Peter

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Außerhalb der Zeit – Straub & Lynch

Am Sonntag, dem 10. September, konnte man auf RAI Tre in dem von Enrico Ghezzi redaktionell betreuten Nachtprogramm „Fuori Orario“ von 0.25 Uhr bis 5.35 Uhr am nächsten Morgen dies hier alles am Stück sehen –

LA NUBE, LA RESISTENZA: QUEL LORO INCONTRO

QUEI LORO INCONTRI – primavisioneTV / (Italia / Francia 2006, 68’) di Danièle Huillet e Jean-Marie Straub.

QUEI LORO INCONTRI (VERSIONE TEATRALE) – primavisioneTV / (Italia 2006, 68’) di Romano Guelfi. Ripresa dello spettacolo teatrale di Danièle Huillet e Jean-Marie Straub, realizzata al teatro di Buti, dove la coppia di registi ha messo in scena il testo di Pavese da cui successivamente hanno tratto il film QUEI LORO INCONTRI.

J’ECOUTE! – primavisioneTV / (Italia 2006, 60’) di Giulio Bursi. Immagini dal set di QUEI LORO INCONTRI di Huillet / Straub.

STRADE PERDUTE (Lost Highway, USA / Francia 1996, 128’) di David Lynch.

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Finale?

Ein Kommentar und Spekulationen von Tag Gallagher zu Hintergründen der Jury-Entscheidung für den BRÜLLENDEN Löwen. Weitere Beiträge dazu. Ein Kommentar zum Schriftlichen bei Straub/Huillet von Andy Rector. Dazu – als Reminiszenz – dies zur Ablehnung einer Co-Produktions-Anfrage für den zweiten CÉZANNE-Film der Straubs von arte France

„La forme, d'abord: écrit sur une vieille machine à écrire [...] Bref, on lit lentement, avec effort, et c'est n'est pas du tout agréable. Ils n'ont pas d'ordinateur?“

Nein, sie haben keinen Computer. Aber ist es nicht irgendwie wunderbar, wie sogar in einem solch negativen Kommentar – „Man liest langsam, mit Anstrengung, und das ist überhaupt nicht angenehm“ – sich ein Aspekt der Straub-Arbeit in nuce wiederfindet, und wie auch dies – wenn man es nur wüßte, oder wollte – als durchaus positiv gelesen werden könnte?

„Kunst ist schön. Macht aber viel Arbeit!“ (Karl Valentin)

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Spektrum der Kritik – Von der Kloake zum Mythos

[...] Noch enttäuschender der Wettbewerbsbeitrag der französischen Kino-Avantgardisten Huillet und Straub. Da schwafeln minutenlang unansehnliche, schlecht gekleidete Paare, die wohl einer Art Halbgötterkaste angehören, über die Probleme der gewöhnlichen Sterblichen. Ihr Blutvergießen, ihre Fragilität und Unwissenheit. Dazu gibt es einige Naturaufnahmen mit sinnentleerten Kameraschwenks. Ein würdiger Beitrag zum Genre des Scheißfilms also: prätentiös, gewollt langweilig und konstruiert. Was hier als intellektuell anspruchsvoll verkauft wird, ist nichts anderes als humanistisches Bildungs-Gepose, das selbst auf einer staatlich geförderten Theaterbühne nur ermüden würde. Wenn das Avantgarde sein soll, dann lieber Omas altes Erzählkino. Fast parallel lief übrigens auf dem TV-Sender RAI Uno die WM-Final-Revanche Frankreich gegen Italien. Da steckten schon in den ersten 30 Minuten mehr Dramatik, mehr Spielwitz und mehr starke Charaktere als in Huillet-Straubs sperrigem Dialogstück. Hätte man irgendwie ahnen können. Matthias Schmidt – „stern.de“, 7. September 2006

[...] Ein älteres Paar steht mit dem Rücken zur Kamera in der toskanischen Landschaft und deklamiert einen Dialog von Cesare Pavese. Manchmal wechselt die Einstellung, und man sieht sie einzeln, manchmal wenden sie sich sogar leicht zur Seite. Das ist der erste von fünf Dialogen, und er dauert eine knappe Viertelstunde. Das Kino verdankt den Straubs und ihrer Widerborstigkeit eine Menge, aber in einem Wettbewerb verflüchtigt sich jede Provokation ins Stühleklappen derer, die das Kino vor der Zeit verlassen. Michael Althen – „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 8. September 2006

[Straubs] neuer Film besteht aus Schauspielern, die mit dem Rücken zur starr montierten Kamera in freier Natur stehen und einen Text von Cesare Pavese eigentlich nicht lesen, sondern möglichst tonlos herunterleiern. Nichts Neues vom Grammatiklehrer Straub also. Pavese, so viel darf man sagen, hätte den Film gehaßt. Den meisten Kritikern ging es nicht anders, und so verschmolz das ununterbrochene rhythmische Stühleklappern mit den Rhythmus der tonlosen Stimmen. Wer drin blieb, tat das, so mein Eindruck, mit derselben Haltung, mit der man eine Messe besucht: Bei wenigen Inbrunst und inniger Glaube, bei einigen der Versuch sich meditativ zu leeren, beim Rest eine Mischung aus Pflichtübung und der Sehnsucht nach einem ruhigen Pol inmitten des Festivalhurrikan, nach der Möglichkeit, einmal an alles zu denken, außer an Kino. Wenn das der Sinn des Kinos ist ... Der Sinn des Löwen fürs Lebenswerk liegt daher wohl eher in politischer Solidarität. [...] Rüdiger Suchsland – „artechock.de“, 10. September 2006

