new filmkritik für lange texte |
... Vorige Seite
Montag, 13. Januar 2003
Das Licht des Nordens (Maurice Pialat: A nos amours ) Von Jörg Becker Bunt, unbestimmt und müßig zeigt sich in den ersten Bildern das Leben zur Ferienzeit. Die Sonne sticht auf das helle, leuchtende Deck einer Yacht, an deren Bugspitze ein Mädchen sich gegen die Reling lehnt; eine Rückenansicht, sein Haar und Kleid flattern im Wind. Voraus zum weiten, vagen Horizont blickt das Mädchen Suzanne, gleichsam eine Galionsfigur über den Wellen, die die Launen des Meeres beschwichtigt - ein mächtiges emblematisches Motiv. In den grellbunt gefärbten Figurenschnitzereien fanden sich früher die Individualität eines Schiffes, einer Besatzung, einer ganzen Küstenbevölkerung sinnbildlich dargestellt. Wenn sich Suzanne am Schluß der Einstellung umwendet, werden gleich im nächsten Bild die Blicke dreier Männer, die hinter ihr stehen, einer am Steuer des Schiffes, auf ihr ruhen. Das Verhältnis zwischen Suzanne und dem jungen Luc wird eingeführt. Man sieht sie, wie sie am Tag zu ihm geht - sie überquert eine Landstraße und steigt die Böschung hinab, wo er im Grünen sein Zelt aufgebaut hat. Je stärker Luc bei ihrer Begegnung seinem Verlangen nach Suzanne Ausdruck gibt, desto mehr entzieht sie sich seinen Berührungen. Ihre Ausflüchte, sein ahnendes, bitteres Mißtrauen, dem sie, es zu zerstreuen, zu entgegnen sucht - in dieser Szene ist ihre Ablösung von ihm vorgezeichnet, sie ist entschieden. Im roten Abendlicht am Rande der Autoroute trennen sie sich voneinander. An dieser Stelle entsteht in der Komposition des Landschafthintergrunds und in der Tönung, dem besonderen Tageslicht, ein für den Film außergewöhnliches Bild: unter ruhigem, gesättigtem Sommerhimmel, in tiefer Sonnenwärme des späten Tages gleitet die graue Fahrbahn in einer Windung aus dem Blick, verschwindet in einem Streifen von dunklem Piniengrün geschwungener Waldhügel; gegen die sinkende Sonne, der ferne Höhenzug in rauchig verwaschenem Blau, geht Suzanne an der Straße entlang. Es ist der Abschied von dem Freund, ihrer ersten Liebe, in dem der Abschied von einer Zeit sichtbar wird. Suzanne in den Kulissen des Hafens; Lokale, Bars, in denen sie von Matrosen umgeben ist, die sich für sie interessieren. Die jungen Seeleute stecken adrett wie Musical-Akteure in ihrer weißen Leinenkluft. Einmal sieht man das Bild eines Marinebootes im nächtlichen Hafen, dann, nach einem Schwenk, am Kai unter Lampions ein Tanzfest, am dem auch Suzanne teilnimmt. Es kommt zu einer kurzen Begegnung zwischen ihr und einem Amerikaner. In einer Diskothek spricht er sie an. Nach ihrem Beischlaf abseits vom Weg im Unterholz bedankt sich der Mann mit einem beiläufigen Nachts klettert sie über die Mauern der Ferienherberge. Im Schlafraum entkleidet sie sich leise auf ihrem Bett. Die scheinbar schlafenden Freundinnen schauen schon gespannt von der Seite herüber. In den kurzen Szenen und skizzenhaften Begebenheiten des Ferienaufenthalts ist ein Entwurf zu dem Bild des Mädchens enthalten aus einem Stadium, in dem es durch Männergeschichten in der vertrackten Erfahrungswelt der Affären rundum bestimmt zu werden beginnt. Eine Weichenstellung. Ein Erkennen teilt sich mit: daß auf der schiefen Ebene zwischen kurzer Befriedigung und unbestimmter Sehnsucht zumindest bei einem von zweien sich etwas unwiderruflich verliert vor den trüben Spiegeln der Selbstbestätigung durch einen anderen. Der Abschnitt am Mittelmeer zu Beginn ist wie ein eigener Film, der wie eine schwache, hindurchscheinende