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Mittwoch, 5. Oktober 2005

Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit: Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol


von Diedrich Diederichsen

1975 beendet Manny Farber die Suche der amerikanischen Filmöffentlichkeit nach dem Verbleib des von Andy Warhol in den mittleren 60ern begonnenen Projekts. Er hat dessen Fortsetzung nämlich endlich lokalisiert: "It is interesting that the true inheritors of early Warhol, the Warhol of Chelsea Girls and My Hustler, are in Munich (…) By osmosis, Warhol´s kinkiness made a big dent in the Bavarian beer-Bratwurst-Bach film capital, Munich. Probably few of the Munichers have seen any Warhol, but (...) Bike Boy, Chelsea Girls are neighbors under the skin to some of (...) Fassbinder´s anti-cinema (...) The Tartar-faced director-actor has done one film a week (practically) since 1971 which is up to early Warhol pace."(1) Weitere Parallelen seien Fassbinders "leggy females” - Irm Herrmans Stimme erinnert ihn an Viva - und die "painterly ability to hit innocent, insolent colors, using flat, boldly simple formats”. Darüber hinaus erwähnt Farber den "cool eyed use of Brecht”, der Fassbinder befähige "to imprint a startling kinky sex without futzing around in the Bertolucci Last Tango style”(2).

Fassbinder wird von zwei amerikanischen Mitarbeitern des Film Comment kurz darauf mit Farbers Parallelisierungen konfrontiert(3) und es stellt sich heraus, dass Farber tatsächlich in einem wichtigen Punkt Recht hatte. In München kannte man damals den Filmemacher Warhol kaum. Fassbinder nennt nur Paul Morrissey, und mit dem habe er weniger zu tun, allenfalls "Warum läuft Herr R. Amok?" und dieser Film, das sagt er öfter, wäre weniger seiner als der der Gruppe. Fassbinder konzediert – allerdings in Unkenntnis der zentralen Filmproduktion Warhols, der Filme der Jahre 1964-66 - eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Warhol: die Arbeit in und mit einer Gruppe.

Nun ist diese Gruppe aber nicht nur irgendeine. In beiden Fällen handelt es sich um eine Gruppe, die teilweise zusammenlebt mindestens aber große Teile ihrer gesamten Zeit miteinander verbringt. In beiden Fällen wird diese gemeinsam verbrachte Zeit intern als kulturelle Produktion verstanden. Bei Warhol hieß der Ort, an dem man die Zeit verbrachte sogar explizit Factory, bei Fassbinder war es ein Theater, in dem man wohnte und arbeitete. Es hieß erst Action Theater, dann antiteater.

Diese Namen sind sowohl eine Gemeinsamkeit als auch ein kleiner Gegensatz. In der Factory ging es darum, dem, was sowieso stattfand, künstlerische Produktion mit allen denkbaren Medien, eine bestimmte Logik zuzuordnen, die der industriellen und mechanischen Produktion. Dies ist, so die Idee, kein romantisches Künstlertum, keine humanistisch verstandene Kreativität, keine Kritik der Kulturindustrie und des Star Systems, sondern dessen Überbietung. Im Action Theater oder antiteater ging es darum, das, was sowieso stattfand, ein emotional intensives und ökonomisch prekäres Zusammenleben, an dem keinesfalls nur Künstler teilnahmen, sondern auch sogenannte Gammler und Drop outs, also überspitzt gesagt soziale Romantik plus Revolte ohne eine entwickelte Kunst, durch die Beschwörung eines institutionellen künstlerischen Charakters zu stabilisieren.

In beiden Fällen handelt es sich aber um Namen für künstlerisch produktive Gruppen, die sich anders als bei den Künstlergruppen der Avantgarde und der Neo-Avantgarde nur indirekt und vage auf einen künstlerischen Inhalt bezogen. Unter den vielen Parallelen, die Farber aufzählt, habe ich nicht umsonst die der sagenumwobenen Produktivität der Factory wie der Fassbinder-Gruppe herausgegriffen. Diese Produktivität ist bei Warhol zu Beginn und bei Fassbinder dauerhaft tatsächlich selbst ein künstlerischer Inhalt. Ihr Hintergrund ist eine neue schnelle und flexible Verfügbarkeit von zwei Ingredienzien künstlerischer Arbeit unter seinerzeit neuen historischen Bedingungen: diese sind zum einen Medien und Medienformate und zum anderen Stoff.

Zum einen: Warhol kaufte sich eines Tages eine Bolex. Fassbinder übernahm in einer langen verschlungenen Kette von Machtkämpfen Theater weil man damals eben Institutionen einfach so übernehmen konnte, sie waren in den Tagen der Studentenbewegung verfügbar geworden. Vor allem aber, davon handelt zum Beispiel "Warnung vor einer heiligen Nutte", stellte er immer wieder im Kampf mit deutschen Fernsehsendern, Filmförderungen und diversen internationalen Deals den Zwang her, fortgesetzt zu arbeiten, um im Besitz der lebens- und intensitätssteigernden Produktionsmittel zu bleiben. In beiden Gruppen gab es die, einem perpetuum mobile verwandte Idee, dass man durch sichtbare Produktion von Intensität in den Besitz von Produktionsmitteln kommen konnte, dieser Besitz wiederum und die damit verbundene Produktion steigerte wiederum die Intensität. Die Konstruktion und Reproduktion dieses Produktionsmodells war so ein wesentlicher Inhalt der künstlerischen Arbeit – als Voraussetzung und Inhalt. Alle Zweifel an der Gruppe werden nicht als Zweifel an den Produkten, sondern als Zweifel an der Lebensform, am Lebensstil und als Klage über Intensitätsverlust artikuliert. Man denke etwa an Fassbinders beleidigte Klage über die Gruppenangehörigen, die lieber "ihr kleines Pantoffelleben führen" wollen in Joachim von Mengershausens Dokumentarfilm "Ende einer Kommune" von 1970. Ähnlich klingen Warhols Klagen darüber, dass nach dem Attentat auf ihn nichts mehr dasselbe war.