[...] Wenn ein glanzloses Programm auch noch beschwert wird von Altmeistern, die Dauerkarten besitzen, kann man sich fragen, ob denn diese selber damit glücklich sind. Jean-Marie Straub, der mit der szenischen Deklamation von Paveses „Dialoghi con Leucò“ exakt in den Stil seiner letzten Teilnahme an einem großen Festival, dem Berlinale-Beitrag DER TOD DES EMPEDOKLES vor zwanzig Jahren, zurückfiel, gefiel es gar nicht am Lido. Das Statement, das er teils handgeschrieben, teils in alter Maschinenschrift kopieren und verteilen ließ, ist ein trauriges Manifest. [...] Daniel Kothenschulte – „Frankfurter Rundschau“, 11. September 2006

[...] Die weiteren Preise bergen größere Überraschungen. Einen Speziallöwen etwa vergab die Jury unter Vorsitz Catherine Deneuves an Jean-Marie Straub und Danièle Huillet für ihr sprödes Filmessay QUEI LORO INCONTRI. Und das, obschon noch am Freitag in den Pressefächern ein handgeschriebener, kopierter Zettel lag, auf dem Straub – weder er noch seine Gefährtin Huillet waren zur Pressekonferenz und zur Premiere des Filmes angereist – klagte: „Im übrigen kann ich im Rahmen eines Festivals, auf dem soviel öffentliche und private Polizei ist, die nach einem Terroristen suchen, nichts feiern – ich bin der Terrorist, und ich sage Euch, indem ich Franco Fortini paraphrasiere: Solange es den imperialistischen amerikanischen Kapitalismus gibt, kann es auf der Welt nicht genug Terroristen geben.“ Gut, daß Straubs und Huillets Filme sich auf einer anderen Ebene bewegen als solche verbitterten Botschaften, gut, daß die künstlerische Radikalität der beiden vielschichtiger ist als der politische Kommentar – und umso besser, daß die Jury eines großen A-Festivals dies anzuerkennen imstande ist. Es ist ein guter Schritt nicht nur für QUEI LORO INCONTRI und dessen Reflexion über das Fortbestehen des Mythos in der Gegenwart, es ist auch eine klare Positionierung: Die Jury feiert mit ihrer Entscheidung die Vielfalt dessen, was Kino sein kann. Das Spröde, Theoretische wird nicht gerade noch am Rand geduldet, sondern anerkannt, ein Film, der sich als Denkaufgabe statt als Herzenssache, als Reflexion statt als Emotion, als Essay statt als Aktion begreift, wird geehrt. Cristina Nord – „die tageszeitung“, 11. September 2006

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Die Mühsal der Worte

Wenn Götter Konversation machen, das müßte eigentlich prächtiger Kinostoff sein, auf den Hügeln über den Städten der Menschen, von oben herab reflektierend über deren Sorgen und Macken. Und dazwischen immer wieder Klagen über die eigene Unsterblichkeit, gegen die dann die Sterblichkeit der Menschen, ihr Bemühen um Erinnerung, Vorausschau, Geschichte plötzlich gar nicht so schlecht wegkommt: „Überall wo sie Mühsal und Worte anwenden“, sagt zum Beispiel Dionysos zu Demeter in einem der Dialoge, „wird ein Rhythmus, ein Sinn, ein Zustand der Ruhe geboren...“

Man könnte meinen, es sei auch die Arbeit von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet mit diesem Satz beschrieben. Und als könnte ein Film von ihnen in einem großen Wettbewerb jenen Ruheraum schaffen, der hier beschworen wird – so hat es sich offenbar auch Marco Müller gewünscht, der Festivalleiter in Venedig, als er QUEI LORO INCONTRI auswählte. Und die Bereitschaft seiner Zuschauer zur Konzentration überschätzte. Schlimmer noch als solches Desinteresse aber sind womöglich all jene Versuche, den Straubs pflichtschuldig ihre filmhistorische Wichtigkeit zu attestieren – aber sie dann doch aus dem Wettbewerb wieder hinauszukomplimentieren.

An diesem Samstag und Sonntag wird QUEI LORO INCONTRI im Münchner Filmmuseum seine deutsche Erstaufführung haben – wo Straub/Huillet seit langem eine Heimat gefunden haben. Der neue Film ist wie eine Rückkehr – 1978 hatten sie DALLA NUBE ALLA RESISTENZA gemacht, nach Texten von Pavese, unter anderem sechs der „Dialoge mit Leucò“. Fünf weitere dieser Dialoge sind nun im neuen Film – und dazu eine erschütternde Ahnung davon, was sich im Vierteljahrhundert dazwischen verändert hat. Fast unbeschwert wirkt heute, wie man damals, in den Siebzigern von Aufbruch und Anarchie handeln konnte. Nun scheinen die Götter- und Menschenwesen, die da miteinander ins Gespräch kommen wollen – auch Hesiod ist unter ihnen –, ratlos zwischen den Felsen und Bäumen zu erstarren.