Kontur im weiteren gegenwärtig bleibt. Nun findet man sich auf einmal in der Umgebung städtischen Familienlebens, in der Atelierwohnung eines Kürschners, des Vaters von Suzanne. Das Licht hat sich verändert. (Nach Pierre Bonnard ist das Licht des Nordens, das sich ständig verändert, interessanter als das Licht des Südens - der Maler wird in dem Film von dem Mädchen besonders geschätzt; sie liebt seine Sinnlichkeit.) Der Film folgt Suzanne, wie sie sich zwischen ihrer Familie, den Eltern und dem Bruder, und ihrer Clique bewegt, wie sie sich für den Abend mit Jungen aus dem lockeren Freundeskreis verabredet, mit denen sie schläft. In den Straßen auf der Suche nach einem Zimmer; ihr Liebhaber geht in ein Hotel und erkundigt sich, während Suzanne draußen wartet. Dann schneidet der Film in ein atemloses, erhitztes après hinein; die zwei Körper erschöpft aneinanderliegend; ein sexueller jour fixe, dem neben der Freiheit, die er bedeutet, auch eine Beliebigkeit anhaftet. Wie von sportlicher Kollegialität, das ausgelassen triumphierende Lachen. Es liegt ein Drang zu vergessen in diesem Nehmen, Erbeuten, eine Selbstvergessenheit und ein Vergessen von allem, eine Auflösung in auswegloser Wiederholung. Als Suzanne in der Nacht heimkommt, ist der Vater, mit dem es vorher eine heftige Auseinandersetzung um ihr Aussehen gegeben hatte, noch auf. Er spricht ruhig, fast versöhnlich; er täuscht sich nicht über ihre Lebensweise, ihren Umgang. Träumerisch erinnert er sich der Kindheit seiner Tochter, eines früheren Glücks, das er jetzt nicht mehr an ihr wahrnimmt. Die Lebensauffassung des Vaters hat nur in seiner Vorstellungswelt, nicht mehr in der Familie, die um ihn ist, überlebt. Im Laufe des Gesprächs traut er Suzanne an, daß er die Familie verlassen wird. Am Morgen eröffnet der Bruder seiner Mutter, der Vater sei fort. Sie steht versteinert im Raum. Nichts wird mehr sein wie früher. Es gibt das Bild eines lakonischen, exklusiven Zusammenhalts, ja einer Spur von innerer Komplizenschaft zwischen Vater und Tochter - aus dem selben Stoff, so heißt es gemeinhin. Gerade deshalb sieht er an dem erwachsen werdenen Mädchen, in dessen Haltung und gleichsam durch es hindurch die eigenen Maximen zuschanden werden, begreift möglicherweise den Verfall der ihm gültigen, zu bewahrenden Ethik. Etwas ist abgeschlossen; nichts wird hier mehr berühren. So ist die resignative Toleranz des Vaters zu verstehen, als er Suzanne am Ende zum Flughafen begleitet, immer werde sie mit seiner Hilfe rechnen können. Suzanne fliegt mit einem Freund nach San Diego. Ihr Vater, als er im Autobus zurückfährt, ist wie gezeichnet von einer schweren Krankheit. Zuletzt zeigt ein Bild den Blick in die Dunkelheit eines Tunnels, in die der Bus eingetaucht ist. Die beiden Personen ähneln einander im Charakter und in ihren Konsequenzen, und der Geist ihrer Geschichte ist der eines unweigerlichen Zerfalls, im Zeichen eines intimen und zugleich allgemeinen Sturzes. Nach dem Fortgang des Vaters kommt es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, sobald Suzanne einmal nach Hause zurückkehrt. Ihre Mutter verfällt in hysterische Ausbrüche, der ältere Bruder beschimpft seine Schwester und schlägt auf sie ein. In Szenen blindwütigen Hasses offenbart die Seite der Bitterkeit in dieser Geschichte dramatisch ihre Verzweiflung; wie zurückgebliebene Versprengte warten Mutter und Sohn, die Betrogenen, in der großen Wohnung auf Suzanne. Für die Mutter ist das Mädchen längst zur Hure geworden, sie macht es für das