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Donnerstag, 25. August 2005
Ein paar Dinge über Michel Delahaye Ich weiß nicht, wann mir der Name Michel Delahaye zum ersten Mal begegnet ist. Vielleicht im Abspann von Eustaches "Offre d’Emploi". Vielleicht eher früher, in einer Nebenrolle bei Godard, "Alphaville" oder "Bande à part". Vielleicht, als ich ein langes Gespräch mit Bresson in der Filmkritik las und er die Fragen stellte. Wie so oft hakt sich ein Name erst dann fest, wenn er an zwei Ecken auftaucht, die verbunden sind, deren Verbindung aber nicht vollständig erwartbar war und die deshalb etwas kurz aufblitzen lässt, eine Ahnung von Umwegen, Streuungen. Jedenfalls hatten die drei Orte, an denen ich den Namen las, den, der ihn trägt, für mich als Fragenden, Schreibenden und Schauspielenden charakterisiert, und das gefiel mir. Geboren ist er 1929, ungefähr zur gleichen Zeit wie Godard (*30), Rivette (*28), Truffaut (*32) oder Demy (*31). Demy kommt aus Nantes, Delahaye ist ganz in der Nähe groß geworden. Im Netz findet man eine Biographie, die sich so paraphrasieren lässt: Sein religiöser Vater war im ersten Weltkrieg Pilot; jemand, "who lived poorly with love for the beautiful". 1951 geht Delahaye zum Wehrdienst nach Deutschland, 1953 wird er wegen Diebstahls verurteilt. Es folgen Arbeiten als Postbeamter und Fabrikarbeiter. In den Fünfzigern kommt er nach Paris, verdient sein Geld da zuerst an einem Zeitungsstand, dann in einem Buchladen. Durch Vermittlung von Eric Rohmer stößt er 1959 zu den "Cahiers" und schreibt dort die ganzen Sechziger hindurch. Es entstehen viele Gespräche mit Filmemachern und Theoretikern: Dreyer, Bresson, Lévi-Strauss, Barthes. Parallel dazu arbeitet er als Schauspieler und - so stelle ich es mir vor - auch darüber hinaus an Filmen. Truffaut und er sitzen an gemeinsamen Projekten, in den Filmen von Godard tritt er wie andere Cahiers-Schreiber in kleineren Rollen auf, später in Rivettes "La religieuse". Mit Jean Renoir soll er eng befreundet gewesen sein - mir fällt die schöne Stelle in Jean Eustaches Renoir-Porträt ein: Wie begeistert Renoir da über den Schimmelfleck in seiner feuchten Wohnung spricht. Der Interviewer hatte ihn nach einer Definition von Poesie gefragt, und um klar zu machen, dass es dabei nicht um irgendeinen phantastischen Schmarrn geht, sondern um etwas sehr Reales, beschreibt er die feuchte Fläche, die er von seinem Bett aus sehen konnte. Wie ein beweglicher Rorschach-Test breitet sich dieser Fleck aus und generiert dabei immer neue Farben und Formen. Neben Armut bedeutet der Schimmel auch noch etwas ganz anderes, Undefiniertes, Unplanbares. Beim Erzählen leuchten Renoirs Augen. Als Delahaye bei den "Cahiers" 1969 rausfliegt, scheint er keine Lust mehr aufs Kino gehabt zu haben. Jedenfalls wird er Sicherheitsbeamter, anschließend Schauspieler fürs Fernsehen und Theater. Und er schreibt. 1974 erscheint der Roman "L'Archange et Robinson font du Bateau", aus dem ein Film hätte werden sollen, von Claude Miller mit Depardieu in der Hauptrolle. Das Projekt zerschlägt sich, wer weiß warum. Für "Passe-montagne" schreibt Delahaye später gemeinsam mit Jean-Paul Stévenin das Drehbuch (Stévenin ist auch so eine Figur, über die mehr herauszufinden wäre). Zwischen 1984 und 1994 verdient Delahaye das wenige Geld, das er hat, als Sozialarbeiter in einer Organisation mit dem Namen 24/24. Ab 1998, inzwischen ist er knapp siebzig, schreibt er wieder regelmäßig über Filme, jetzt in der Zeitschrift "La lettre du cinéma", die in ihrer Anfangsphase im gleichen Verlag wie "Trafic" erschien. Die Zeitschrift ist 1996 gegründet worden, die Namen Hervé LeRoux und Vincent Dieutre tauchen in fast jeder Ausgabe im