Der Mythos ist eine Sprache, sagt Pavese – kurz bevor Barthes das zur Parole des Strukturalismus machte. Die „Dialoge mit Leucò“ sind in den Jahren nach Ende des Weltkriegs entstanden. Was wie eine Flucht in die Antike, wie Eskapismus aussieht, ist in Wahrheit hochaktuell. Dieses Buch – und die beiden Filme von Straub/Huillet – handeln vom Tod, von der Zerstörung der Körper, von der Frage, wie das Erzählen mit den menschlichen Bedürfnissen zusammengebracht werden kann. Mit dem Widerstand ist der Kampf gegen den Faschismus gemeint, aber auch jene Resistenz, die die Materie allen Gedanken entgegensetzen muß. 1950 hat Pavese seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, seine letzten Sätze vorn in seine Ausgabe der „Dialoge“ geschrieben. „Du gibst den Dingen eigene Namen“, sagt Hesiod zu Mnemosyne, „die sie anders machen, unerhört und doch lieb und vertraut wie eine Stimme, die seit langem schwieg. Oder wie das jähe Sich-Erblicken in einem Spiegel von Wasser, der uns sagen läßt: Wer ist dieser Mensch?“

Fritz Göttler – „Süddeutsche Zeitung“, 9. September 2006


Zusammenstellung: Klaus Volkmer Photos aus der Filmkopie: Gerhard Ullmann

Dank an: Enrico Ghezzi, Romano Guelfi, Peter Kammerer, Petra Maier-Schoen, Markus Nechleba, Andy Rector, Giovanna Runggaldier.




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Freitag, 1. September 2006

Straub / Huillet / Pavese (I)


QUEI LORO INCONTRI (JENE IHRE BEGEGNUNGEN) 2005

DALLA NUBE ALLA RESISTENZA (VON DER WOLKE ZUM WIDERSTAND) 1978

QUEI LORO INCONTRI (JENE IHRE BEGEGNUNGEN) – Italien / Frankreich 2005 – R+B: Danièle Huillet & Jean-Marie Straub, nach „Dialoghi con Leucò“ von Cesare Pavese – K: Renato Berta, Jean-Paul Toraille, Marion Befve – T: Jean-Pierre Duret, Dimitri Haulet, Jean-Pierre Laforce – D: Angela Nugara, Vittorio Vigneri, Grazia Orsi, Romano Guelfi, Angela Durantini, Enrico Achilli, Giovanna Daddi, Dario Marconcini, Andrea Bacci, Andrea Balducci – 68 min

DALLA NUBE ALLA RESISTENZA (VON DER WOLKE ZUM WIDERSTAND) – Italien / BRD 1978 – R+B: Danièle Huillet & Jean-Marie Straub, nach „Dialoghi con Leucò“ und „La luna e i falò“ von Cesare Pavese – K: Saverio Diamanti, Gianni Canfarelli – T: Louis Hochet, Georges Vaglio – D: Olimpia Carlisi, Guido Lombardi, Gino Felici, Lori Pelosini, Walter Pardini, Ennio Lauricella, Andrea Bacci, Lori Cavallini, Francesco Ragusa, Florangelo Pucci, Dolando Bernardini, Andrea Filippi; Mauro Monni, Carmelo Lacorte, Luigi Giordanello, Mario di Mattia, Paolo Cinnani – 105 min

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Die Sehnsucht der Götter

Ein zweites Mal nehmen Danièle Huillet & Jean-Marie Straub die 1947 erschienenen „Gespräche mit Leuko“ von Cesare Pavese zur Grundlage eines Films. In DALLA NUBE ALLA RESISTENZA [1978] bildeten sechs dieser Dialoge zwischen Figuren aus der griechischen Antike und Mythologie den ersten Teil des Films. QUEI LORO INCONTRI [2005] besteht aus den letzten fünf des Buches.

Revolution bedeutet, sehr alten und vergessenen Dingen ihren Platz zurückzugeben – diesen Satz von Charles Péguy hält Jean-Marie Straub immer wieder bereit, wenn es um die Zukunft der Gesellschaft geht, genauso wie Walter Benjamins Ausspruch von der Revolution als dem „Tigersprung ins Vergangene“: „Das ist auch die Idee von Pavese mit seinen mythologischen Dialogen, er wollte seine Genossen spüren lassen, daß die Flucht in die Zukunft nicht ausreicht.“ In Zeiten des Staatskommunismus wurden derartige Äußerungen stets als häretisch und reaktionär bekämpft.

Man sollte beachten, daß nicht von der Wiedereinsetzung einer Vergangenheit die Rede ist, sondern von Vergangenem, von sehr alten oder vergessenen Dingen. Die Götter und göttlichen Wesen, Erzählungen einer vergangenen agrarischen Gesellschaftsform, die in den Dialogen auftreten, sind gewiß ambivalent. Sie sind Formulierungen – Personifizierungen – von Macht und sie werden bis heute, verweltlicht, technisiert, von den realen politischen und gesellschaftlichen Kräften besetzt und instrumentalisiert. Andererseits verkörpern sie Geist und Moral. Und damit auch die ethische Empfindung gegenüber der Welt des Sinnlichen und Menschlichen.