Für dieses Produktionsmodell war es aber auch wichtig, dass es keine klar bestimmten Jobs, keine Arbeitsteilung gab. Wer aus der Gruppe was vor wie hinter der Kamera machte, war im Prinzip aushandelbar. Der Dichter Gerard Malanga wird zum Peitschentänzer, in "Camp" führt jeder vor, dass er auch irgendetwas Anderes kann. Die Rollen und Funktionen vor und hinter der Kamera sind in der Factory und ihrem Umfeld, den Multimedia-Performances von Jack Smith oder John Vaccaros Theater of the Ridiculous, absolut im Fluß. Nicht absehbar war aber auch in Fassbinders Umfeld, wer eigentlich welche Spezialisierungen entwicklen würde. Dass etwa der Regisseur Peer Raben später sich zum Komponisten spezialisieren wird oder Kurt Raab, ursprünglich Requisiteur, zum zentralen Schauspieler wird etc. Fassbinder nutzt diese Ungeklärtheit später öfter als Machtmittel, wenn er etwa in seiner Zeit als Intendant am Theater am Turm einerseits Mitbestimmungsmodelle durchsetzt, andererseits die Schauspieler in A- und B-Schauspieler mit unterschiedlichen Bezahlungen und Pflichten einteilt.(4)

Genau diese Voraussetzung aber, dass keiner prinzipiell für irgendetwas zuständig ist, jeder alles machen kann und die technischen und medialen Apparate immer irgendwie zur Verfügung stehen, sorgt in beiden Gruppen für 1.) die gewünschte Intensität beim Übergang von Leben in Darstellung, 2.) Konkurrenzkämpfe mit diversen Verletzten und Opfern, Traumatisierten, Mordversuchen und erfolgreichen Selbstmorden, 3.) für eine hohe produktive Flexibilität, 4.) - und das gilt vor allem für die Fassbinder-Gruppe - für ein hohes Gespür für die so entstandenen Machtverhältnisse bei allen Beteiligten: sie liegen offen zutage und werden ständig ausgetragen und auch politisch diskutiert. Das stark entwickelte Bewusstsein aber schützt nicht davor, dass ständig neue Opfer produziert werden.

Zum anderen: die so intensivierte und in Hassliebesbeziehungen ineinander verstrickte Gruppe liefert selbst sehr schnell und unmittelbar den Stoff. In Filmen wie Warhols "Camp" oder den diversen "Screen Tests", in "Couch", "My Hustler" oder "Sleep", den diversen Filmen mit und über Edie Sedgewick und unzähligen anderen spielen die Figuren der Factory sich selbst. In Fassbinders Filmen tragen die Rollen oft die Namen der Protagonisten oder die Namen anderer Leute aus dem Umfeld. In allen frühen Filmen spielen die Darsteller entweder sich selbst oder einen andere aus der Gruppe. Hinzugefügt wird lediglich ein, meist einem schon bestehenden Genre entnommener fiktiver Rahmen.

Warhols Idee der Produktion ging ungefähr so: Wenn die Konstante Produktion maximal unaufwendig und mechanisch läuft, dann wird die Variable Person maximal groß, der Star wird zum Superstar. Da aber jede Erzählung oder Handlung wieder die Produktion größer und komplizierter machen würde und von der Person und ihrer Präsenz ablenken, muss der maximal eindrückliche Superstar als lebendes Bild verharren, als Pose eines Versprechens, eines Potenzials. Selbst bestimmt, aber noch vor der Handlung.

Fassbinders Grundidee ist ungefähr die: Im Kapitalismus übersteht das Subjekt sein elendes Leben nur in der Pose. Pose ist auch hier ein Rest Selbstbestimmung um den Preis der Handlungsunfähigkeit, aber es ist eine Notlösung, freilich die, an der sich der letzte Rest individueller Würde zeigt: nichts machen, aber auch keine Scheiße. Pose steht in der Mitte zwischen Aktion und Passion. Diesen gesellschaftlichen Mechanismus nicht nur darzustellen, sondern zu reproduzieren ist die Arbeit des Schauspielers. Die Arbeit des Regisseurs sei es nun die Pose entstehen zu lassen und dann wieder kaputt zu machen – so entsteht Bewegung und Narration, die Mechanik und die Genealogie der Pose wird sichtbar. Fassbinder will ja erklärtermaßen aufklären. Später wird auch die neuartige medienspezifische Idee der Pose durch die alte theaterspezifische Idee der Lebenslüge ersetzt. Auf diesem Wege entfernt sich Fassbinder in einigen Filmen von Warhol.

Die Pose im Sinne eines narzisstischen lebenden Bildes, einer Kinokategorie, die nicht nach der Narration und der Konsequenz, sondern nach dem gedehnten Moment strebt, ist auch in einem allgemeineren Sinne die neue, man kann sagen: minoritäre oder auch in einem weiteren Sinne queere Position zwischen Selbstermächtigung und Unterdrückung. Erfunden haben sie James Dean und Montgomery Clift, verfeinert und vom Nebenprodukt zur Hauptsache befördert hat sie Andy Warhol. Auch Fassbinder liebt die Pose, zugleich muss er sie zerstören und in die Zange der benachbarten Möglichkeiten, vollständige souveräne Subjektwerdung und sklavische Abhängigkeit nehmen. Bei Fassbinder sind die Poser nicht positiv. Die Über-Poser in "Katzelmacher" entwickeln sich zu rassistischen Widerlingen. Bei Warhol stellt hingegen die Pose ein Versprechen dar. Zunächst ist sie einfach das, was entsteht, wenn man einen originellen, interessanten Menschen filmt, die Gewährung des Rechts gefilmt zu werden, das Walter Benjamin jedem Menschen zugesteht.