familiäre Elend verantwortlich; einmal nennt sie es ein Monstrum. Suzanne ist das Mädchen, das inmitten der gleichaltrigen Schulfreunde bereits auf den ersten Blick auffällt, eine dominierende Gestalt. Man ahnt, was physische Präsenz heißen mag, angesichts ihrer noch wenig sublimen, herausfordernden Körperlichkeit. In den Zügen von Suzanne - sie sitzt im Regen auf der Bank einer Bushaltestelle - gibt sich in wenigen Einstellungen ein Anflug von tiefer Melancholie zu erkennen, darin eine Trennung von Handeln und Gefühl in ihr zum Ausdruck kommt. Das Bild von Suzanne, eins mit sich in Momenten der Lust wie in denen des häuslichen Schreckens, schlägt um in eines der Verlassenheit. Eine Rückkehr zu Luc, der sich nach einer Begegnung in der Stadt wegen einer ihrer Affären verletzt zurückgezogen hatte, ist für sie unmöglich geworden; als sie einander einmal in einer Boutique wiederbegegnen, spürt man, daß er, seine Liebe zu ihr, durch die bloße Anwesenheit Suzannes gedemütigt wird, in diesem Augenblick haßt er sie dafür. Die Variation einer Geschichte, wie sie in A bout du souffle von Michel erzählt wird: Ein Mädchen, das mit tout le monde geschlafen hat, weist den, der es wirklich liebt, eben aus dem Grund ab, weil es sich mit so vielen Männern eingelassen hat. Nichts vermag ein Versprechen für das Kommende zu bedeuten; es gibt nur eine insgeheime Sehnsucht Suzannes nach dem verlorenen Moment des Glücks. Als Luc ihr vergeblich seine Liebe gesteht, entsinnt sie sich einer Situation, mit ihm, die ihr im selben Augenblick mit Gewißheit vor Augen geführt hat, daß sie niemals werde noch einmal so glücklich sein können. Man drängt Suzanne zur Heirat mit dem derzeitigen Freund, einem jungen Mann, der gutbürgerlichen Kreisen angehört und der sich seinerseits um Suzanne bemüht hat. In einer langen Szene gegen Ende sieht man eine Feier, auf der die Partner Suzannes und des Bruders anwesend sind, daneben einige Freunde und, im Gespräch exponiert, der Schwager des Bruders, der das Modell des modernen Kulturbourgeois abgibt. Die Plauderei bei Tisch vermittelt eine Art leichthin überheblicher Konversation in Dingen der Kunst, die sich von keinem Gegenstand zu lösen vermag, ohne nicht ein je persönliches und möglichst eigenwilliges Etikett an ihm hinterlassen zu haben. In ihrer Bedeutung für die Geschichte des Films und durch ihre besondere Gestaltung hebt sich eine Szene aus dem Geschehen hervor: das nächtliche Gespräch zwischen Vater und Tochter, in dem er sein Fortgehen ankündigt (eine lange Sequenz aus dieser Szene zeigt ausschließlich die Personen in sehr nahen Einstellungen). Anfangs von einer leichten Vergangenheit, treten sie allmählich aus ihrer Rolle heraus, aus der von Vater und Tochter, und möglicherweise zugleich, so erweckt es den Eindruck (da der Darsteller des Vaters auch die Regie des Films geführt hat), aus ihren Funktionen als Regisseur und Protagonistin; in dieser Betrachtung erklärt sich womöglich der Charakter des Improvisierten, den diese Szene besitzt. Die unverdeckte Beziehungslosigkeit vor Augen, vermag er sich als Vater nicht mehr hervorzuspielen. In dem Bewußtsein, daß der Einfluß auf seine Tochter für immer verloren ist, findet er sich in der Lage, ihr gelassen zu begegnen. In der Gewißheit, daß sich ihre Sphären unumkehrbar voneinander fortbewegt haben, ist der Grund angelegt für die stupende Nähe zwischen den beiden Personen, die wie entlastet wirken, von schwerer Bürde befreit. An ihnen erscheint die Nähe wie eine Rückkehr zu einer nackten, ungebundenen