Inhaltsverzeichnis auf. Offenbar ist Delahaye auch immer noch - oder wieder - Schauspieler, jetzt in den Filmen jüngerer Autoren und Regisseure, die bei "La lettre du cinéma" mitmachen. Als mir ein Freund kürzlich eine Ausgabe der Zeitschrift aus Paris mitbrachte, erzählte er, sie sei ihm im Buchladen mit den Worten ausgehändigt worden, das sei die Zeitschrift, die keiner kaufe. Allein die Internet Movie Database listet 85 Filme mit Delahaye als Schauspieler auf, und ich bin mir sicher, dass es mehr sein müssen, weil die zwei einzigen, die ich gut kenne, dort nicht auftauchen: Der oben erwähnte "Offre d’Emploi" von Jean Eustache, 1980, nicht lange vor Eustaches Tod entstanden. Delahaye spielt einen Arbeitslosen, der eine Stellenanzeige liest, einen Bewerbungsbrief schreibt und den der Film dann verlässt, um stattdessen diesem Schreiben zu folgen und den Begutachtungsprozeduren, die es durchläuft. Außerdem „Kinostadt Paris“ von Harun Farocki und Manfred Blank, 1988. Einer der Witze in diesem Film ist das Missverständnis, dass Delahaye die beiden Berliner für "Das deutsche Fernsehen" hält. Er wird in einem Pariser Café, ganz ähnlich dem, in dem er in Eustaches Film acht Jahre vorher seine Bewerbung geschrieben hat, danach gefragt, was das Kino in den 80er Jahren in Paris bedeute. Delahaye erzählt dann, wie er kurz nach 1968 aus der "Cahiers"-Redaktion rausgeworfen wurde, weil er sich nicht marxistisch-leninistisch auf Linie bringen lassen wollte. Jetzt, zwanzig Jahre später, habe er noch nicht einmal genug Geld, um ins Kino zu gehen. Schon witzig, sagt er verbittert, dass das Deutsche Fernsehen ausgerechnet ihn zum Kino befrage. Wie er da sitzt, erinnert er mich an Michel Subor in den Filmen von Claire Denis. Aber bei Subor leuchtet die Kraft eher aus dem Körper heraus, während sie bei Delahaye gefangen zu sein scheint oder sich nach innen wendet. In jemanden wie Delahaye, stelle ich mir vor, haben gut sechzig Jahre Kinogeschichte hineingestrahlt. Tausende von Filmen, Begegnungen, Gesprächen darüber, Auseinandersetzungen, Verwerfungen und Brüche, die in ihm als Spuren aufgehoben sind. Seine Geschichte wird eine sein, die mit der Liebe zum Kino zu tun hat und bestimmt auch damit, was passiert, wenn das Kino einen nicht mit der gleichen Kraft zurückliebt. Volker Pantenburg pburg, 25. August 2005 um 12:15:19 MESZ ... Link Freitag, 12. August 2005
(Wunder II) Lucrecia Martel: La Niña santa (Argentinien 2004) Mit Dank - wiederum - an die Enthusiasten! Wir hören Gesang, wir sehen ein Gesicht, wir sehen eine Gruppe junger Mädchen, die dem Gesang lauschen, die sich etwas zuflüstern, wir sehen die Gesichter der jungen Mädchen, wir hören, was sie flüstern, es ist ein Kommentar des Gesangs. Die Frau, die singt, weint. Sie wird ihr Gesicht abwenden, wir sehen den Hinterkopf, nur ihr langes, dunkles Haar, sie streicht sich mit den Innenseiten ihrer leicht geballten Hände die Tränen aus den Augenwinkeln, sie dreht sich zurück zu uns, zu den Mädchen, wir sehen, dass sie geweint hat. Sie singt, von Gott. Die Kamera orientiert uns nicht. Wir wissen nicht, wo wir sind. Übergangslos sind wir woanders. Den Übergang gibt es nicht in diesem Film, das Hier steht neben dem Hier, es gibt auch kein Da. Von Hier zu Hier springt der Schnitt, der aber dieses Springen als gewöhnlichen Gang camoufliert. Einmal geht Amalia, sie ist, wir beginnen uns das zusammenzureimen, die Titelheldin des Films, sie geht den Flur des Hotels entlang, in dem sie lebt. Sie streift mit der rechten Hand, die wir sehen, die Wand, die wir sehen, beides nur ausschnitthaft, wir sehen es von hinten und folgen dem Gang Amalias durch den Flur. Aus der Unschärfe links tauchen Kinder auf, sie werden nicht zu