Craig Owens hat das Posieren vor der Kamera mit dem grammatischen Begriff des Mediums verglichen.(5) Man spricht ja in der grammatischen Terminologie nicht nur bei den Substantiven von Geschlechtern, sondern auch bei den Verben gibt es das sogenannte Genus verbi. Die vertrauten Genera verbi sind Aktiv und Passiv, das dritte Geschlecht ist aber, anders als bei den Substantiven, nicht ein Neutrum, sondern die etwa im Altgriechischen eigenständig vorkommende Form des Mediums: man übersetzt das Medium reflexiv. Sich geben versus geben und gegeben werden. Owens und andere heutige Interpreten von Warhol aus einer Sicht der queer studies kann man so lesen, dass für sie dieses posierende Subjekt im Medium auch so etwas wie ein blueprint eines politischen Subjekts ist, jenseits von Sadismus und Masochismus, jenseits von ungebrochener Macho-Souveränität und minoritären Opfer.

Fassbinder ist sich da nicht so sicher. Es ist nicht klar, ob er den Poser nur durch sadistische Angriffe und masochistische Zustände testen, verstören und letzten Endes erheben will oder ob er gerade den Schritt aus der Pose für den eigentlichen und wünschenswerten Durchbruch zur Politik hält. Man könnte den Unterschied zwischen beiden in dieser Frage in die Sprache von 1975 übersetzen. Hughes und Riley unterscheiden im Gespräch mit Fassbinder zwischen der Warholschen Homosexualität als Folge sexueller Unterdrückung und Fassbinders Homosexualität als Spiegelbild der Heterosexualität. Farber stellt Fassbinders "marxist world" dem "liberated SoHo" gegenüber. Die in den 90ern ausgetragenen Diskussionen zwischen "subkulturalistischen" und "universalistischen" Befreiungstheorien werfen hier die Schatten ihrer Antagonismen voraus.

Es gibt aber auch bei Warhol eine andere, eine zweite Instanz, die sich zwischen die rein mechanische Kamera und die reine Pose schiebt – ohne jetzt zur Narration zu streben. Diese Instanz verkörpert mehrfach Warhols Kollaborateur und Script-Autor Ronald Tavel. Während des "Screen Tests No 2" mit Mario Montez stellt dieser später vor allem als Theaterautor hervorgetretene Ronald Tavel aus dem Off einige Fragen an Montez. Montez bewirbt sich für eine Rolle und anders als bei den meisten anderen Filmen aus der Screen- Test-Reihe scheint es sich tatsächlich um eine Art Casting zu handeln, jedenfalls glaubt Montez das. Montez, der u.a. in Jack Smiths "Flaming Creatures" eine Drag-Rolle gespielt hat, soll auch hier für eine weibliche Rolle vorsprechen. Doch Tavel treibt ihm immer weiter in die Enge und demütigt ihn. Schließlich befiehlt er ihm seinen Hosenschlitz zu öffnen. Montez ist sichtbar im Kern seiner Person zutiefst beschämt, beleidigt und gedemütigt. Zum einen wegen der immensen allgemeinen Respektlosigkeit und sexuellen Demütigung an sich, zum anderen wegen der spezifischen Demütigung seiner sexuellen Identität als Drag Performer.

Zugleich erscheint dem Zuschauer Montez Verwirrung und seine Scham auf verwirrende Weise als ein schöner und vor allem beabsichtigter Moment. Die verhaltene Empörung und Unsicherheit von Montez, die in keinem Verhältnis zu Tavels Gemeinheit steht, nicht weil Montez höflich wäre, sondern weil ihn Tavel so getroffen hat, öffnet einen unüberschaubaren moralischen Abgrund, der sich zwischen der Zumutung und Beleidigung und ihrer Grundlosigkeit öffnet. Während die starre Kamera immer mehr zum Freund des Darstellers wurde, zu seinem Anker in seiner Darstellung, erscheinen die immer sarkastischeren Regieanweisungen von Tavel bodenlos und gemein. Montez wirkt wie von einer Waffe getroffen. Der Moment hat eine Tiefe, die dazu führt, dass der Voyeurismus und die Identifikation oder Empathie mit der beschämten Figur sich gegenseitig verstärken und infrage stellen.

Douglas Crimp hat darauf hingewiesen, dass hier strukturell und historisch ein proto-politischer Moment steckt, der eben nicht so sehr in einer Aufklärung über sexuelle Unterdrückung läge, sondern in der Mobilisierung gerade der Besonderheit des queeren Subjekts(6) - und zwar in einem historischen Sinne für die proto-politische Entwicklung von queer politics vor Stonewall, die Crimp "Queer before Gay" nennt als auch im Sinne einer Mechanik der Entstehung und Herstellung von Präsenz und Ausstrahlung. Im Anschluss an Eve Kosofsky Sedgwick beschreibt Crimp wie Tavels wohl gesetzte und sadistisch fein komponierte Grausamkeit schließlich die "außerordentliche Reinheit des Superstars" hervorbringt: "Er hat nichts an sich als Glamour", zitiert Crimp Stefan Brechts einschlägiges Werk "Queer Theater" aus dem Jahre 1972. Mit anderen Worten, erst die zusätzliche Arbeit eines Dompteurs und Dominators bringt die Qualität dieser Reinheit hervor, die Warhol ursprünglich für die reine, nur von dem Darsteller und einer demütig aufzeichnende Kamera erwartet hatte.

Warhol brauchte also eine Doppelspitze. Während er mit der Kamera zu seiner geliebten Maschine verschmolz und sich quasi als Spiegel anbot, und Tavel (oder andere wie Chuck Wein, der in "Beauty # 2" die arme Edie Sedgewick quält), die mit Regieanweisungen und auf die einzelnen Akteure zugeschnittenen Fragen und Verunsicherungen die Spiegelung in der Rolle gefährdeten. Dabei war für die Factory-Akteure die Fallhöhe besonders hoch. Sie hatten schließlich auf ihre Rolle gewettet, sie sollte tragfähig sein, wurde sie kaputt gemacht wie bei Mario Montez, gab es keine andere Identität, keine allgemeine Schauspieler-Profi-Routine, auf die sie sich zurückziehen konnten. Mit Warhols Kamera hatten sie sich geeinigt, dass sie mit dieser Kamera-Person identisch werden würden, Tavel durchbrach diesen Vertrag, indem er sich benahm wie ein Regisseur. Fassbinder, das wäre meine These, wäre eine Synthese aus Warhol und Tavel, dem good cop des spiegelnden Mediums und dem bad cop des sadistischen Theatertyranns. Diese Synthese ist nicht nur die Synthese aus zwei scheinbar gegensätzlichen Schauspielertheorien sondern auch zweier verschiedener Medienpraktiken, zwischen dem nackten, gefährlichen Präsenz auf der Bühne, verschärft dadurch dass auf dieser Bühne in Kommune und Factory mein Leben stattfindet, einerseits und der sicheren Situation, in der ich eine Kamera allein durch meine idiosynkratische, glamouröse Präsenz zwingen kann, mir zu folgen andererseits.