Begegnung, die es nie zuvor hätte geben können. Mutter und Bruder stehen noch im Bann eines zwanghaften Zusammenhangs; der Terror verbindet sie. Die Personen des Vaters, der Tochter hingegen, die jegliche Gekränktheit und Eifersucht zurückgelassen haben, sie befinden sich in ihrer resignierten Nähe zueinander wie beiderseits eines klaffenden Abgrunds, dünnere Luft umgibt sie. Eine heillose Nähe wohl, die auf dem endgültigen Riß gründet. In ihr, da keine Hoffnung mehr ist, tritt die Wahrheit dieses Films zutage. Aus: Filmkritik Nr. 327-328 * 28. Jahrgang, Heft 3-4/1984 * S.107-111 mbaute, 13. Januar 2003 um 22:20:38 MEZ ... Link Donnerstag, 9. Januar 2003
Jean-Marie Straub zum 8. Januar 2003 Eine kleine Sammlung von Texten und Materialien (Übersetzung und Zusammenstellung: Manfred Bauschulte) Einstieg ein Text zu "SICILIA": Und es geschieht etwas Merkwürdiges. Das Genie, das im GESPRÄCH IN SIZILIEN wirkt, hält das Pendel, das zwischen der abstrakten Dichtung und härtesten Verismus schwingt, einen Augenblick an, so daß sich das Unerhörte ereignen kann: die grausamste Anklage wird zur reinsten Poesie, die zauberischste Schönheit zum furchtbarsten Schrecken. Das ist es, was gleich zu Beginn des GESPRÄCHS sich abspielt, in jener Szene auf dem Dampfer nach Sizilien, in der Schilderung der Hände, die nach einer Orange suchen, in den Worten "Ein Sizilianer ißt nie am Morgen" – dem Präludium einer der gültigsten Stilbewegungen der Moderne, deren Qualität hinreichte, um das Bewusstsein und die Imagination einiger großer Regisseure in Gang zu bringen, so dass sie begriffen, was nötig wäre: eine poésie pure der optischen Härte. Dies wäre das Bild, das Vittorini ihnen böte, das er uns bietet: Abstraktion und Gegenstand, ja Prosa und Lyrik selbst, erscheinen in seinem Werk als Identitäten. Ihr Gegensatz bezieht sich auf etwas Untrennbares, auf die Substanz des Dichters, auf Vittorinis Sein. "Aber im Innersten war ich erregt durch gegenstandslose Leidenschaften, und ich glaubte das menschliche Geschlecht verloren, ich senkte den Kopf und es regnete, ich sprach kein Wort zu meinen Freunden, und das Wasser drang in meine Schuhe". Aus: Alfred Andersch, Nachricht über Vittorini. In: Elio Vittorini, Offenes Tagebuch 1929 bis 1959. Deutsch von Eckart Peterich. Walter Verlag. Olten und Freiburg im Breisgau 1959 Biographie Jean Marie Straub: Daten Geboren unter Capricorn am Sonntag nach der Epiphanias in der Geburtsstadt Paul Verlaines ("Et si j’avais cent fils, ils auraient cent chevaux/ Pour vite déserter le Sergent et L’Armée”) und getauft auf den Namen eines der allerersten Kriegsdienstverweigerer (Jean-Marie Vianney, Pfarrer von Ars) in dem Jahr, als Hitler an die Macht kam... Bis 1940 nur französisch gehört, gelernt und gesprochen – zu Hause und draußen. Und auf einmal darf ich draußen nur noch deutsch hören und sprechen und muß es in der Schule (wo wie überall jedes französische Wort verboten ist) "direkt" lernen... Nach der Befreiung Schüler bis zum 1. Abitur am Jesuiten-"College Saint-Clément" (wo ich lernte das Ungehorsam eine nicht nur poetische Tugend ist) und dann ein Jahr im staatlichen Lycée, 2. Abitur. Manifestation gegen die kümmerliche Programmierung der Filmtheater von Metz; erste Kontake mit der französischen Polizei. Von 1950/51 bis 1954/55 Leitung eines Filmclubs in Metz und zugleich Student an der Universität zu Straßburg (51/52) und zu Nancy (52/53 und 53/54). November 1954: Ankunft in Paris mit dem Projekt einer abendfüllenden Filmbiographie: "Chronik