Individuen, aber wir folgen der linken Hand Amalias, die über ihre Köpfe streicht in diesem Moment, in dem sie etwas berühren will, in dem sie sich der Welt versichern will. Ein paradoxer Zustand: Sie bewegt sich, und wir mit ihr, wie in Trance, der Welt entrückt, zugleich aber dieser Wunsch, der Welt wenn nicht inne zu werden, dann doch, sie als etwas sich begreifbar machen zu könne, das mehr ist als ein Wunsch, ein Gedanke, ein Traum, etwas, das eine Textur hat für die Hand, die Halt findet. Es geht um eine Entdeckung der Berührbarkeit. Mit einer Berührung beginnt sich das Drama, auf das der Film in sanft dahingleitendem Springen zugeht (eher als zueilt), zu entfalten. Wie absichtslos bedrängt Dr. Jano in der Menschentraube vor einem Theremin-Spieler von hinten Amalia, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Dieses Nicht-Wissen steht ihr ins Gesicht geschrieben und keineswegs ließe sich sagen, dass ihr dieses Drängen und Berühren, diese Belästigung ganz und gar missfallen. Wenig später steht sie im Fahrstuhl des Hotels, das ihre Familie betreibt, in dem Dr. Jano als Teilnehmer eines Ärztekongresses wohnt, hinter dem Arzt, mit ihrem Blick und ihren Augen sehen wir seinen Hinterkopf und unter dem Ohr eine Spur Rasierschaum. Amalia will seine Hand berühren, sie bewegt ihre Hand auf seine Hand zu, wir beobachten das mit dem Blick der Kamera, nicht mit ihrem Blick, nicht mit seinem Blick, im letzten Moment zieht er die Hand zurück, ahnt nicht, was sich beinahe ereignet hätte. (Sie geht auf sein Zimmer, sprüht sich seinen Rasierschaum auf die Hand, reibt den Kragen ihrer Bluse ein und riecht daran. Den Ausdruck des Glücks in ihrem Gesicht übertreibt sie nicht, ein Film der kleinen, genau gesetzten Gesten.) Als sich, später, wieder in der Menschentraube vor dem Theremin-Spieler, die Berührung, die Amalia zuvor nicht gelang, tatsächlich ereignet, sie nach der erneuten Belästigung erneut nach seiner Hand greift, sie den Kopf wendet, ihm ins Gesicht blickt, da ist er ertappt, schreckt zurück, macht sich davon, verstört. Zuvor schon sehen wir sie, ihr Gesicht, das sich hinwendet und abwendet, während sie wie einen Abwehrzauber die Gebete runterrattert, die sie im Religionsunterricht gelernt hat. Wir sind am Swimmingpool des Hotels, Dr. Jano am Rand des Beckens, Amalias Mutter schwimmt, sie hält sich das Ohr, sie wird bedrängt von einem Geräusch, das nicht zur Welt gehört, in der sie lebt, das sie von dem Körper, der sie ist, distanziert. Vielleicht geht es darum: Körper und wie sich verhalten, zu sich selbst, zur Welt, in der sie sind, aus der sie fallen, in der sie auf andere Körper stoßen und gestoßen werden. Die Kamera, die die Gesichter und die Körper eng kadriert, die jedem offenen Vordergrund einen Hintergrund gibt, in dem auch etwas geschieht, in Distanz zum Vordergrund, oft ohne ersichtlichen Bezug zum Vordergrund: eine Tür schwingt auf und wieder zu; eine Spiegeltür wird ein paar Zentimeter verschoben, die Figur – Helena, Amalias Mutter -, die man sah, verschwindet; Helenas Kopf, dahinter, unscharf, Dr. Jano an der Bar, sie verdeckt ihn, für uns, durch eine Beweung des Kopfes nach links, dann bewegt sie sich zurück und wir sehen ihn wieder; die Mädchen, die lernen und Hausaufgaben machen, während im Hintergrund gebügelt wird. Der Raum, den der Blick herstellt, stabilisiert sich nicht. Hintergrundgeräusche, die sich nie in den Vordergrund drängen, werden doch Teil eines Ganzen, dessen Elemente gegeneinander reiben wie ein nicht zu glatter Stoff. Die schreckliche Geschichte, die ein Mädchen erzählt – sie fahren hinaus, in einem Bus, wieder, nicht zum ersten Mal, fällt dabei ein helles, strahlendes Licht auf Amalias Gesicht, eine