QUEI LORO INCONTRI ist vielleicht der traurigste Film der Straubs, weil er aus der Perspektive der Götter von den bedauernswerten Menschen im allgemeinen spricht und keine individuelle Geschichte erzählt. Er ist aber vielleicht auch derjenige, der die „ethische Gewalt“ (Franco Fortini) ihrer Filme am sanftesten zum Ausdruck bringt. Es ist erschütternd, wie diese Götter von Sehnsucht und Trauer zugleich ergriffen werden, wenn sie von den erbärmlichen und dennoch beneidenswerten Menschen sprechen. Sie sehnen sich nach deren Sterblichkeit, die, weil sie vom ewigen Schicksal befreit, „alles unvermutet und Entdeckung“ werden läßt. Sie bewundern sie für ihre Fähigkeit zu benennen, denn überall, „wo sie Mühsal und Worte aufwenden, wird ein Rhythmus, ein Sinn, eine Ruhe geboren.“ Wie schön muß es sein, „sich selbst zu gestalten, auf diese Art der Laune nach.“ Sie sehen aber auch, daß die Menschen elend, gemein und berechnend sind, daß sie ihre Geschichten immer mit Blut erzählen, den Wert ihrer Existenz nicht erkennen und sich an der Welt versündigen. Unverständnis und Zorn kommt dann auf, aber es sind ihr Wohlwollen, ihr Wille, den Menschen zu helfen, und zugleich ihre Ohnmacht, die bestürzend sind. Nein, nicht ein Gott wird die Menschheit retten. Eine göttliche Erzählung allenfalls, die die Menschen lehrt, „daß der Tod auch für sie neu ist. Ihnen diese Erzählung geben. Sie ein Schicksal lehren, das sich mit dem unsren verflicht“.

Man muß sehen, wie die Darsteller, die Götter und Menschen in den Einstellungen des Films verflochten sind mit ihrer Umgebung, der Natur, den Bäumen, Ästen, den Blättern im Wind, den Felsen, mit Licht, Farben und Schatten und den Geräuschen, mit dem Sinn dessen, wovon sie sprechen. Wie sie mit festen Stimmen und präziser Diktion diesem Sinn eine eindringliche, rhythmisierte Form geben, die sich in den lebendigen, ruhigen Raum einfügt. Physischer Geist, sinnliches Denken (im wirklichen Sinne, weder symbolistisch noch metaphorisch). Die Menschen sind den Göttern, auch den Ungeheuern und Mischwesen, und der Natur verwandt.

In DALLA NUBE ALLA RESISTENZA sind die Götter gleichwohl Mächte, die die Menschen verführen und die es zu bekämpfen gilt wie die faschistischen Ideologien und die gegenwärtigen Technokratien. Die offene, noch nicht zur Faust geschlossene Hand des Jungen am Ende des Dialogs mit seinem Vater vor den Opferfeuern ist ein erstes Zeichen des Widerstandes.

Der zweite Teil des Films – ein Stück aus Paveses Roman „Der Mond und die Feuer“ [1950] – erinnert in den Gesprächen zwischen dem aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten „Bastard“ und den Dagebliebenen die Zeit der Resistenza gegen den Faschismus: Erzählungen, die von der Unsicherheit zeugen, was Widerstand ist. Er müßte beginnen, fortdauern, wo dieselbe Verachtung und dieselben Verhältnisse fortdauern. Er endet aber dort, wo Armut und Zwang nur die Selbstzerstörung als Alternative übriglassen. Dazwischen gibt es wenig Klarheit. Und doch bezeugt jeder Straub-Film aufs Neue: genau so und jetzt müßte und könnte ein ganz anderes, neues Leben beginnen.

In den Wäldern um das toskanische Buti – damals entdeckt, inzwischen Zentrum der Proben, Theateraufführungen und Dreharbeiten geworden –, inszenierten die Straubs dann, in zweien ihrer Filme nach Elio Vittorini (OPERAI, CONTADINI [2001] und UMILIATI [2003]), die Zerstörung der Gemeinschaft und des utopischen Gedankens, die Demütigung der Menschen durch die (gleichgesinnten) Menschen. Dort ist das letzte Zeichen, das in der äußersten Verlassenheit übrigbleibt, die sprachlos geballte Faust.

So gottverlassen und elend wie in QUEI LORO INCONTRI erschien unsere Gegenwart noch nie. Aber gegen Ende heißt es: „Ein Nichts genügt, und das Gelände wird wieder das gleiche wie damals, als diese Dinge geschahen. Es genügt ein Hügel, ein Gipfel, ein Abhang. Daß es ein einsamer Ort ist und daß deine Augen hinaufsteigend im Himmel anhalten werden.“ Die letzte Einstellung des Films – ein Schwenk, hinaufsteigend in den Himmel – deutete die Geschichte als die einer endgültigen Entfremdung zwischen Menschen und Göttern, hätte es zuvor nicht eben jene Dialoge gegeben: sie ist wie das Erwachen aus einem lebendigsten Traum, eine Rückkehr in die eigene, einsame Wahrnehmung eines Trostlosen, in die hineinragt die ungeheuerliche Erinnerung an „jene ihre“ – unsere verlorengegangenen – „Begegnungen“. Nicht nur den Fabelwesen, auch den Göttern begegnen wir nur noch in Träumen – oder in den Filmen von Danièle Huillet & Jean-Marie Straub.