der Anna Magdalena Bach"; algerische Revolution; Begegnung mit meiner Frau... Gucke ein wenig Gance (LA TOUR DE NESLE), Renoir (FRENCH-CANCAN, ELENA ET LES HOMMES), Rivette (LE COUP DE BERGER), Bresson (UN CONDAMNÉ A MORT S’EST ECHAPPÉ), Astruc (UNE VIE) beim Drehen zu. Aus: FILMSTUDIO 48 Zeitschrift für Film – 1. Januar 1966 Über Carl Theodor Dreyer Féroce par Jean-Marie Straub Aus : Cahiers du Cinéma, numéro spécial Carl Th. Dreyer, numéro 207 décembre 1968. Fortini/Cani In einigen grundlegenden Einstellungen des Films, die offensichtlich an eine Vergangenheit anschliessen, die auch Zukunft sein könnte, wenn jemand es unbedingt wissen wollte (die befriedeten Berge, der blühende Oleander, das Panorama von Florenz, der Hügel am Schluß) gibt es einen fließenden Wechsel zwischen Entsagung (rinuncia) und Versprechen (promessa). Die Entsagung kann auch in ein Versprechen münden. Die Abwesenheit des Menschen, wo sie am Vollkommensten ist, (weil auch die Stimme verstummt, wie in den Einstellungen von den Apuanen) bestätigt "die ungeheure Gegenwart der Toten", aber nicht allein jener Toten, nicht allein der Opfer der Naziverfolgungen. Wenn die Gegenwart von außerhalb der Gegenwart gesehen wird, dann wird sie ein Ort, auf den sich die Geister der Vergangenheit und der Zukunft projezieren lassen. So kann schließlich auch der Raum der apuanischen Alpnen ein Versprechen der Bewohnbarkeit enthalten; und auch Florenz kann bewohnbar werden, solange es von den Hügel betrachtet wird. Diesem leisem Vesprechen wird jedoch ständig in anderen Einstellungen widersprochen vom Lärm der Gegenwart oder dem Gesetz der Vergangenheit mit seiner unbetretbaren Heiligkeit (das Glockengeläut, der Verkehr, die Stimme des Rabbiners, die den Erzähler übertönt). "Nicht hier aber anderswo" ist der beherrschende Gedanke des Films. Das bedeutet aber in Wahrheit: "Nicht heute sondern gestern und morgen". Daher ist die tiefe Intention des Films nicht grundsätzlich von meiner eigenen Aussage verschieden. Der Film trägt sie mit anderen Instrumenten vor, verleiht ihr eine gesteigerte Bedeutung. Das Panorama der Apuane sagt nicht nur, was hier vorgefallen ist und zeigt nicht nur, wie viel Schweigen über den Orten alter und jüngster Verbrechen liegt. Es sagt auch, dieses Stück Erde ist ein bewohnbarer Ort für die Menschen, es ist ein Ort, den wir bewohnen müssen. Deshalb fordert Straub von mir zu verstummen. Meine Stimme muss verstummen, weil wie es in "Le temps retrouvé" heißt, "damit das Gras nicht des Vergessens, sondern des ewigen Lebens sprießt, der derbe, harte Rasen fruchtbarer Werke, auf dem künftige Generationen heiter und ohne Sorge um die, die darunter schlafen, ihr ‘Frühstück im Freien’ abhalten werden". Auszug aus: Franco Fortini. Una nota 1978. Per Jean-Marie Straub Franco Fortini, I cani del Sinai. Con una nota 1978 per Jean Marie Straub. Torino 1979. filmkritik, 9. Januar 2003 um 01:10:29 MEZ ... Link Donnerstag, 5. Dezember 2002
Die Blicke, die verändern "Das schwarze Schamquadrat" von Heinz Emigholz von Manfred Bauschulte "Wirklichkeit des Spiegels – die Wirklichkeit ist, insofern sie Spiegel ist. Das ist der Mensch. Aber wenn der Mensch verschwindet, bleibt die Erde, bleiben die unbelebten Dinge, die weglosen Steine. Wenn die Erde verschwindet, bleibt all das, was nicht die Erde ist. Und wenn all das, was nicht die Erde ist, verschwindet, bleibt das, was nicht verschwinden kann – man fragt sich übrigens, warum -, weil man es nicht einmal denken kann, und das ist zum Schluss die