Liebkosung, aber nicht unbedingt zärtlich -, ist die Geschichte eines Unfalls. Eine Mutter, die stirbt, aber im Tod noch ihr Baby schützend bewahrt. So in der Welt zu sein, vielleicht ist es das, wovon die Mädchen träumen auf der Schwelle, auf der sie sind: Zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, zwischen Unschuld und Wissen. Ein Ahnen, ein Wagen und Zurückzucken, eine Auswendigkeit der Worte, die dem Verhalten voraus scheint. Dann aber schnellt das Wollen und Ahnen vor und ist für beglückende, verstörende Momente allem Wissen voraus. Dies Hin und Her inszeniert Martel in der Szene am Pool: Amalias Gesicht, das sich Dr. Jano zuwendet, von uns abwendet, das Flüstern des Gebets, die Flucht in die Auswendigkeit, die auch keine Rettung ist. Das Streifen der Gedanken über die Köpfe der Worte, die von alleine kommen, weil sie gelernt sind. Die Sicherheit, die die Worte geben, bleibt jedoch prekär. Als die Mädchen den Ort des Unfalls aufsuchen, hinter der Brücke, deren Geräusch wir so deutlich hören, die Räder des Busses, das Bodenlose des Grundes, das Geräusch wird, erschreckt die eine die anderen, indem sie sagt: da ist eine Hand, ich habe eine Hand gesehen. Die Angst vor den Händen, die im Spiel sind, den Händen, die berühren und berühren wollen, als gehorchten sie keinem Willen, Hände, die zurückzucken und zurückgwiesen werden und ein Wille, der nicht weiß, ob er den Händen folgen kann, die wie abgetrennt vom Willen und vom Körper tun, was sie wollen. Hände. Und Augen. Jose, die mit ihren Händen die Augen bedeckt und dann berichtet, was sie sieht in dem Moment, in dem die Augen befreit sind, aber nicht um zu sehen, was ist, sondern um zu sehen, was der Augensinn, der ob der Berührung nun verrückt spielt, nun selbst produziert, rote Punkte, grüne Linien, ein Tinnitus des Gesichtssinns. Eine experimentelle Erkundung des Körpers. Was passiert, wenn...? Die Differenz zwischen Adoleszenz und Erwachsensein wäre dann: Ein aufregendes Suchen und Probieren der Sinnverwirrung und im Gegensatz dazu eine pathologische Verfestigung. In der gesuchten Störung des Bezugs zur Welt manifestiert diese sich erst, als unbekannt und aufregend und neu. In der nicht mehr zu beseitigenden Störung dagegen eine doppelte Bedrängung, durch die Welt und durch den Körper, der etwas verloren hat, ohne dass man Worte hätte für das, was verloren ging. Ein Tanz vor dem Spiegel, hier scheint Helena sie selbst, für den Moment, der äußerst abrupt endet. Der Film ist auf der Seite der Jugend, er zeigt, nein, er ist das Einverständnis mit dem Geflüster der Mädchen. Die Mutter, der Arzt als Belästiger, sie machen eher eine lächerliche Figur. "Sie waren eine Taucherin", sagt Dr. Jano, zu Helena. Die Vergangenheitsform: Sie will durchs Wasser gleiten wie einst, es gelingt kaum. Sie steht im Becken und hält sich das Ohr. Sie sitzt draußen auf einem der rostigen Stühle aus "La Ciénaga". Sie setzt sich der Welt aus, mehr als einen Kuss und vielleicht Sex mit einem verheirateten Mann erwartet sie sich nicht. Erwachsene sind hier die, die einen Telefonanruf in Chile machen und dann auflegen, weil die Ex-Frau rangeht. Der beglückende Einbruch, das Wunder: Das widerfährt nur den Mädchen. Sie erwarten, könnte man sagen, das Wunder herbei. Voilà: Ein nackter junger Mann fällt auf die Terasse vor dem Zimmer, in dem sie lernen. Er tappt durch Vorhangschleier herein, ohne Schramme, ein Toter, der lebt. Das geschieht. Es folgt daraus nichts. Übergangslos geht es weiter. Das singuläre Ereignis schlechthin ist das Wunder. Die Erwartung der Jugend (die Jugend, die nichts anderes ist als Erwartung) übersetzt sich katholisch ins Wunder, auch in die Berufung, den Anruf Gottes, der einer jeden die