Markus Nechleba

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Diamonds in the Head

Auszüge aus einem Gespräch [2002] zwischen Mark Peranson und Pedro Costa („Cinema Scope“ 27, Summer 2006, S. 6-15) –

Pedro Costa: I was very, very stoned seeing SHE WORE A YELLOW RIBBON, and that was a very strange experience. Now there's a quality in certain movies that are like diamonds in my head at that time. The Straub movie FROM THE CLOUD TO THE RESISTANCE is another one, they are in very sharp colours. I've never taken LSD, but I expect the effect is somewhat the same: they are very sharp, the yellows and the greens. [S. 10]

Jean-Marie Straub, Pedro Costa, Danièle Huillet (c) Richard Dumas, 2001

Mark Peranson: Does Straub still want all of his films to be destroyed after his death?

Pedro Costa: It depends on his mood. I don't think so. They're the only filmmakers in the world who consider every shot that they have done as something done with pride and honour. Not even Godard can say that. And there is no second in one movie of theirs that they'd change. Straub told me his final testament that he wants on his grave, a quote from „Hyperion“ by Hölderlin, which has something to do with going into oblivion, but leaving a very strong trace in the world.

Mark Peranson: Which is an odd thing for a materialist to say.

Pedro Costa: Well, he said a very nice thing to me about that. Once he was teaching a film course in Germany, and he was talking about MOSES AND ARON, and he said „God“ three or four times in the lecture, and he saw some students were smiling, almost laughing. And he told them, „Why are you laughing? If you laugh when you hear the word God, then you’ll never make a film.“ And that proves to me that to be a materialist, you have to be a mystic in the beginning … or in the end. [S. 15]

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Testament

Jean-Marie Straubs „Testament“, von ihm mehrfach öffentlich rezitiert, z.B. bei der Diskussion anläßlich der kombinierten Straub/Huillet & Ford-Retrospektive bei der Viennale 2004 ist folgende Passage aus Hölderlins „Der Tod des Empedokles“ (II/4) –

[ ... ] und schon – o Luft, Luft, die den Neugeborenen umfängt, wenn droben er die neuen Pfade wandelt, dich ahnd' ich, wie der Schiffer, wenn er nah dem Blüthenwald der Mutterinsel kömmt, schon athmet liebender die Brust ihm auf und sein gealtert Angesicht verklärt Erinnerung der ersten Wonne wieder! [ ... ]

Aus dem handschriftlichen Drehbuch von Jean-Marie Straub [1984] zu DER TOD DES EMPEDOKLES.

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Cineasti italiani

Straub sagt selber nichts zum neuen Film – er und Danièle Huillet werden auch nicht in Venedig anwesend sein. Der offizielle Text im venezianischen Presse-Dossier ist ein Auszug aus einem Interview von 2001 –

Commento del regista / Director’s note La definizione «cineasti italiani» c’è stata data non solo per i film cha abbiamo girato in lingua italiana o per quelli per cui abbiamo rifatto un missaggio e un commento italiano, come ad esempio Troppo presto, troppo tardi, e che dunque sono diventati film italiani. Ci sono stati anche dei nostri film girati in Italia, in lingua francese, come Othon o in lingua tedesca come La morte di Empedocle o cantati in tedesco come Mosè e Aronne. Tutti film italiani perché dovevano le loro immagini all’Italia. Le immagini di più di metà dei nostri film mostrano l’Italia. Film italiani a tutti gli effetti anche se non sono riconosciuti ufficialmente perché parlati in una lingua diversa. C’è una legge fascista per la difesa della lingua che lo stabilisce. (da Straub-Huillet Cineasti Italiani. Intervista a cura di Adriano Aprà e Piero Spila, in: Piero Spila, Il cinema di Jean-Marie Straub e Danièle Huillet. «Quando il verde della terra di nuovo brillerà», Bulzoni Editore, Roma 2001, p. 21-32, hier: 21)

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Die neue Welt

Das französische Pressematerial zum Film besteht nur aus einem Auzug aus einer Pavese-Biographie, der von Paveses letzten Tagen vor seinem Selbstmord erzählt; und diesen drei Text-Fragmenten aus Dialogen des Films –

L’incroyable relief des choses dans l’air APRÈS LE DÉLUGE – tu verras que le monde nouveau aura quelque chose de divin ...

Es genügt ein Hügel, ein Gipfel, ein Abhang. Daß es ein einsamer Ort ist und daß deine Augen hinaufsteigend im Himmel anhalten werden.Das unglaubliche Hervorstechen der Dinge in der Luft rührt heute noch ans Herz. Ich für mich glaube, daß ein Baum, ein Fels, die sich gegen den Himmel abzeichnen, Götter waren von Anbeginn an. NACH DER SINTFLUT – Du wirst sehen, die neue Welt wird etwas Göttliches haben in ihren hinfälligsten Sterblichen.