Man hat sich immer gewundert, warum es Fassbinder so leicht fiel zwischen Theater und Film, aber auch Film und Fernsehen zu wechseln, hat seine Meisterschaft der Adaption von einem Medium zum anderen gelobt. Genau das ist aber die eigentliche synthetische Fähigkeit, die sich in den beiden gegensätzlichen Ideen der Schauspielerführung spiegelt: einerseits soll der Schauspieler gar keiner sein, sondern nur eine beautiful person, die nur ihre Pose, die ihr Leben ist, zur Schau stellt; andererseits soll der Schauspieler durch persönliche Verletzungen auf das Unwahre seiner Pose zurückgeworfen werden in den Abgrund der Darstellung, bei der es gerade für ihn, den Schauspieler/Superstar des Warhol-Typus keine Versicherung gibt.

Diesen Moment gibt es nun bei Fassbinder andauernd. Für die frühen Filme hat auch wieder Farber eine sehr schöne Formulierung gefunden, er spricht von dem Prinzip der Musical Chairs – also dem Spiel, das im deutschen Sprachraum "Reise nach Jerusalem" heißt. Eine Gruppe ist in Bewegung eine ganze beiläufige Szene lang, der im Grunde nur Posen eingenommen und ausgefüllt werden und plötzlich trifft einen die Keule der Demütigung und er ist am Boden oder draußen. In "Warnung vor einer heiligen Nutte" hat Fassbinder die eher flachen Bühnenbilder seiner aller ersten Filme etwas weiter geöffnet. Die posierenden Gruppen stehen nun in der Tiefe eines Raumes, meistens ein Hotelfoyer oder ein Filmset. Wieder stehen Paare und kleine Grüppchen an der Bar oder knutschen oder betreiben das, was man früher Engtanz nannte zu Fassbinders geliebten Leonard-Cohen-Songs. Die Bewegung besteht nun darin, dass immer einer in die Gruppe einbricht, jemanden beleidigt wird und der Gedemütigte zur nächsten Gruppe zieht, wo er entweder erneut beleidigt wird oder einen anderen Vorgang auslöst, der in einer Demütigung endet.

Wir schauen also zu, wie sich die Personen gruppieren, sich in Posen stabilisieren und dann in der Pose zerschmettert werden und vor Scham die Gruppe verlassen müssen. Später schälen sich bei Fassbinder aber Einzelschicksale heraus. In "Faustrecht der Freiheit", "Händler der vier Jahreszeiten" und "Angst essen Seele auf" geht es nicht mehr um einen endlosen Zirkel von Pose und Zerstörung, sondern um exemplarische Schicksale, um Narration und Entwicklung. Hier kann die Logik der Pose nicht mehr greifen und womöglich sind diese Filme auch im Sinne der oben angedeuteten Möglichkeit als ein Einspruch gegen die Pose zu lesen.

So wie Douglas Crimp die Strategie Tavels im "Screen Test No 2" im Kontinuum proto-politischer schwuler Kultur vor Stonewall gelesen hat und in der vorhin beschriebenen Weise gerade in der Vertiefung der Pose und ihrer Zuspitzung in Momente der Scham und damit verbundener Ausstrahlung und nicht in ihrer normalisierenden Eintragung in ein Drama ihren wesentlichen Punkt einer spezifisch queeren Politik sieht, die heute durch die Homogenisierung und Desexualisierung schwuler Kultur in den USA" gefährdet sei, so hat Fassbinder darauf bestanden, keine "romantische Sicht auf das Leben der Homosexuellen"(7) zu entwerfen, wie er sich ausdrückt, zu zeigen, dass alle seine Minderheiten eben einfach nur Unterdrückte seien, wenn auch markierte Unterdrückte.

Crimp weist dagegen daraufhin, dass diese Beschämung (oder Bestrafung) im Kontext einer frühen Selbstverständigung einer schwulen Community gelesen werden muss. Fassbinder hat die posierenden Subjekte universalisiert: es sind Proletarier, Gastarbeiter, Prostituierte und andere Marginalisierte. Dennoch funktionieren auch bei Fassbinder ihre Posen und Beschämungen genau so wie sie von Warhol/Tavel bzw. Crimp als schwule bzw. queere konstruiert wird, nach dem gleichen Mechanismus. Und das gilt nicht nur für die fiktiven Charaktere, sondern auch und vor allem für das Verhältnis der Darsteller zu ihrer Rolle. Die Rolle ist zugleich Chance der Selbstdarstellung und Beschämung. Folgt man indes Crimp, und dafür gibt es bei Fassbinder viele Bilder, führt aber gerade diese Beschämung zu dem Glanz der Figuren in einem queeren Sinne.