singuläre, individuelle Aufgabe gibt in der Welt, die im Licht dieses Rufs ihr Antlitz verändert. Das Licht auf dem Gesicht von Amalia, die noch in der Belästigung durch den Lüstling das Wunder der singulären Berufung zu erkennen glaubt, ist der Vorschein dieser Erwählung, in der Gott eine Einsetzung vornimmt, ein Verhältnis entwirft, das dich aufhebt in der Welt. Ein Verhältnis, das der Gegensatz ist von Gleichgültigkeit und einem Geschehen, das eben geschieht. Alles steuert, nach diesem Wunder, von dem schon der Gesang des Beginns zu zeugen schien, auf eine schockierende Entzauberung zu, die bittere Enttäuschung einer Hoffnung darauf, dass das Leben, das vor dir liegt, gesegnet ist. Die Berührung hat stattgefunden und wir glauben es, wir sehen es mit Amalias Augen, obwohl wir auch sehen und obwohl der Film weiß Gott kein Geheimnis daraus macht, dass der Mittler dieses Wunders eine lächerliche Figur ist. (Aber steigert das nicht die Kraft des Wunders noch?) Dieses doppelte Wissen, das Fehlen eines Übergangs zwischen der Wahrheit des Wunders und der Wahrheit einer gewissen Trostlosigkeit konstituiert den dadurch eigentümlicherweise nicht gespaltenen Blick des Films auf die enge Welt, die er in diesem Blick entwirft. Er verharrt auf dieser Grenze, die auch als die zwischen Traum und Wirklichkeit lesbar wäre – ginge es hier in erster Linie um Lesbarkeiten. Es scheint aber viel eher so, als seien die Zeichen, die wir zu sehen bekommen, zugleich überscharf und nicht distinkt. Wie jene Sichtbarkeiten vielleicht, die Jose beschreibt, nachdem sie ihre Finger aufs Auge gelegt hat und nun, von der selbst auferlegten Blindheit zu einem Sehen des Sichtbaren wie des nicht Sichtbaren befreit, wieder sieht. Klug ist Lukrezia Martel darinauf die Auflösung ins Eindeutige dieses doppelten Wissens zu verzichten, auf die Ausführung der Entzauberung, auf die alles zuläuft. Der Film kennt Gnade, mit Amalia, mit Helena, mit Dr. Jano, mit uns. Es ist die Gnade des Aufschubs der Enttäuschung. An der Stelle, im Aufschub der Enttäuschung: Ein Gleiten durch das Wasser mit der Verräterin, die die Freundin ist, umfangen vom Element, das trägt und schützt, ein Gleiten, das nicht endet. Das Ende ist nicht offen, aber es macht uns glauben, was wir sehen, obwohl wir wissen, dass das Wunder, das nie ein Wunder war, nun enden muss. knoerer, 12. August 2005 um 13:42:55 MESZ ... Link Sonntag, 31. Juli 2005
Bahram Beyzaie: Travellers (Mosaferan; Iran 1992) Mit Dank für Anregungen an die – dezidiert unenthusiastischen – Enthusiasten! Es ist leicht, in diesen Film hineinzufinden, auf den, nach dem Prolog, anderes folgt als man denkt, dass folgen sollte. Es ist nicht leicht, einen Anfang zu finden beim Schreiben über diesen Film, den ich für ein Meisterwerk halte. Hinein führt eine Autofahrt, wie, sagen wir, bei Kiarostamis "Der Wind wird uns tragen" oder Weerasethakuls "Mysterious Object at Noon". Während es bei jenen aber um ein Vordringen geht, ein Verlassen der vertrauten Zone, ein Eindringen in eine andere, eine Bewegung von der Stadt aufs Land, von einem Dichteraum in einen offenen, jedenfalls fremden Raum – endet es hier, als Bewegung vom Land in die Stadt, abrupt mit einem Unfall, dem Tod. Dennoch ist das nicht das Ende der Bewegung, die in einen Aufschub übergeht, eine Latenz der Fort-Bewegung, ein Unterwegssein, das auf eine Ankunft zuläuft. Die Aktionsbewegung der Fahrt endet hier – es gibt nur kurze Zitate, ein Wiederaufflackern sehr viel später, wenn wir Autofahrten sehen, die wiederum, mit einem Beinahe-Unfall die eine, mit einem abrupten Stopp die andere, enden. Davon abgesehen gelangt die Energie anders, aufgeschoben, verwandelt, transformiert und transformierend, an den