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Zwiesprachen

[ ... ] Mit Pavese haben Jean-Marie Straub und Danièle Huillet einen Autor gefunden, der gleichzeitig politisches Geschehen sehr nah vefolgte und nicht einen Moment bereit war, drängender Tagesfragen wegen sich als Dichter beirren zu lassen und die Kunst zu verkaufen. Schon bald nach Kriegsende schrieb er, als Kommunist, mutig gegen alle linken Hysteriker – wie 1975 Pasolini, der ohne Rücksicht auf Parteilininien sich für Aldo Moro aussprach. Als Pavese sich 1950, 42jährig, das Leben nahm, suchte man nach eindeutigen Erklärungen vergeblich. Es gab auch private Gründe, Frauen. Seine Abschiedsworte schrieb er auf die weißen Seiten vorn in eine Ausgabe seiner „Dialoge mit Leuko“. Leuko, aus der griechischen Sage, war eine Gefährtin der Kirke. Sechs von diesen Dialogen sind im Film.

Man kann vorsichtig sagen, daß Paveses Selbstmord so politisch war wie der Majakowskis. Es gibt für Dichter keine Möglichkeit des Paktes mit der institutionalisierten Politik. Paveses Geschichtsbegriff, wie er aus seinen Drehbüchern abzulesen ist, ist unvereinbar mit der triumphierenden Rechthaberei, die zur Sprache der politischen Parteien gehört.

DALLA NUBE ALLA RESISTENZA ist ein Film von Zweiteilung organisiert. Er macht einen Kontext aus Stücken von zwei Büchern von Pavese, aber so, daß nach dem zweiten Drittel mit einem Vorspann nochmal ein Anfang ist. Ein früherer Paveseroman, „Der Mond und die Feuer“: Ein Antifaschist kommt nach dem Krieg zurück aus Amerika in den Ort im Piemont, in dem er als Findelkind aufwuchs. Die Veränderungen, zu denen alles bereit schien, haben nicht stattgefunden. Über den Kadavern des Faschismus, die die Erde unerwartet freigibt, brechen, beängstigend, die alten Antagonisten sich Bahn.

Der Film, das sind Orte im Piemont und Laien, die Dialogstellen aufsagen aus dem Roman oder sogar vorlesen. Sie funktionieren wie Masken im antiken Theater. Sie verkörpern nicht Figuren, sondern leihen der Sprache ihren Körper. Ihre Mühen mit den Texten, die zu richtigen Kämpfen ausarten, stellen, gesprochen, Literatur da. Was an ihr geschrieben ist. Das Paradox variiert Mallarmés Verräumlichung von Poesie. Es ist unpersönlich gemachte Erfindung, die dennoch auf unerhörte Weise mit diesen Leuten und den realen Orten, die sie durchwandern, verbunden ist. Wodurch der Film hinausgeht über die Erinnerung an die blutige Zeit der Resistenza.

Die „Dialoge mit Leuko“ fußen auf griechischen Fabelfiguren, und auch, wenn man als Kind nicht Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ verschlungen hat, die Situationen kommen einem vor wie fernes Vertrautes. Immer sind es Gespräche zu zweit, Rede und Gegenrede, unaufgehoben, in einem natürlichen Dekor, der wie getrennt bleibt von den Figuren. Im monologischen Erzählkino ist alles auf den handelnden Menschen ausgerichtet. Hier zerstreut sich mit den Blicken der Sprechenden die alte fiktive Einheit von Person, Ort und Zeit.

Die Dialoge haben einen Angelpunkt, eine Achse gemeinsam. Immer geht es um den Unterschied, um eine Trennungslinie, deren Willkürlichkeit einem nicht weniger gewalttätig vorkommt als die Willkür und Barbarei, der sie ein Ende setzen soll. Herakles tötet den grausamen Lytherses, damit es mit den Menschenopfern, die die Erde befruchten sollen, endlich ein Ende hat. Als ob ein letztes Opfer passieren müßte, um eine neue Ordnung zu gründen. Danach genügen dann stellvertretend Tieropfer. Im letzten Dialog, für zwei arme Hirten, die Hüter der Herden anderer, ist es nur noch ein Ritual mit Milch und Honig. Im zweiten Teil des Films wird erzählt, wie von den Partisanen eine Spionin liquidiert wurde. Man begnügte sich nicht damit, sie zu töten. Sie wurde verbrannt. Zum Zeichen.

Lévi-Strauss sagt, daß die Sprache nicht nach und nach entstand. Daß sie ein Einbruch war, eine Mutation. Der Sprung von der Natur in die Kultur geschah ganz plötzlich. Die Benennung distanzierte, sie verdrängte die Herrschaft der Dinge. Als symbolische Ordnung, die ihren Teil gesellschaftlicher Gewalt kanalisiert, ist auch die Kunst ein System, ein Gesetzeskodex. Auch im Unterschied zu anderen stellt sie, wo sie lebendig ist, den Untergrund von Chaos und Ungeformtheit mit dar, auf dem sie ruht.