Was Fassbinder nur anderes macht, ist dass er die Beschämung aus der Immanez der Darstellung löst, sie gilt auch den fiktiven Charakteren. Ja, sie verschiebt sich immer mehr zu den unglaublichen Ungerechtigkeiten, die diese erleiden müssen. Wie sagt doch Farber über das entscheidende Element der Plots des mittleren Fassbinder: Humiliation; daily, hour by hour, in the shop, at breakfast, humiliation everywhere(8). Diese fortgesetzten Demütigungen sind aber nur locker an Plots gebunden, sie haben nur sehr locker etwas mit Entwicklung zu tun. Sie sind eher zirkulär wie Höllenstrafen und Hadesqualen – so statisch wie die Pose selbst. Die Demütigung bricht nicht wie bei Warhol und Tavel in die Pose ein, sie ist genauso permanent wie diese – und sie hat noch einen anderen, einen zusätzlichen Hintergrund. Die Demütigung ersetzt nach und nach die Pose und wird zu einer eigenen ähnlichen, aber alternativen Struktur. Sie erscheint nämlich nun vor dem Hintergrund einer unfassbaren Ungerechtigkeit. Während die Demütigung bei Tavel/Warhol punktuell und gemein ist, ist sie bei "Angst essen Seele auf", "Händler der vier Jahreszeiten" etc. unfassbar ungerecht und strukturell. Die Opfer leben in ihr wie in einer Pose, nur dass sie nicht mehr die Macht haben, sich im Vollbesitz ihrer expressiven und exhibitionistischen Kräfte an eine Straßenecke zu stellen oder sich in eine bestimmte Schale zu werfen: sie werden gestellt.

Doch wie bei "Screen Test No 2" hat die Ungerechtigkeit etwas Schönes, nein sie hat etwas Erhabenes. Sie ist unendlich und scheint uns verschlingen zu können, aber wir stehen diesseits mit aller unserer Empathie und schauen zu. Fassbinder hat wiederholt darauf hingewiesen, dass man die Schönheit des Leidens verstehen lernen muss, um seine Filme zu verstehen(9). Dennoch ist da kein simpler Masochismus gemeint, der ja immer schon die eine Demarkationslinie der Pose gebildet hat und als Nachbar jederzeit zur Verfügung steht. Im Masochismus wird das Leid gesucht und gefunden: es kann keine Erhabenheitseffekte geben, es bleibt diesseitig. Der Erhabenheitseffekt entsteht vielmehr durch das Gegenüber der ungerechten Macht und das Gerechtigkeitsgefühl, das sich beim Zuschauer einstellt, der sich versucht des Bodens, der Sicherheit zu versichern, der ihn davor schützt, in diesen Abgrund zu stürzen.

Im Gegensatz zur klassischen Tragödie, die ja ähnlich funktioniert, aber zur Grundlage hat, dass genau das Gesetz, das den mit Empathie besetzten Protagonisten ins Unglück stürzt, von uns bejaht wird und werden muss, ist diese Gerechtigkeitsidee, die sich im Negativ an den Ungerechtigkeiten entwickelt, erst im Werden. Sie ist unfertig, wir schauen ihr zu, wie sie sich bei uns entwickelt. Das ist in jedem Falle politisch: es ist eine Gerechtigkeit a venir und doch ist sie auch unmittelbar und quasi spontan zur Stelle. Sie wirkt auf den ersten Blick banal, weil sie sich so verlässlich einstellt wie die Tränen sich im Melodram einstellen, aber sie beruft sich nicht auf Selbstverständlichkeiten zwischen Guten und Bösen, sondern muss mit den Konfliktabgründen umgehen, die sich unter lauter Opfern entwickeln. Es gibt einen Bezugspunkt der Bosheit außerhalb des Konflikts – außer den aus der Ungerechtigkeitserhabenheit sich negativ entwickelnden Gerechtigkeitsgefühlen. Wir sind gezwungen, um dies aushalten zu können, uns Gerechtigkeit vorstellen zu müssen.

Vermutlich hat Fassbinder wie Warhol die gesellschaftliche Produktion der Pose und die technisch darstellerische im Leben der Darsteller und ihrer Gruppe immer wieder parallelisiert. Die verheerenden immer wieder gemeldeten und in Memoiren von Fassbinder-Vertrauten und auch ihm selbst gerne geschilderten Grausamkeiten innerhalb der Gruppe(10) scheinen die auf der fiktiven Ebene dargestellten Ungerechtigkeiten überlagert und befeuert zu haben. Nur in der Gruppe gab es dann den, den es in den Filmen oft nicht gibt: den Chef, den Machthaber, die Autorität. Die Leute haben ihn dann geliebt und gehasst, die Zuschauer hatten den Vorteil darüber hinaus geraten zu können.

(1) Manny Farber, Rainer Werner Fassbinder, Film Comment Vol. 11, No 6, Nov./Dez. 1975, zitiert nach derselbe, Negative Space, New York: da capo 1988 S.307f.

(2) a.a.O., S.312

(3) John Hughes/Brooks Riley, A New Realism, Film Comment Vol. 11, No 6, Nov/Dez 1975, zitiert nach dieselben, Ein neuer Realismus, (deutsch von Marion Schmid), in: Robert Fischer(Hg.), Fassbinder über Fassbinder, Frankfurt/M: Verlag der Autoren 2004, S.348f.

(4) Kurt Raab/ Karsten Peters, Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder, München: Bertelsmann 1982, S.137

(5) Craig Owens, Posing, in derselbe, Beyond Recognition. Representation, Power and Culture, Berkeley, Los Angeles und London: University of California Press 1992, S.201-217, zitiert nach: derselbe, Posieren (dt. Von Wilfried Prantner), in Herta Wolf, Diskurse der Fotografie, Frankfurt/M: Suhrkamp 2003, S.112f.

(6) Douglas Crimp, Mario Montez, for shame, in Diederichsen, Frisinghelli, Gurk, Haase, Rebentisch, Saar und Sondergger (Hg.), Golden Years – Positionen und Materialien zur queeren Subkultur 1959-1974, Graz: Camera Austria, im Druck

(7) Hughes/ Riley, a.a.O., S.348

(8) Farber, a.a.O., S.313

(9) John Hughes/Ruth McCormick, Der Tod der Familie – Rainer Werner Fassbinder über Angst vor der Angst, in Robert Fischer (Hg.), a.a.O., S.394

(10) Wolfgang Limmer/Fritz Rummler, "Alles Vernünftige interessiert mich nicht", in Fischer, a.a.O., S.510ff

[Dieser Text ist zuerst in französischer Übersetzung erschienen in: Trafic, Revue du cinéma, Nr.55, Automne 2005.]