anderen Ort, ins Haus der Freude, das zum Haus der Trauer, das zum Ort der Erlösung wird. Der andere Ort: ein Haus in der Stadt, Hochzeitsvorbereitungen. Es wird gemalert, Stühle werden hineingetragen. Vielleicht könnte man sagen: Was wir sehen, sind Erwartungsbewegungen durch diesen Raum, der zum Erwartungsraum wird. Figur, Raum, Bewegung treten vom ersten Bild an auf als Komplexion. Man könnte vom Prinzip eines Choreografismus sprechen, einer Tanz-Schriftlichkeit, die den Raum im Bild, die Figur im Raum, die Bewegung der Figur als Bewegung der und vor der Kamera als Synthese herstellt. Oder richtiger: als bereits hergestellte, zu Eigenzeiten kristallisierte Synthese darstellt, zu der auch das gesprochene Wort immer schon gehört – oder das rituelle Lallen, das Singen. Im Bild wird etwas bereits Hergestelltes, ein Komposit, das in der Analyse sich gerade verlöre, offeriert. Es ist dies ein schwieriger Gedanke. Natürlich ist das Komposit, wie jede Synthese, hergestellt und man kann diese Herstellung beschreiben, den Schnitt, die Choreografie im Raum, die Effekte untersuchen. Der Film aber stellt sich die Komplexion, die so entsteht, als etwas Einfaches vor, als etwas, vor das man nicht zurückgehen kann, ohne die, vielleicht kann man sagen: Gestalt zu verlieren. Die Tanz-Schrift Beyzaies besteht, wie die Choreografie des Tanzes, nicht aus Körpern und Bewegung und Raum, sondern sie stellt sich den Schnitt- und Film-Körper in der Schnitt- und Film-Bewegung im Schnitt-und-Film-Raum als etwas Nicht-Analysierbares vor. Anders als bei schwarzen Zeichen auf weißem Grund jedoch, die, als Buchstabe und Sinnträger vorgestellt, eine Bedeutung annehmen, die sich von dem, was sich dann, nachträglich, als ihre Matiere darstellt, ums Ganze unterscheiden will (aber so einfach ist das natürlich auch in diesem Falle nicht), kann es hier jedoch keine Differenz von Materie und Bedeutung geben. Das Komposit ist die einfache Form, es bedeutet nichts anderes, als das, was es sagt, was man sieht, als den Stoß, den es einem gibt, wenn man sitzt, vor der Leinwand, vor dem Bildschirm. So schwierig es ist, über Tanz zu schreiben, so schwierig ist es, über einen choreografistischen Film zu schreiben wie diesen, der nicht hinausgreift über die Immanenz dessen, was er ist, ohne es zu bedeuten. Es ist anders als bei den Filmen, die man an einem Plot, einem Konflikt, einem Stil oder einer These zu fassen bekommt – und von dort auflösen, jedenfalls zu sich selbst in Beziehung setzen kann. Hier ist man auf die Immanenz von Motivketten verwiesen (rituelle Gesten der Trauer, der Spiegel, Auftauchen/Verschwinden), die sich zu nichts anderen, könnte man sagen, verknüpfen als einer Kette aus Motiven. Wenn diese Kette sich schließt, am Ende, wird eine Erlösung stattgefunden haben können, aber diese Erlösung bleibt voll und ganz immanent, genau in dem Sinne, in dem ein deux-ex-machina auf der Bühne immer schon von einer keinesfalls nicht-theatralen Maschine vom zur Bühne gehörigen nicht-sichtbaren Teil der Bühne in den sichtbaren Teil transportiert wird. Das theatrale Äquivalent zu Beyzaies Film ist, in dieser Hinsicht, eine Bühne, die von den Figuren nicht betreten und verlassen wird. Es gibt nur die Differenz von im Moment sichtbar/nicht sichtbar. Sie bleiben auf dieser Bühne, die aber nicht als kontinuierlicher Zeit-Raum zu denken ist. Das Nichts, aus dem der Film (und es wäre, denke ich, falsch, hier zu sagen: die Kamera) Bild für Bild als Komposit hervorbringt, was zuvor nicht da war, ist immer schon präsent. Ein präsentes Nichts: Das klingt absurd, aber es trifft den Sachverhalt. Die Kamera erschließt hier keinen realistischen Raum, sie tut vielleicht das Gegenteil davon. Sie verkettet