Wirklichkeit - so weit vom Geist und vom Spiegel des Menschen entfernt, dass er es nicht einmal denken kann". – Diese Stelle findet sich in "En vrac" (1956) von Pierre Reverdy. Schon viele Male habe ich mich bei ihr aufgehalten. Jetzt und hier will ich sie einigen Überlegungen zu einem neuen Buch mit Bildern und Texten von Heinz Emigholz voranstellen. Die Wirklichkeit von Pierre Reverdy bildet einen ebenso phantastischen wie präzisen Fluchtpunkt: Das Fliehende, das ist das Bleibende. Der Bleibende, das ist der, der flieht. - Anfänglich begegnen mir so auch die Notizen und Zeichnungen von H. E. . Es gibt keine Hierarchie, keine Ordnung, kein System, keine Bedeutung, keine Festlegung. Das einzige aufzufindende Auswahlkriterium in diesem Buch – darauf weist der Verleger Martin Schmitz in seinem Vorwort zurecht hin – ist der Versuch anhand einer Auswahl von 122 Filmen eine eigene "Filmgeschichte" zu entwerfen. Diese Filmauswahl wurde in den Jahren von 1993–2000 jeweils Dienstags im "Arsenal" in Berlin gezeigt. Im Buch wird sie mit kurzen Filmnotizen eher belegt als begründet. Aus dieser Filmauswahl und den Notizen ragt ein Fall heraus: das ist der Fall Carl Theodor Dreyer, speziell der Film "Ordet". Er steht mit weitem Abstand an der Spitze der ewigen Bestenliste von H.E.. Carl Theodor Dreyers filmische Versuche, Erzählräume zu schaffen und nach allen Seiten perspektivisch zu öffnen: – sie scheinen mir das wichtigste Einstiegsmotiv für die vielen Bewegungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen von H.E. zu sein. Das Stichwort "Erzählräume" umschreibt dabei den großen Reichtum an Perspektiven in dem vorliegenden Buch wie auch dessen Erzählhaltungen. Der Zeichner und Autor H. E., seit 1948 an vielen Plätzen und Orten dieser Erde unterwegs, hat sehr genau hingesehen, gefilmt und sich überraschen lassen. Er hat gezeichnet und notiert, was ihn faszinierte. Seine Notizen und Bilder sind Darstellungen einer nie still stehenden, stets veränderlichen Wirklichkeit, gleichzeitig sind sie die reproduzierten Dokumente eines solchen Nie-still-stehens, und sie fragen danach, welche Mächtigkeit der Kraft veränderlicher Blicke und Striche selbst innewohnt. Als Schlüssel zu dieser Kraft veränderlicher Blicke will ich noch einmal Pierre Reverdy zitieren, jetzt mit einem Gedicht: "Les regards qui changent/Die Blicke, die verändern" (1930/1949): "Um vier Uhr werde ich da sein Jemand wird bestimmt vorbeikommen Dann werde ich die Tür öffnen Die Tür öffnet sich wie ein Auge Und ich sehe in das Innere Ich habe große Angst einzutreten Und weiß nicht was sagen Die Stufen hinaufsteigen Bis in den dunklen Flur Und dort vielleicht das Zimmer Vielleicht nichts Vielleicht eine Mauer Deshalb weil die Dämmerung kommt Ich werde da sein und warte auf dich Ich warte, dass ein Auto vorbeifährt Das meine Sorge fortträgt Dann dem nächsten Bahnhof entgegen Ich folge dir wir gehen weiter Schließlich wird vom Haus gegenüber Lächelnd nach mir Ausschau gehalten". Jede Zeile in diesem Gedicht arbeitet mit Andeutungen von Begegnungen, Beziehungen und Ereignissen. Jede Zeile erprobt ihren Rhythmus und ihre Aussagegehalt. Jede Zeile dehnt sich in der Zeit ihres Sagens aus. Jede dieser Zeilen in ihrer Veränderlichkeit erprobt die eigene Mächtigkeit. Steht man vor einem Haus, dann kann man niemals drei Wände auf einmal sehen. Steht man vor einem Haus, dann wird es schwierig zwei Wände auf einmal zu sehen. Steht man direkt vor einer Hauswand, dann wird es schwierig die Wand zu sehen. So kann, ja muß geradezu