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Mittwoch, 7. September 2005

Anmerkung zum Beruf des Auteur Réalisateur de Films


Von Jean Grémillon

Gibt es ein besonders schwieriges Problem, an dessen Lösung man weder ohne Scheu noch ohne Hemmungen heranzutreten vermag, so ist dies wohl die genaue Analyse einer so vielfältigen Tätigkeit, wie es die des auteur réalisateur de films ist. Diese Analyse würde ihrerseits eine solche Loslösung von ihrem Untersuchungsgegenstand - einer im höchsten Maße rebellischen Materie - erfordern, daß diese Abstraktion sich unverzüglich im Widerspruch zur Ausübung jenes Berufes befände, welche, nach meiner Meinung, demjenigen, der sich der Techniken und Kunstgriffe dieses Berufes bedient, kein wirklicheres und von vornherein triftigeres Wissen verleiht, als es das eines Kopfes ist, dessen eigentliche Tätigkeit davon ganz losgelöst ist. Indessen gibt es einen direkten Weg, das kinematographische Problem in Angriff zu nehmen, und dieser besteht darin, daß man von seiner etymologischen Basis ausgeht: Schrift der Bewegung oder Schrift des Lebens (Kinematograph oder Biograph), was auf dasselbe hinausläuft. In der Tat böte sich an, eine praktische Bestandsaufnahme vorzunehmen, die Gegebenheiten und Manifestationen des Kinos zu untersuchen, die Übereinstimmung zwischen Belegen und Definitionen zu überprüfen und die Abweichungen zu studieren, die auf diesem Gebiet haben stattfinden können. Diese Bestandsaufnahme würde ganz naturgemäß die Unterteilung des Gegenstandes in drei Teile oder Partien herbeiführen:

  • in den ethischen, das heißt den vom Regisseur vorgeschlagenen oder gewählten Stoff betreffend,

  • den ökonomischen, als Studium des kinematographischen Werkzeugs,

  • und den ästhetischen, was betrifft die Verwendung dieses Werkzeugs im Hinblick auf den vorgeschlagenen oder gewählten Stoff.

Ein jeder dieser Teile würde sich seinerseits wieder soweit unterteilen lassen, dass der Umfang dieser Schrift die sämtlichen Unterteilungen nicht zu fassen vermöchte. Genauer ausgedrückt handelt es sich bei dem, was wir dem Leser hier unterbreiten, also um Betrachtungen, um unvollständige Beobachtungen, die in die erwähnte Anordnung sich einfügen und die im übrigen mit einigen der angezeigten Unterteilungen sich überschneiden werden.

Die Arbeit des Auteur Réalisateur

Es gibt im schöpferischen Verfahren des auteur réalisateur cinématographique nur das Problem des Stilistischen - wobei ich mich auf ein Verfahren beziehe, das im wesentlichen darin besteht, die vielschichtige Sprache, die gehandhabt wird, also Bilder und Töne, mit Bedeutung zu erfüllen. Anders ausgedrückt: es geht darum, das Reale hervorzurufen und es gegenwärtig zu machen, sei diese Gegenwart nun erklärbar oder unerklärbar, das heißt, die Geheimnisse einer Welt zu entdecken oder wiederzugewinnen, einer Welt, die sowohl die der Menschen als auch die der Dinge ist. Der gesunde Menschenverstand betrachtet im allgemeinen das Reale und das Poetische als Gegensätze. In meinen Augen ist das ein unleugbarer Irrtum, denn es scheint offenbar, daß die gewöhnliche Sprache der Bilder die Wahrheit in sich verbirgt. Ein Glas, eine Karaffe, ein Handschuh, das Knarren einer Wetterfahne, Zweige, die knacken, ein Gesicht, ein Wort - wie oft verlieren sie, sobald sie kinematographiert, das heißt mit photographischen Mitteln reproduziert sind, diejenige Bedeutung, die sie im Leben der Menschen durch den Gebrauch, den diese von ihnen machen, eingenommen haben. Sie sind nunmehr nicht länger die Imitation dessen, was sie ins Leben rief, und werden zu Bedeutungsträgern. Sie nehmen eine operative Eigenschaft an, die uns an ihnen die unergründliche Realität wird entdecken lassen, je nachdem wie unsere Phantasie unsere Anteilnahme oder unsere Ergriffenheit sich daran geheftet haben werden. Dies ist der Bereich, in dem das Kino der Sprache der Bilder eine so erstaunliche und beunruhigende Tiefe verleiht. In Gestalt lebender Personen, von Ereignissen und Handlungen projizieren wir Bilder in die äußere Welt, die manchmal sehr einfach sind und das in Klarheit erscheinen lassen, was uns als rätselhaft erscheinen möchte - als Wiederherstellung einer Welt in ihrem wahren Gefüge, wo das Außergewöhnliche gewöhnlich und das Gewöhnliche außergewöhnlich ist. So wendet der Mensch sich einst vertraut gewesenen Gegenständen zu, Gesichtern, Landschaften, Fetzen einer Melodie, um mit Hilfe dieses magischen Treibguts all das heraufzubeschwören, was in ihm darauf wartet, in Bewegung gesetzt zu werden. Aber in meinen Augen ist die Photographie von unbekannten oder geliebten Gesichtern, die Kinematographie der Gesten, der Haltungen und Handlungen nur totes Abbild, dem das Tränken in einem Element abgeht, in dem diese in beständiger Verschiebung befindlichen Realitäten ihren tiefen Sinn annehmen. Dieses Element ist der Ton.