Bild-Komposite, die, sobald sie erscheinen, schon bereit gelegen zu haben scheinen. Die Mise-en-abyme dieses Sachverhalts findet sich etwa in der Mitte des Films, wenn die Kamera den Aufenthaltsraum des Hauses abfährt, von einer Gruppe zur anderen. Die eine ist mit der Todesanzeige beschäftigt, die nächste unterhält sich über anderes; sobald die zweite Gruppe ins Bild kommt (es liegt, wäre dies ein kontinuierlicher Raum, vielleicht ein Meter zwischen ihnen), ist von der ersten nichts mehr zu hören. Mit der dritten verhält es sich ganz genauso. Dann schwenkt die Kamera zurück: Und wir haben uns vorzustellen, dass das Leben weitergegangen ist, das der Film doch als im Komposit erst hervorgebrachtes darzustellen scheint. Als müssten wir uns eine Unabhängigkeit der Komposite vom Film vorstellen, der sie doch einzig hervorbringen kann. Vielleicht als stifte er, wie mit einem Zauberstab, ein Leben, das dann, in die Welt gesetzt, unabhängig von ihm, in seiner eigenen Komposit-Zeit, fortdauern könnte. Die Kette der Komposite kennt Momente der Lockerung und der Verdichtung. Die Dichtestellen in Mosafaran nähern sich der Intensität der großen Formen der Artifizialität im Kino. Man darf, im Einsatz der Musik in der großen Szene ritualisierter Trauer – Bilder werden umgedreht und zerschlitzt, Spiegel zerschlagen -, geradezu an Argento und Goblin denken, ähnlich im finsteren Alptraum, der sich zugleich dem nähert, was man bei Orson Welles immer barock genannt hat. (Woran man ebenfalls denken kann, auch er ein Theatermann: Carmelo Bene.) Im Zusammenspiel von Choreografismus und Musik liegt gar Bollywood nicht fern. Es ist nicht die Konflikt-Struktur des Dramas, auch nicht die Zusammenhängigkeitsstruktur von Narrativierung, die sich hier entfaltet, sondern der Wechsel von Intensitätsgraden, den man aus dem Ritus kennt. Ein Eigenrhythmus, in dem auf Momente der Erschöpfung solche der Beschleunigung folgen. Ein Aufstauen und Entladen. Die Energie der Anfangsbewegung verliert sich nicht mit dem Unfall, sie dringt in den Ritus der Hochzeit und der Trauer; als Entsetzen und Verzweiflung zunächst. Von der Großmutter in ihrer schwer erträglichen, bornierten Insistenz wird sie transformiert. Sie ist der Punkt größter Dichte, an dem sich die Energieströme brechen und wieder aufladen. Der Schlussritus, in dem sich Beichte und Gericht, Vernichtungswut und Verzeihen in einem großen Arrangement treffen, bringt die Erlösung hervor, ein Wunder aus dem Geist des Deus-ex-machina. Bewegungslos bewegt, umgesprungen aus der Fotografie in ein Bewegtwerden als Ankunft, transformieren die Toten und der Spiegel als Instrument der Erlösung Tod in Leben, Trauer in Freude, Dunkelheit in Licht. Es ist nicht nur ein ganz immanentes, an keine Transzendenz gebundes Wunder, es ist, im Komposit aus Spiegel, Licht, Musik und Bewegung das Wunder filmischer Immanenz selbst. knoerer, 31. Juli 2005 um 14:56:38 MESZ ... Link ... Nächste Seite
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Danièle Huillet – Erinnerungen, Begegnungen
NICHT VERSÖHNT (1965) *** Jean-Marie Straub – Danièle und ich sind uns im November 1954 in Paris begegnet – wir erinnern uns gut daran, weil das der Beginn der algerischen Revolution war. Ich war mehrmals per Autostop nach Paris gekommen, um Filme zu sehen, die es bei uns nicht gab, LOS... by pburg (05.10.07, 11:58)
UMZUG
Nach knapp 2000 Tagen bei antville und blogger machen wir ab jetzt woanders weiter. Unter der neuen Adresse http://www.newfilmkritik.de sind alle Einträge seit November 2001 zu finden. Großer Dank an antville! Großer Dank an Erik Stein für die technische Unterstützung! by filmkritik (08.05.07, 15:10)
Warum ich keine „politischen“ Filme mache.