jede Haltung und jeder Blick eine veränderliche Perspektive einnehmen und transportieren. So wie jede Zeile in dem Gedicht von Pierre Reverdy ihre Veränderlichkeit transportiert, so transportiert jeder Blick, jedes Notiznehmen eine veränderliche Perspektive. Ebenso natürlich wie radikal verfährt Heinz Emigholz in seinen Texten und Zeichnungen mit solchen veränderlichen Perspektiven. Er verleiht ihnen eine spielerische und veränderliche Intensität, eine, die sich ständig leicht verschiebt, die vorübergleitet, sich ausdehnt, das Einmal-Fixierte wieder zersetzt oder loslassen kann. Der Melancholie, von der das Buch im Zentrum handelt, ist zutiefst eine solche veränderliche Intensität eingeschrieben. Sie bildet "das schwarze Schamquadrat" inmitten aller Veränderlichkeit. Sie ist die Intensität selbst, die alle Veränderlichkeit zuinnerst beweist. In Ausdehnung und Schmerz, in Rhythmus und Überraschung, in Erzählung und Aussichtslosigkeit sehen sich in der Melancholie die veränderlichen Kräfte der Imagination und Wahrnehmung mit den Bedingungen der körperlichen Anwesenheit im Raum konfrontiert. Hier will ich mit einer Filmbeschreibung von H.E. schließen, die etwas von dem hier Entwickelten und Gesagten exemplarisch verdeutlicht und noch einmal so zuspitzt, wie es mir beim Schreiben jetzt nicht möglich ist: "Dienstag, 7. Januar 1997. Au hasard Balthasar (1965) von Robert Bresson, der sagt , Kinematografie sei eine neue Art des Schreibens, und damit auch ein neuer Weg des Fühlens. Ein so facettenreiches Gefühlsgebäude, dass man es aufgrund seiner im andauernden Wechsel ausgestrahlten Perspektiven kubistisch nennen könnte. Der Fixpunkt - oder Schicksalskern - seines Films ist ein außerhalb unserer Erfahrung liegender Ort. Bressons mitfühlende Beschreibung versucht ihn zu konstruieren: Das Bewusstsein einer benachbarten und doch unbekannten Existenz. Das eines Esels, eines benutzten Tiers, dem keine Sprache zuerkannt wird, in dessen Augen wir aber eine wissende Zeugenschaft erahnen. Aus der Schwärze der Erkenntnis heraus folgen wir der Bahn und der gedemütigten Energie dieses Blickes auf uns – beobachtete, verdammte und gespiegelte – Menschen". Termine: Sonntag, der 8. Dezember 2002 um 13 Uhr Matinee mit Heinz Emigholz "Das schwarze Schamquadrat", Lesung Filmgalerie 451, Torstrasse 231, 10115 Berlin Mittwoch, der 11. Dezember 2002 um 19 Uhr Film und Lesung mit Heinz Emigholz "Das schwarze Schamquadrat", anschließend Empfang Arsenal Kino, Potsdamerstrasse 2, 10785 Berlin Heinz Emigholz Das schwarze Schamquadrat 288 Seiten, Erzählungen und Essays, Zeichnungen und Fotos, Berlin: Martin Schmitz Verlag, 2002 Euro 18.50 filmkritik, 5. Dezember 2002 um 14:13:22 MEZ ... Link ... Nächste Seite
|
online for 8451 Days
last updated: 10.04.14, 10:40 Youre not logged in ... Login
Danièle Huillet – Erinnerungen, Begegnungen
NICHT VERSÖHNT (1965) *** Jean-Marie Straub – Danièle und ich sind uns im November 1954 in Paris begegnet – wir erinnern uns gut daran, weil das der Beginn der algerischen Revolution war. Ich war mehrmals per Autostop nach Paris gekommen, um Filme zu sehen, die es bei uns nicht gab, LOS... by pburg (05.10.07, 11:58)
UMZUG
Nach knapp 2000 Tagen bei antville und blogger machen wir ab jetzt woanders weiter. Unter der neuen Adresse http://www.newfilmkritik.de sind alle Einträge seit November 2001 zu finden. Großer Dank an antville! Großer Dank an Erik Stein für die technische Unterstützung! by filmkritik (08.05.07, 15:10)
Warum ich keine „politischen“ Filme mache.