Für diejenigen, die eine rationalistische Erklärung des kinematographischen Ausdrucks anstreben, sind die Bilder und die Töne reduzierbar auf die Dimension eines Naturphänomens, vollkommen erklärbar durch die Mechanik jeder lebensbedingten Äußerung: ein Baum ist ein Baum, und ein Wald ist eine Ansammlung von Bäumen. Alles ist erklärbar und erklärt. Indessen wäre es gut, zu ermessen, was im Kopf eines Zuschauers vor sich geht. Jegliche Bild- oder Tondarstellung löst in ihm eine umfassende Vorstellung aus, von der jenes Ausgangsmaterial nur einen Teil bildet. Wenn das, was sie zeigen oder zu Gehör bringen, Teil einer bereits erlebten Empfindung ist, dann wird diese Empfindung in ihrer Totalität sich wieder herstellen, und somit - und das ist von grundlegender Bedeutung für das Vermögen des auteur réalisateur de films - werden Gesetzmäßigkeiten von Gleichzeitigkeit und Übereinstimmung unverzüglich den Platz der realen Beziehungen zwischen den Dingen einnehmen. Diese Gleichzeitigkeit und diese Übereinstimmung sind es, die Beziehungen offenbar werden lassen, welche ursprünglich nicht gegeben schienen. Es wird somit ersichtlich, daß der Cineast im Hinblick auf den Zuschauer gleichzeitig auf Überraschung und auf Erwartung setzt, da es ihm obliegt, jedem Augenblick innerhalb der Kette der geschaffenen Bilder die Sprengkraft einer Entdeckung zu geben.

Die Filmmontage ist somit das einzige Mittel, über das der Cineast verfügt, um dem Unvorhersehbaren den Charakter des Notwendigen zu geben. In meinen Augen ist dies ein Hauptelement der Dialektik des Films. Der Film ist nur dort existent, wo sich diese unerbittliche Besitzergreifung vom Zuschauer ereignet, deren Instrument der Rhythmus ist. Die Zusammenstellung der Bilder und Töne bringt indessen unermeßliche Schwierigkeiten mit sich. Es ist sehr mühsam, die Bilder von ihren traditionellen Inhalten abzulösen, während es ein Leichtes ist, einen Ton von seinem ursprünglichen Sinn wegzuleiten. Und dennoch beruht das Gefühl von Gegenwärtigkeit im Kino auf dem Zusammentreffen zwischen dem dargestellten Ereignis und der Intention des tonlichen Geschehens, welches dieses Ereignis ankündigt oder ausdehnt. Der Ton trachtet weniger danach, eine eindeutige Information zu geben, als danach, unsere intuitive Wahrnehmung zu leiten - und von daher besitzt er ein wunderbares Vermögen, Gefühlserschütterungen zu vermitteln. Sagen wir, daß die Töne beschreibende und das Gemüt erregende Gehilfen des Bildes sind, wobei das Bild die räumliche Begrenzung ihres Wirkens oder ihrer Macht abgibt. Ihre Kombination miteinander, das heißt die Kunst des Schreibens in Bildern und in Tönen, ist wie ein System der Zeichengebung, das sie uns wahrnehmbar machen, indem sie die äußere Realität in unergründliche innere Realität verwandeln durch die Offenlegung von Entsprechungen und Gegensätzen.

Doch übt die Magie der Töne nicht in allen Fällen ihre Wirkung auf die Bilder aus, und umgekehrt. Dies liegt daran, daß es tote Töne gibt - wie es auch tote Wörter gibt -, und wir sehen uns veranlaßt, die Frage zu stellen, worin die Wirkungskraft eines Geräusches begründet ist. Ist ein Geräusch per definitionem wirksam - also indem es in uns die Entstehung eines Bildes verursacht, das genau dem Objekt entspricht, welches das Geräusch erzeugt - oder eher über die Evokation - uns so die Wahl lassend zwischen mehreren Bildern von relativ ungenauer und unbestimmter Beschaffenheit, so daß der Sinn, den es annehmen wird, seine Zuweisung durch uns erfährt -, oder ist es vielleicht wirksam, indem es uns behext - ruft also das Geräusch, insofern es kein Erinnern mehr zuläßt, andeutungsweise ein Bild hervor und hat so teil an der Schaffung eines Zustandes von Wohlbefinden oder von Unbehagen, welcher demjenigen Bilde Vorschub leistet, das wir gewillt sind, im Zuschauer/Zuhörer sich einstellen zu lassen? Diese Art Alchemie ist ein mühsames Spiel in einer Welt der Töne, deren Höhe und Klangfarbe nicht festgelegt sind. Wenngleich die Geräusche sich analogisch in die Bestandteile eines bestimmten tonlichen Gefüges gliedern lassen, ist ihre Beschaffenheit selbst sehr viel rebellischer als die der Musik. In der Musik verhält es sich so, daß die Töne in einer Stufenfolge und in einer Ordnung auftreten, die sehr genau ihre Tonart bestimmt. Der Komponist wirft diese Ordnung durcheinander und bringt die Töne in eine Reihenflge, eine Nachbarschaft, die eine wirkliche Verwandtschaft innerhalb dieser neuen Familie hervorbringen wird, deren Bestandteile endlos auswechselbar sind. Aber die Stufen einer Skala oder einer Tonart besitzen eine besondere Wertigkeit, die in sich dem operativen Genie des Musikers keinen Widerstand entgegensetzt.

Das Ausmaß der Kombinationsmöglichkeiten von sichtbaren und tönenden Bildern ist derart, daß der Cineast unablässig auf das Bekannte zurückzukommen vermag und daraus in endloser Zahl neue Ausdrücke hervorbrechen lassen kann in einer Welt, die ewig jungfräulich zu bleiben scheint.

Undatierter Text aus dem Nachlaß Jean Grémillons. - Aus dem Französischen von Peter Nau und Melanie Walz. Dank an Christiane Grémillon.

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[Zuerst veröffentlicht in Filmkritik 316, Jahrgang 27, Heft 4, April 1983; Themenheft „Auf den Spuren von Grémillon“, zusammengestellt von Peter Nau. Mit bestem Dank an Peter Nau.]




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Mittwoch, 31. August 2005

Nochmal Marseille


D 2004, Regie: Angela Schanelec

Das Anfangsbild: ein Blick von der Rückbank aus nach vorne, aus der Frontscheibe eines Autos heraus. Man sieht den Nacken der Fahrerin und angeschnitten ihr Gesicht. Die Geräusche im Innenraum - das Gerumpel durch die Unebenheiten der Straße, Gasgeben, Kuppeln, nochmal Gasgeben - sind von Anfang an sehr präsent, fast überdeutlich, das bleibt auch im weiteren Verlauf des Films so. Das Rascheln der Plastiktüte zum Beispiel, als Sophie Lebensmittel in den Kühlschrank einräumt, legt sich als irritierende Tonblende über einen Schnitt: Es raschelt weiter, aber nach dem Schnitt sind wir nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern beim Epicier, der an der Kasse ihre Einkäufe einpackt.