von Ulrich Köhler Ken Loachs „Family Life“ handelt nicht nur von einer schizophrenen jungen Frau, der Film selbst ist schizophren. Grandios inszeniert zerreißt es den Film zwischen dem naturalistischen Genie seines Regisseurs und dem Diktat eines politisch motivierten Drehbuchs. Viele Szenen sind an psychologischer Tiefe und Vielschichtigkeit kaum zu überbieten – in... by pburg (25.04.07, 11:44)
Nach einem Film von Mikio Naruse
Man kann darauf wetten, dass in einem Text über Mikio Naruse früher oder später der Name Ozu zu lesen ist. Also vollziehe ich dieses Ritual gleich zu Beginn und schreibe, nicht ohne Unbehagen: Ozu. Sicher, beide arbeiteten für dasselbe Studio. Sicher, in den Filmen Naruses kann man Schauspieler wiedersehen, mit denen... by pburg (03.04.07, 22:53)
Februar 07
Anfang Februar, ich war zu einem Spaziergang am späten Nachmittag aufgebrochen, es war kurz nach 5 und es wurde langsam dunkel, und beim Spazierengehen kam mir wieder das Verhalten gegenüber den Filmen in den Sinn. Das Verhalten von den vielen verschiedenen Leuten, das ganz von meinem verschiedene Verhalten und mein... by mbaute (13.03.07, 19:49)
Berlinale 2007 – Nachträgliche Notizen
9.-19. Februar 2007 Auf der Hinfahrt, am Freitag, schneite es, auf der Rückfahrt, am Montag, waren die Straßen frei und nicht übermäßig befahren. Letzteres erscheint mir angemessen, ersteres weit weg. Dazwischen lagen 27 Filme, zwei davon, der deutsche Film Jagdhunde, der armenische Film Stone Time Touch, waren unerträglich, aber sie lagen... by filmkritik (23.02.07, 17:14)
Dezember 06, Januar 07
Im Januar hatte ich einen Burberryschal gefunden an einem Dienstag in der Nacht nach dem Reden mit L, S, V, S nach den drei Filmen im Arthousekino. Zwei Tage danach oder einen Tag danach wusch ich den Schal mit Shampoo in meiner Spüle. Den schwarzen Schal hatte ich gleich mitgewaschen,... by mbaute (07.02.07, 13:09)
All In The Present Must Be Transformed – Wieso eigentlich?
In der Kunst / Kino-Entwicklung, von der hier kürzlich im Zusammenhang mit dem neuen Weerasethakul-Film die Rede war, ist die New Yorker Gladstone Gallery ein Global Player. Sie vertritt neben einer Reihe von Bildenden Künstlern, darunter Rosemarie Trockel, Thomas Hirschhorn, Gregor Schneider, Kai Althoff, auch die Kino-Künstler Bruce Conner, Sharon... by pburg (17.12.06, 10:44)
Straub / Huillet / Pavese (II)
Allegro moderato Text im Presseheft des französischen Verleihs Pierre Grise Distribution – Warum ? Weil : Der Mythos ist nicht etwas Willkürliches, sondern eine Pflanzstätte der Symbole, ihm ist ein eigener Kern an Bedeutungen vorbehalten, der durch nichts anderes wiedergegeben werden könnte. Wenn wir einen Eigennamen, eine Geste, ein mythisches Wunder wiederholen,... by pburg (10.11.06, 14:16)
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