Ein Ochsenkarren zieht im dritten Dialog den blinden Teiresias und Odysseus, der es noch nicht ist, durch eine offene Landschaft über einen Weg, der wie eine Metapher für Schicksal ist. Der kleinste Erdbuckel, der lächerlichste Kieselstein hat seine Resonanz in den Stimmen der beiden Sprecher. Nur eines möchte im Grunde Odysseus wissen von dem blinden Alten, der so viel vom Leben gesehen hat, er möchte den Unterschied der Unterschiede beschrieben haben, der, scheint es, alle Ungleichheit generiert: Wie waren die sechs Jahre, in denen Teiresias als Frau gelebt hat. Der Alte kann darüber nichts sagen.

Im Kino sind Bilder nicht alles. Der Schwarzfilm, der deren zwanghaften Ablauf unterbricht, bewirkt, daß man bemerkt, was man im allgemeinen nur unbewußt erfährt, daß Rhythmus, vor aller Abblidung, ein elementares Gestaltungsmittel des Kinos ist, das einen aus den Angeln hebt. Auf einer Stelle Schwarzfilm zwitschert ein Vogel. Er zwitschert weiter, sagt man sich, erinnernd, daß die Bilder vorher ihn überdeckten.

Der Film, zerlegt in seine Komponenten, fügt sich anders zusammen zu Zeichen, die, auch wenn sie nur Bild von Bildern sind, in ihren Lücken, da wo ihre Teile aufeinanderstoßen, wilde Töne erzeugen. Ein Vorschlag zur Transkribierung des Titels: Wolke mit Trugbild übersetzen und für Widerstand böte sich an Granit.

Die Mischungen, die Monstren erzeugen, sind im Kino nicht nur erlaubt, sie sind, wenn man es recht bedenkt, sein Gesetz. Solche Zwitter zu produzieren hat vor ihm kaum eine Kunst geschafft. Vor allem seitdem die Leinwand redet, wimmelt es von Chimären und Kentauren und Werwölfen. Sogar Götter wandeln zuweilen wieder unter den Menschen.

Frieda Grafe

(„Süddeutsche Zeitung“, 30. Mai 1979. Wieder abgedruckt im gerade erschienenen Band 9 von Frieda Grafes „Ausgewählten Schriften“, hg. von Enno Patalas: „Film für Film“. Verlag Brinkmann & Bose, Berlin 2006, S. 179-182)

***

Weiteres zu Trugbild und Granit

Unverzichtbar sind nach wie vor einige Hefte der alten „Filmkritik“ – April 1979, mit einer Materialsammlung von Manfred Blank; November 1980, mit Filmbeschreibung, -texten und -photos; Dezember 1980, mit weiteren Texten zum Film, von Franco Fortini, Jérôme Prieur u.a., sowie dem Filmentwurf „Zwei Schwestern“ von Cesare Pavese.

***

Zusammenstellung: Klaus Volkmer Photos aus der Filmkopie: Gerhard Ullmann

Dank an: Erich Brinkmann, Bernard Eisenschitz, Helmut Färber, Markus Nechleba, Mark Peranson, Dietmar Schings –

– und an D.H. & J.-M.S.




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Freitag, 14. April 2006

Reisen in die Utopie


Godard im Museum

Auf die April-Ausgabe der Cahiers hatte ich schon länger gewartet; ich war gespannt, was über die Godard-Ausstellung im Centre Pompidou, die Ende des Monats eröffnet wird, zu lesen sein würde. Zumal das Projekt insgesamt, seit ich vor zwei Jahren zum ersten Mal davon hörte, immer mysteriös geblieben war und jede zusätzliche Information die Unklarheit eher vergrößerte.

Von vorne: "Collages de France" sollte der Titel sein, geplant war eine Kooperation zwischen Godard zuhause in Rolle vor einer Webcam, dem Ausstellungsort Le Fresnoy, Studio National d’Art Contemporain bei Tourcoing (ein Vorort von Lille, über das F. neulich gesagt hatte, es sei die einzige französische Stadt, die etwas von Los Angeles habe), und dem Centre Pompidou. Ein Produzent in seinem Heimstudio, ein Distributionsmedium, zwei Ausstellungsorte. Puissance de la parole. Damals konnte man in einer kleinen Notiz lesen, Godard werde neun Monate lang jeden Monat - meist via Internet - ein Gespräch mit einem Philosophen, Literaten, Filmemacher, Wissenschaftler etc. führen. Das Material wolle er dann mit Bildern und Tönen montieren und überblenden, die aus Fernsehsendungen, aus Filmen, Zeitschriften, letztlich aus allen denkbaren Quellen stammen könnten. Ich stellte mir das ganze als gegenwartsbezogene Fortsetzung der Histoire(s) du cinéma vor, in denen ein Kapitel ja auch schon um längeres Gespräch mit Serge Daney herumgebaut war.