Die ersten gesprochenen Worte des Films: Tu connais le coin? Kennst du das Viertel? Nein. Anhalten, Aussteigen, einen Stadtplan kaufen: Un cadeau. Zwei Frauen haben die Wohnungen getauscht. Auf unbestimmte Zeit lebt Sophie, die aus Berlin kommt, jetzt in Marseille. Beide Frauen kennen sich nicht; das wird, wie alles hier, sehr indirekt klargemacht, als Sophie fragt, ob die Französin Deutsch spreche. "Guten Tag. Auf Wiedersehen. Mein Freund der Baum ist tot." Dann ein kurzer Abschied.

Eine halbe Stunde lang bin ich allein mit jemandem, der allein in einer fremden Stadt ist. Die langsame Annäherung, die sich zwischen Sophie und Marseille abspielt, bildet deshalb auch das Verhältnis zwischen mir und Sophie ab. Eine Stadt kennenlernen, einen Menschen kennenlernen, das ist - Sophie fotografiert - über Blicke gesteuert. Was bedeutet, dass mir viel Zeit eingeräumt wird, jemandem beim Sehen zuzusehen. Schon in der Wohnung, ganz zu Beginn, weist die Blickachse einmal aus dem Bild heraus in die Ferne, dahin, wo den Geräuschen nach der Hafen zu vermuten ist. Die Kamera lässt diesem Blick keinen Gegenschuss auf das Gesehene folgen; man müsste das Erblickte schon im Blick erkennen oder es sich, von diesem Blick ausgehend, selbst ausmalen.

Das Geschäft, in dem Sophie regelmäßig einkauft, von der gegenüberliegenden Straßenseite fotografiert. Im Vordergrund, unscharf, schleift jemand ein Auto ab. Auch hier ist der Ton ganz weit vorne, ein manchmal verwirrendes Durcheinander unterschiedlicher Stadtgeräusche. Städte sind laut, immer, überall, hat Angela Schanelec sinngemäß mal in einem Interview gesagt. Sophie überquert die Straße, geht in den Laden hinein, die Kamera wartet geduldig, bis sie wieder herauskommt und nach links das Bild verlässt. Der exakte Gegenschuss zu dieser Einstellung, aus dem Laden heraus, in dem Sophie im Vordergrund an der Kasse steht, kommt mehrere Minuten später. Jetzt erst erkenne ich die Treppe, die sie vor ein paar Tagen heruntergegangen ist, die Autos, die dort in der Werkstatt umlackiert werden, den Mann von vorhin hinten im Dunkel der Garage.

***
Nach einem Schnitt ist der Film plötzlich in Berlin; die Geräusche sind jetzt ganz anders. Sophies Rückkehr ist ein Hineinfallen in eine andere Sprache. Das Deutsche und die Klänge der Stadt sind Fremdsprachen, und zugleich ist es ein Sprung in andere Erzählmodi und Räume. Die Verhältnisse in Berlin sind viel verworrener, und ich bekomme eine Ahnung, auf welche Fragen Marseille für Sophie die Antwort sein sollte. Während Sophie selbst in den Szenen, in denen sie nur klein im Bild war, vorher immer der zentrale Bezugspunkt für die Kamera gewesen ist, verliert der Film sie zwischenzeitlich jetzt fast ganz aus den Augen. Anwesend bleibt sie indirekt, als Koordinate zwischen dem siebenjährigen Anton und seinen Eltern Hanna und Ivan.

Ivan ist Fotograf, Hanna Schauspielerin. Auf den Sohn der beiden passt Sophie manchmal auf. Es gibt zwei lange Exkurse in Hannas und Ivans Alltag: Einmal zeigt der Film Ivan beim Fotografieren der Arbeiterinnen in einer Waschmaschinenfabrik; die Frauen, die er fotografiert, posieren im Kittel. Einmal sind wir bei einer langen Probenszene des Strindberg-Stücks dabei, in dem Hanna mitspielt. Gegen das Ungeklärte der Beziehungen steht die Klarheit der Anspannungen, die zwischen den Personen herrscht. Wo genau Sophies Platz ist, bleibt unbestimmt, es ist auch ihr selbst wohl nicht ganz deutlich. Ivan jedenfalls steht zwischen den beiden Frauen, wie sich in einem Gespräch zwischen Hanna und Sophie herausstellt, und bei Sophie, merkt man, sind Gefühle im Spiel, denen sie sich stellen müsste, wenn sie in Berlin bliebe.

***
Sie geht dann nochmal nach Marseille. Wenn vor dem Zugfenster die Lichter vorbeifliegen, ist ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Wie stark der Film in dem ist, was er nicht erzählt sondern auslässt, wird in den folgenden Einstellungen klar. In einer nahen Einstellung sehen wir eine Polizistin von der Hüfte aufwärts bis zum Hals und einen Teil ihrer Uniform mit dem Polizeiabzeichen. Schweigend nimmt die Beamtin eine Hose entgegen, alles deutet auf eine Inhaftierung hin. Sophie sitzt im Verhör, in einem gelben Kleid, von dem nicht klar ist, ob es sich um die Gefängniskluft handelt oder um Ersatzkleidung. Wird sie als Täterin verdächtigt? Erst das Gespräch mit dem Polizeibeamten (den man nicht sieht) gibt allmählich Aufschluss: Den Überfall, von dem man glaubte, er werde ihr zur Last gelegt, hat sie nicht verübt; sie selbst ist die Überfallene. Aber als sie anfängt zu weinen, geht es um anderes als um diesen Überfall. Es ist ein Neubeginn, eine Häutung. Man kann noch einmal von Null anfangen.

Wie der Strand und das Meer klingen, das habe ich bisher nirgendwo so gehört wie in den letzten Einstellungen von "Marseille".

Volker Pantenburg




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