von Ulrich Köhler Ken Loachs „Family Life“ handelt nicht nur von einer schizophrenen jungen Frau, der Film selbst ist schizophren. Grandios inszeniert zerreißt es den Film zwischen dem naturalistischen Genie seines Regisseurs und dem Diktat eines politisch motivierten Drehbuchs. Viele Szenen sind an psychologischer Tiefe und Vielschichtigkeit kaum zu überbieten – in... by pburg (25.04.07, 11:44)
Nach einem Film von Mikio Naruse
Man kann darauf wetten, dass in einem Text über Mikio Naruse früher oder später der Name Ozu zu lesen ist. Also vollziehe ich dieses Ritual gleich zu Beginn und schreibe, nicht ohne Unbehagen: Ozu. Sicher, beide arbeiteten für dasselbe Studio. Sicher, in den Filmen Naruses kann man Schauspieler wiedersehen, mit denen... by pburg (03.04.07, 22:53)
Februar 07
Anfang Februar, ich war zu einem Spaziergang am späten Nachmittag aufgebrochen, es war kurz nach 5 und es wurde langsam dunkel, und beim Spazierengehen kam mir wieder das Verhalten gegenüber den Filmen in den Sinn. Das Verhalten von den vielen verschiedenen Leuten, das ganz von meinem verschiedene Verhalten und mein... by mbaute (13.03.07, 19:49)
Berlinale 2007 – Nachträgliche Notizen
9.-19. Februar 2007 Auf der Hinfahrt, am Freitag, schneite es, auf der Rückfahrt, am Montag, waren die Straßen frei und nicht übermäßig befahren. Letzteres erscheint mir angemessen, ersteres weit weg. Dazwischen lagen 27 Filme, zwei davon, der deutsche Film Jagdhunde, der armenische Film Stone Time Touch, waren unerträglich, aber sie lagen... by filmkritik (23.02.07, 17:14)
Dezember 06, Januar 07
Im Januar hatte ich einen Burberryschal gefunden an einem Dienstag in der Nacht nach dem Reden mit L, S, V, S nach den drei Filmen im Arthousekino. Zwei Tage danach oder einen Tag danach wusch ich den Schal mit Shampoo in meiner Spüle. Den schwarzen Schal hatte ich gleich mitgewaschen,... by mbaute (07.02.07, 13:09)
All In The Present Must Be Transformed – Wieso eigentlich?
In der Kunst / Kino-Entwicklung, von der hier kürzlich im Zusammenhang mit dem neuen Weerasethakul-Film die Rede war, ist die New Yorker Gladstone Gallery ein Global Player. Sie vertritt neben einer Reihe von Bildenden Künstlern, darunter Rosemarie Trockel, Thomas Hirschhorn, Gregor Schneider, Kai Althoff, auch die Kino-Künstler Bruce Conner, Sharon... by pburg (17.12.06, 10:44)
Straub / Huillet / Pavese (II)
Allegro moderato Text im Presseheft des französischen Verleihs Pierre Grise Distribution – Warum ? Weil : Der Mythos ist nicht etwas Willkürliches, sondern eine Pflanzstätte der Symbole, ihm ist ein eigener Kern an Bedeutungen vorbehalten, der durch nichts anderes wiedergegeben werden könnte. Wenn wir einen Eigennamen, eine Geste, ein mythisches Wunder wiederholen,... by pburg (10.11.06, 14:16)
|