Allerdings war schon das "Collages de France"-Projekt mit seiner Entscheidung für das Centre Pompidou eine Modifikation von Godards ursprünglicher Idee. Eigentlich hätte er sich am Typus der Vorlesung orientieren und diesen "cours exposé" am Collège de France halten wollen. In einem Exposé schrieb er: "Stellen wir uns die Vorlesung von Bergson, Sartre oder Deleuze am Collège de France vor. Ein Mann steht als einfacher Lehrer hinter einem Tisch, oder noch nicht einmal, auf einem Podium. Wie ein Politiker: Er spricht. Stellen wir uns jetzt Heisenberg oder Laurent Schwarz vor, die etwas über Physik erzählen. Auch sie reden, aber zusätzlich schreiben sie Hieroglyphen auf eine Tafel, die manchmal schwarz, manchmal weiß ist, und zu der die Kreide oder der Stift die Ergänzung darstellen. Wenn man nun die Erinnerung an diese denkwürdigen Augenblicke auf einem zeitgemäßen Medium erhalten wollte, dann bräuchte man ein Aufnahmegerät, etwas Film und vielleicht ein bisschen (künstliches) Licht. Stellen wir uns jetzt Lavoisier oder Marie Curie vor, auch sie in einer Unterrichtssituation, aber diesmal zusätzlich mit Beweisen für das, was sie sagen, mit einer Versuchsanordnung und Stoffen, die es ihnen erlauben, Experimente durchzuführen und nicht nur zu zeigen, wo der Schlüssel zu bestimmten Problemen ist, sondern auch, wo das Schloss sich befindet. [...] Stellen wir uns jetzt einen weiteren Mann vor, einen vom Kino, der darüber eine Vorlesung hält, wie es sie heute haufenweise gibt. Üblicherweise macht er nichts anderes als Bergson, er begnügt sich damit, Worte auf Worte zu stapeln, wie es der Autor von Clio nannte. Er versucht immer nur über das Kino zu sprechen, oder sogar an seiner Stelle. Er versucht nie, es zu zeigen oder anschaulich zu machen, außer vielleicht durch Filmausschnitte." Godards Antwort darauf sollte eine Art praktische Beweisführung dessen sein, wie die Bilder denken. Einem Untersuchungsrichter würde man auch nicht glauben, wenn er sich nur auf die Aussagen verlässt und die eigentlichen Beweise ignoriert, sagt er.

Ich weiß bis heute nicht, ob die Veranstaltungen in Le Fresnoy, die Konferenzschaltungen, die Montagearbeit, stattgefunden haben wie vorgesehen. Im Netz findet man Pressemitteilungen, Ankündigungen, aber keine Berichte über das, was tatsächlich geschah. Gibt es diese neun Filme, einen pro Monat? Wenn ja, wo werden sie zu sehen sein?

Jetzt in den Cahiers also ein Update, wenige Wochen vor der Eröffnung dessen, was aus den "Collages" geworden ist. Das Schöne ist, dass auch weiterhin keiner so genau zu wissen scheint (oder es sagen will), was in zwei Wochen im Beaubourg zu sehen sein wird. Dominique Païni, Leiter der Cinémathèque Francaise von 1991 bis 2000, in den letzten fünf Jahren im Centre Pompidou für alles zuständig, was nicht im engsten Sinne "Bildende Kunst" war, rekapituliert auf ein paar Seiten die verschiedenen Etappen der Planung. Mit Schere Klebstoff und Pappe bewaffnet habe Godard nach der Entscheidung für das Centre Pompidou angefangen, Raummodelle zu bauen und sich zu überlegen, wie das Kino in den Kunstraum zu übertragen sein könnte. Ihm schwebte, so fasst Paini es auf, eine Verräumlichung dessen vor, was er in den Histoire(s) in eine zeitliche Form gebracht hatte. In den Histoire(s) liefen die Bilder vor dem Zuschauer entlang, jetzt soll sich der Zuschauer an den Bildern entlangbewegen (Païni scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, dass das etwas mit Benjamins Begriff des Flaneurs zu tun habe).

Was für Bilder das sein werden, die vom 24. April bis zum 14. August auf 1100 Quadratmetern ausgestellt werden, bleibt diffus. Es geht darum ein ziemliches Raunen durch die Seiten des Hefts. Neue Arbeiten von Godard werden beschrieben und besprochen, von denen man nicht weiß, ob oder in welcher Form sie in der Ausstellung vorkommen. Von Schwierigkeiten des Budgets ist die Rede, deren Konsequenzen im Dunkeln bleiben. Von Godard selbst kein Wort dazu. Viel Text, insgesamt ein großes Fragezeichen. Eine der Arbeiten, die laut spärlicher Informationen auf den Seiten des Centre Pompidou am 24.April Premiere haben wird, heißt Vrai faux passeport, der Untertitel ist "Sur des occasions de porter un jugement à propos de la façon de faire des films". Das Ganze heißt jetzt auch nicht mehr "Collages de France", sondern "Voyage(s) en Utopie".

Godard hat einmal vom "großen Kampf zwischen den Augen und den Sprachen" gesprochen. Die Augen seien die Völker, die Sprache die Regierung. Vielleicht haben die Texte, die jetzt zu lesen sind, deshalb wenig mit dem zu tun, was zu sehen sein wird. Was "die Regierung" tut, ist etwas anderes als das, was "das Volk" sagt.

Volker Pantenburg




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